DAS ACHTE JAHR

 

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Wir testen. Alle. Alles.

Was ist eigentlich ein Test, Papa?

Viele Fragen stellt unser Sohn zur Zeit. An dich. An mich. Er bringt uns in Versuchung, immer zu antworten. Dabei bemerken wir unsere Neigung, glauben zu wollen, wir hätten nicht auf alles, doch auf ziemlich vieles eine Antwort. Ein Test also. Was ist ein Test? Da kommt schon seine eigene Antwort angeflogen. Mit dieser denkenden Kinderstimme, die ganz anders klingt als unsere denkende Erwachsenenstimme. 

Ein Test kann positiv sein. Oder negativ. Negativ ist besser. Oder? 

Kommt drauf an, sage ich. 

Überall Tests. Wenn unser Sohn, ein 2-Euro-Stück mopst, das herumliegt und als sein eigenes ausgibt. Wenn er testet, wieviel Zug das Kabel seiner Tischlampe verträgt. Oder was geschieht, wenn man den Schlauch aus dem Waschbecken in der Küche verkehrt herum in die Armatur steckt. Es gibt Testresultate, die negativ sind, was gar nicht positiv ist. Und die positiven Resultate können ganz schnell negative Folgen zeitigen. Und dann hängt doch alles von der Perspektive ab (was meinst du?). 

Es ist ein modernes Wort, sage ich. 

Was ist ein modernes Wort, Papa? 

Man prüft etwas, sage ich. 

Zum Beispiel, ob jemand gesund ist oder krank, oder?

Wenn es so einfach wäre. Die Oma war gesund, aber der Test ergab, dass sie krank war. Aber sie wusste es nicht, also war sie eine dumme Gesunde oder eine dumme Kranke, die jetzt wieder gesund ist. Aber das antworte ich nicht, ich möchte eine ernste, reelle Antwort geben. Ein Test ist wie eine Frage. Bei Ludwig Wittgenstein heißt es: „Der Sinn einer Frage ist die Methode ihrer Beantwortung. Sage mir, wie du suchst und ich werde dir sagen, was du suchst.“ Ein Test ist im Grunde ein Spiel, denke ich. Aber das sage ich nicht. Wir kommen an einem Vorgarten vorüber, in dem kleine blaue Blümchen blühen. 

Ich deute auf eines der Blümchen und sage: Es gibt keinen Test dafür, daß das blau ist. 

Unser Sohn überlegt kurz. Du redest Quatsch, Papa. Und dann: Der Ludwig hat die Flüssigkeit vom Test auf den Boden geschüttet. 

Wollte er den Boden testen? Keine Antwort. 

Es war aber nicht so schlimm. 

Ich wusste gar nicht, dass ihr einen Ludwig in der Klasse habt. Doch haben wir. 

Soll ich dich mal testen, Papa?

Es folgt ein Test, den ich nicht begreife. Ich muss nach rechts blicken und raten, welches Sammelbildchen unser Sohn in der Hand hält. Es ist unmöglich.

Ein unmöglicher Test, sage ich.

Nein, streng dich an Papa, du musst dich richtig anstrengen. Und nach einiger Anstrengung und vielen Versuchen, ist meine Antwort erfolgreich. Ein Wunder. Also gibt es auch Testwunder.

Dann wirft unser Junge den Fußball in den Einkaufskorb, obwohl er ihn tragen sollte. Im Einkaufskorb liegen zwei Schalen Erdbeeren. Jeder Test ist ein Versuch und die Versuchung, ihn auszuführen. Das Resultat fällt unterschiedlich aus. Und seine Bewertung sollte man bleiben lassen. Die Erdbeeren sind nicht zermatscht, weil der Ball an einem querliegenden Lauch gestoppt hat. 

Papa, was heißt eigentlich positiv? Und was heißt negativ? 

Das ist wie bei der Batterie in deiner Eisenbahn. Positiv ist da, wo der Hubbel ist, negativ auf der glatten Seite. Es braucht beide Seiten, damit die Batterie Strom machen kann.

Das stimmt nicht. Negativ ist da, wo der Hubbel ist und positiv auf der glatten Seite. 

Du irrst dich.

Tu ich nicht. Ich mach die Batterie immer andersrum rein wie du.

Deswegen funktioniert die Eisenbahn bei dir nicht.

Tut sie schon.

Nach einigem Nachdenken:

Positiv und negativ sind nämlich das Gleiche. Man kann es machen, wie man will.

Aber nicht bei der Batterie. Da kann man positiv und negativ nicht austauschen.

Okay. Aber sonst schon, oder?

Ja, irgendwie schon, denke ich, aber ich verfolge den Gedanken nicht weiter. Unser Sohn zieht jetzt überall, wo er welche entdeckt und mit der Hand hinreicht, die Sticker ab. Er sammelt Sticker in einem speziellen Album. Es gibt unendlich viele Sticker, die auf Zeitungskästen, Verkehrsschildern, Laternenpfählen, Stromkästen, U-Bahn-Liften usf. kleben. Die Welt ist voll mit Stickern.

