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Verwunderliche Einseitigkeit der Zärtlichkeit, die wir täglich an unserem Baby üben. Wir können nicht sagen, es lässt sie sich gefallen oder nimmt sie einfach hin – ist sie doch das wesentlichste Element unserer Nähe zu ihm. Aber würde das Baby unsere Zärtlichkeit erwidern (wie wir sonst Erwiderung gewohnt sind), wir würden uns auf immer fremd bleiben. Die Härte des Babys steigert unsere Empfindlichkeit in seelischen Dingen. Sind wir empfindlich genug, wird sich das Baby erweichen lassen.

Strange, the one-sidedness of the tenderness we engage in every day with our baby. We cannot say that he acquiesces to it or that he simply accepts it – after all, it’s the most essential element in our closeness to him. But if the baby were to reciprocate our tenderness (in the familiar way we expect reciprocity otherwise), we would remain strangers forever. Our baby’s hardness intensifies our sensitivity in spiritual matters. If we are sensitive enough, our baby will soften.

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Ist unser Baby doch kein Neuling auf dieser Welt? Dem Eindruck, den es erweckt, zum ersten Mal da zu sein, widerspricht etwas in seinem Blick: die Gewissheit, dass es sich am richtigen Ort befindet. Seine Rückkehr könnte Gründe haben (die wir niemals erfahren werden) – auch davon spricht sein Blick. Und noch etwas Weiteres sehen wir in ihm: eine freundliche Verschwiegenheit über Zusammenhänge, die nur ihm bekannt sind. Ob wir unserem Baby jemals auf die Spur kommen werden?

Is our baby not a newcomer in this world after all? Something in his eyes contradicts the impression he gives of being here for the first time: a certainty of being in the right place. There may be reasons for his return (which we will never learn) – his gaze tells of this too. And we see something else in him: a friendly secretiveness regarding connections of which he alone has knowledge. Will we ever begin to comprehend our baby?

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Mutiges Baby, denken wir. Dass du dich uns anvertraust, uns schwankenden Wesen, die so schwer auszurechnen sind. (Immer wieder müssen wir uns daran erinnern, dass mit dem Baby jemand zu uns gekommen ist und nicht niemand, der erst jemand werden will – eine Selbsterinnerung, die uns schwer fällt, auch, weil wir nur zu gerne an unsere eigene Entwicklung glauben: was haben wir sonst schon an uns!) Wir wollen uns nicht die Mutlosen nennen (nichts flößt mehr Furcht ein als ein mutloser Mensch), denn dann schiene uns dein Mut wie aus einer anderen Welt. Aber jetzt bist du ja bei uns, in unserer Welt: ja, wir werden von Tag zu Tag mutiger.

Courageous baby, we think. That you entrust yourself to us, who are so vacillating, so difficult to figure out, (Again and again we have to remind ourselves that the baby who came to us is someone, not no one on the way to becoming someone – a self-remembering that is hard for us, in part because we would so much like to believe in our own development: otherwise, what do we have to say for ourselves!) We don’t want to call ourselves discouraged (there is nothing more frightening than a discouraged person), because then your courage would seem as if from another world. However, now you are with us, in our world: yes, every day we are becoming more courageous.

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Bei großer Hitze ruhen wir hinter fast ganz herabgelassenen Jalousien (du mit dem Baby in einem Zimmer, ich zwei Zimmer weiter); draußen, hinter den Lamellen, der perforierte Tag (als hätte das Licht jede Ausdehnung verloren). Wir sind still, liegen wie in einem Gleichnis, das wir mit unserem Atem stricken. Ein Nachmittag, an dem wir für die Wahrheit verloren sind. Unverführbar sind wir, bis uns unser Baby das Signal gibt, ein neues Gleichnis zu suchen.

In the great heat we rest behind fully lowered blinds (you with the baby in one room, I two rooms away); outside, behind the slats, the perforated day (as if the light had lost all its expanse). We are silent, reclining as if in a parable that is being knitted by our breath. An afternoon in which we are impervious to truth, unseducible, until our baby gives us a signal to look for a new parable.

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Den heftigen Zwist der Eltern (die Frage nach dem richtigen Weg) beobachtet das Baby mit Erstaunen und einem verwirrenden Wohlwollen (es schätzt deine Meinung und schätzt meine Meinung). Irgendwann wird es ihm dann doch zu dumm (der Zwist dauert an, bewegt sich nicht, wird langweilig) und es beschäftigt sich mit einem roten Bällchen. Dann schläft es ein. Viel später schläft auch unser Zwist ein. Es ist immer das Gleiche: wir übertreiben alles. Das Baby übertreibt nichts.

The baby observes his parents’ intense disagreement (the question being what direction to take) with astonishment and bewildering benevolence (he values your opinion and he values mine).  At some point he gets tired of it (our quarrel continues, does not budge, becomes boring) and turns his attention to a little red ball. Then he falls asleep. Much later our discord falls asleep too. It never varies: we exaggerate everything. The baby doesn’t exaggerate anything.

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Wieder mischt sich ein Traum ein. Das Kind mit dem runden Buckel und der schwarzen Beinprothese lässt uns keine Ruhe. Wir wollen es unbedingt aus der Nähe betrachten, aber eine verrostete Schranke hindert uns, in das Behindertenbad einzutreten. Da bemerken wir, dass unser Baby unter der Schranke durchgerollt sein muss und sich schon ganz dicht bei dem buckligen Kind befindet. Es greift nach der Beinprothese und richtet sich auf. Unser Kind steht, rufen wir uns zu, es steht, das erste Mal! Wir fühlen uns etwas unwohl und würden gerne bei unserem Baby sein. Aber die Schranke hindert uns, wir können nicht über die Schranke steigen, wir ringen mit uns, aber es geht nicht. Da kommt das bucklige Kind zu uns und zeigt uns, was wir sehen wollen. Aus der aufgeplatzten Rundung des Buckels schaut ein Kopf heraus. Ein Babykopf. Der Kopf unseres Babys. Unseres lachenden Babys.