Und noch einer, sagt unser Sohn und popelt einen Sticker eines Fußballvereins ab, den er schon zwanzig Mal hat. 

Kannst du den einstecken? Ich klebe ihn mir auf die Brust. Er wellt sich und hält nicht besonders gut. Zweimal fällt er ab und ich muss ihn aufheben.

Papa, ich will gar nicht testen.

Ist es schlimm?

Schlimm ist es nicht, aber blöd. Pause. Testen ist überhaupt blöd.

Undenkbar ist die gegenwärtige Welt ohne Tests. Tests sind überall. Alles kann man testen. Auch die Kinder. Was geschieht mit den Kindern, wenn sie getestet werden? Wirkt das Testen in ihr weiteres Leben hinein? Natürlich.

Vor dem Schlafengehen reden wir darüber (du, ich). Ein gesundes Kind zu testen ist verrückt. Aber vielleicht ist es dann doch nur eine Verrücktheit der Erwachsenen mehr, an deren Sinn sie glauben. Du sagst: Der Test ist der Wunsch nach der Befragung des Orakels. Wir sind so verbittert ungläubig, dass wir den Test anflehen, uns eine Wahrheit preiszugeben, die wir schon längst verloren haben. Der Test ist eine Selbsttäuschung, ein Akt der Verzweiflung, der sich als Vernunft ausgibt. Der Test selbst ist eine Krankheit. Wir schweigen. Dann: Den Schlaf kann man nicht testen. Doch, es gibt Mediziner, die den Schlaf testen. Nein, sie glauben nur, dass sie den Schlaf testen. 

In dieser Nacht kommt unser Sohn ins Bett. Vielleicht dämmert es schon. Wir drei teilen unsere Wärme. In meinem Kopf schwirrt das Wort Test herum wie ein Propeller des Ahorn. Der Test trudelt zum Boden und bleibt auf dem Asphalt liegen.

 

We are testing. Everyone. Everything.

What is a test, Daddy?

Our son is asking a lot of questions at the moment. Of you. Of me. He’s tempting us to always have an answer. That makes us notice our tendency to believe that we have an answer, not necessarily for everything, but for a lot of things. A test, then. What is a test? No sooner is the question asked than his own answer comes sailing in. With a thinking child’s voice that sounds very different from our thinking adult’s voice.

A test can be positive. Or negative. Negative is better. What do you think?

Depends, I say.

Tests everywhere. When our son swipes a 2 Euro coin that’s lying around in the house somewhere and claims it’s his. When he tests the strength of a lamp cord by tugging at it. Or when he puts the wrong end of the hose from the kitchen sink into the faucet to see what happens. Some test results are negative, which is not at all positive. And the positive results can quickly lead to negative consequences.

And then it all depends on one’s perspective (what do you think?).

It’s a modern word, I say.

What’s a modern word, Daddy?

Test. It means you’re checking something.

You mean like someone’s temperature? To see if they’re sick or not?

If only it were that simple. Grandma was healthy, but according to the test, she was sick. But she didn’t know it, so she was a foolish healthy person or a foolish sick person who is now healthy again. But I don’t say that to my son. I want to give him a serious, realistic answer. A test is like a question. Ludwig Wittgenstein says: “The meaning of a question is the method of answering it. Tell me how you are searching, and I will tell you what you are searching for.” 

A test is basically a game, I think. But I don’t say that. We are passing a front yard in which small blue flowers are blooming.

I point to one of the flowers and say: There is no test that proves this is blue.

Our son thinks for a moment. You’re not making sense, Dad. And then: Ludwig poured the liquid from the test onto the floor.

Was he trying to test the floor? No answer.

But it wasn’t that bad.

I didn’t know you have a Ludwig in your class.

Do you want me to test you, Daddy?

What follows is a test that I do not understand. I have to look to the right and guess which card in his collection of picture cards our son is holding in his hand. It is impossible.

An impossible test, I say.

No, try harder, Daddy, you have to really try. And after some effort and many attempts, my answer is successful. A miracle. And so there are test miracles too.

Then our boy tosses the soccer ball into the shopping basket even though he was supposed to be carrying it. There are two bowls of strawberries in the shopping basket. Each test is an attempt and the temptation to carry it out. The results vary.  And it’s not a good idea best not to draw conclusions from them.

The strawberries are not smashed because the ball was stopped by a leek that lay across them.

Daddy, what does positive mean? And what is negative?

That’s like the battery in your train. Positive is where the bump is, negative is the smooth side. Both sides are needed in order for the battery to make electricity.

That’s not true. Negative is where the bump is and positive is the smooth side.

You’re wrong.

I’m not. I always put the battery in the other way around.

That’s why the train doesn’t work when you do it.

But it does work.

After some reflection:

It’s because positive and negative are the same. You can do it any way you want.

But not with a battery. There you can’t switch positive and negative.

OK, but otherwise you can, no?

Yes, in a way, I think, but I don’t pursue the thought any further.