Once again a dream intervenes. The child with the hunchback and the black prosthetic leg won’t leave us in peace. We urgently want to see him from close up, but a rusty barrier prevents us from entering the handicapped bathroom. Now we notice that our baby must have rolled under and past the barrier and is already very close to the hunchbacked child. He reaches for the prosthetic leg and raises himself up. Our child is standing, we call out to each other, look, for the first time! We feel a little uneasy and would like to join our baby. But the barrier prevents us, we can’t climb over the barrier, we wrestle with ourselves, we can’t do it. Now the hunchbacked child comes to us and shows us what we want to see. A head is looking out from the mound of his back, which has burst open. A baby’s head. Our baby’s head. Or laughing baby’s head.

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Im Seebad gibt es einen Bereich für Behinderte (Behindertenbad, nur für Berechtigte, steht auf einem Schild, das wir erstaunt lesen). Ein Kind mit einem runden Buckel und einer schwarzen Beinprothese geht dort über die Wiese zur Rampe, die ins Wasser führt. Stumm blicken wir auf unser Baby und das bucklige Kind. Auf das bucklige Kind und unser Baby (es schaukelt auf dem Rücken, rollt sich zur Seite, aber nicht wieder zurück). Eine Reihe von Gefühlen und Gedanken durchwandert uns, fest verknüpft mit dem, was wir sehen. Wie Frevel kommt uns unsere Dankbarkeit über unser gesundes Kind vor.

At the seaside resort there is a section for the handicapped (handicapped-accessible bathroom, authorized persons only,, it says on a sign which we read with astonishment). There, a child with a hunchback and a black leg prosthesis crosses the meadow to the platform the leads to the water. Silently we look at our baby and at the hunchbacked child. At the hunchbacked child and at our baby (lying on his back, he rocks to the side, rolls over, and stays there). A series of feelings and thoughts passes through us, firmly connected to what we are seeing. Our gratitude for our healthy child feels like a sacrilege.

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Auf Reisen. Wir (das Baby, du, ich) machen halt. Rasten und blicken uns um. Ein paar Obstbäume, ein Parkplatz, silberne Flaschencontainer, zwei ältere Männer, die ihre Fahrräder verladen, im Hintergrund ein Weinberg, im Vordergrund ein mobiles ultramarinblaues Toilettenhäuschen. Wo sind wir? fragen wir (du, ich). Wir blicken auf das Baby, den hellgrauen Speichelfaden, der aus seinem Mund hängt, die Verdickung am Ende: es sieht aus, als würde es eine Perle spinnen. (Dort sind wir: ganz nah an der Perle, die unser Baby spinnt).

Traveling. We (the baby, you, I) stop, rest, look around. Some fruit trees, a car park, silver bottle containers, two elderly men loading their bicycles, in the background a vineyard, in the foreground a small ultramarine portable toilet house. Where are we? we ask (you, I). We look at the baby, the light gray thread of saliva hanging from his mouth, thickening at the end: it looks as if he were spinning a pearl. (That’s where we are: right near the pearl our baby is spinning).

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Einmal liefert uns das Baby unserer Wut aus. Es schreit, jammert, ist untröstbar, unstillbar. Die Wut möchte eine Antwort erzwingen, den Trost, Ruhe, Frieden. Wir schämen und ärgern uns über unsere Hände, deren Griff zu fest ist und wie von uns losgelöst (wem gehorchen da unsere Hände?). Es ist nicht der gleiche Augenblick, aber ein paralleler: wir wollen nicht mehr nicht wütend sein und das Baby schluchzt sich in die Ruhe. (Mehrfacher Hall in uns: Wenn ihr mich, euer Baby, liebt, müsst ihr einmal auf mich wütend sein – mein Schmerz ist ganz und gar mein Schmerz!)

At one point the baby exposes us to our rage. He screams, wails, is inconsolable, impossible to pacify. Rage wants to enforce an answer, consolation, quiet, peace. We are ashamed and angry at our hands, whose grip is too firm and seemingly detached from ourselves (whom are our hands obeying?). It is not the same moment, but a parallel one: we no longer want not to be enraged and the baby sobs his way into rest. (A repeated resonance in us: If you love me, your baby, there has to be a time when you are mad at me – my pain is utterly and completely my pain!)

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Die Liebe zu unserem Baby wächst (ist gewachsen; überrascht bemerken wir es). Das macht die tägliche Übung. Ein stiller Vorgang. Unser Zutun ist eine demutsvolle wie bereitwillige Fügsamkeit. Und wir sind gelehrig. Auch ein bißchen gierig. Neugierig auf Zuwachs, Vergrößerung, Weite. Das Wachstum der Liebe scheint in ihr selbst zu liegen und doch genügt sie sich nicht selbst. Ist die Liebe klar und offen wie das Baby, finden wir genau das rätselhaft und schwierig. Wir wiederholen es uns: Die Liebe zu unserem Baby wächst. Im Stillen.

Our love of our baby is growing (has grown; we notice it with surprise). That is due to our daily practice. A silent process. Our part consists in humble and willing  compliance. And we are willing to learn. Even a little greedy. Eager for increase, enlargement, amplitude. The growth of love seems to inhere in love itself, and yet love is not self-sufficient. When love is clear and open like the baby, that is precisely what we find puzzling and difficult. We repeat to ourselves: The love of our baby is growing. In silence.