Our son has been pulling off stickers wherever he finds them and can reach them with his hand. He is collecting stickers in a special album. There are an infinite number of stickers sticking to newspaper boxes, traffic signs, lamp posts, power boxes, subway elevators, etc. The world is full of stickers.

And another one, our son says, pulling off the sticker of a soccer club that he has already had twenty times.

Can you put that away? I stick it on my chest. It curls up and doesn’t hold particularly well. It falls off twice and I have to pick it up.

Daddy, I don’t want to be tested.

Is it bad?

It’s not bad but it’s silly. Silence. Tests are silly.

The present world is unthinkable without tests. There are tests everywhere. You can test everything. Children too. What happens to children when they are tested? Do the tests have an effect on the rest of their life? Of course they do.

We talk about it before going to sleep (you and I). Testing a healthy child is crazy. But maybe it’s just one more crazy thing the adults believe in. You say: The test is the desire to consult an oracle. We are so bitterly unbelieving that we beg the test to reveal to us a truth we have long since lost. The test is a self-deception, an act of desperation masquerading as reason. The test itself is a sickness. We fall silent. Then: Sleep can’t be tested. Yes it can, there are doctors who test sleep. No, they just think they can test sleep.

On this night, our son joins us in bed. Maybe dawn is breaking already. The three of us share our warmth. The word “test“ is buzzing around in my head like a maple’s propeller-like seedpod. The test spins to the ground and remains lying on the pavement.

 

Das siebte Jahr

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Wir summen (und winken)

Vielleicht verwandelt sich in dieser Epoche gerade das allgemeine Gerede in ein allgemeines, der Gesundheit dienende Gesumme. Wer summt, steckt nicht an. Wozu braucht es Sinn und Bedeutung der Worte und Sätze, wenn die einzig relevante Sprache die der Wissenschaft ist mit ihren Zahlen und Formeln und sich allein mit ihr die Wahrheit zum Ausdruck bringen lässt? Dieser Verwandlung von der sprechenden in die summende Gesellschaft stehen allerdings die Kinder entgegen. Sie können einfach nicht den Mund halten, sie sind geradezu süchtig nach Sprache, nach Wörtern, die über ihre Lippen gleiten, sie müssen Fragen stellen, sie müssen Ideen verbreiten, Wörter verbiegen und die verbogenen Wörter dann ständig wiederholen, bis sie vor Lachen auf den Boden fallen, wo sie sich herumkugeln, bis sie schweratmend plötzlich verstummen; aber wir wissen, gleich geht es wieder von vorne los. Es heißt nicht mehr: Lasset uns singen!, jetzt heißt es Lasset uns summen! Eine kleine, maskenbewehrte, weihnachtliche Andacht bringt uns in die neue Zeit. Wir summen Klassiker (die Kinder dürfen echte Kerzen an einem echten Baum mit echten Streichhölzern anzünden und wir kommen uns dabei vor wie dreifache Verschwörer. Zum Summen nehmen wir die Maske ab, davor leisten wir vor der neuen Göttin, unserer Lieben Technograzia, den Eid, die Lippen auf keinen Fall auch nur einen Spalt breit zu öffnen), – es ist eine Freude. Das Gesumme ist Verlautbarung zwischen Melodie und Text, ein zwischen beiden hin- und herschwankendes Tönen, das sich letztendlich dafür entscheidet, sich selbst und alle anderen (und mit allen anderen, sich selbst und alle anderen) zu wiegen. Über die Festtage kommen wir immer wieder zum Summen zurück. Unser Sohn möchte etwas sagen, ich hebe die Hand und mache das neue Zeichen, das das Sprechen zum Summen verführt (bei diesem Zeichen müssen die Reihen der Finger fest geschlossen sein und der Daumen lehnt sich an die Fingersäulen wie ein Bittender, Flehender, der auch dazugehören will). Wir laufen den winterlichen Fluss entlang, an dem die Menschen der Stadt zahlreich unterwegs sind. Wir wollen uns ein Kunstwerk ansehen, eine Brücke, der die Mitte fehlt. Sie führt scheinbar auf eine Insel, bricht aber ihr Führen einfach in der Luft über dem Wasser ab. Drüben auf der Insel erblickt man den Rest der Brücke, auf dem man, wäre die Brücke eine ganze Brücke, ankommen würde. Ein rätselhaftes Werk, das wir uns summend zu erschließen versuchen. Unser Sohn steht vor mir und stellt eine Frage. MMMMMMMMMMMMHHHHHMMMHH. War es überhaupt eine Frage? Nicht eher eine Feststellung? Ich frage zurück. MMHHMMHHMMMM. Er sagt: MMH HMM. Ich sage: HMMMM HMHMHMHHH. So unterhalten wir uns eine Zeitlang, während wir flußaufwärts über die Autobrücke zur Insel laufen, hinuntersteigen und uns auf das hölzerne Brückenreststück stellen. MMH, sagt unser Sohn. MMH, antworte ich. Auch in der Schule wurde zuletzt gesummt statt gesungen und unser Kind stellt sehr ausdrucksstark summend fest, wenn man summt, kann es genauso gut singen sein wie sprechen. Bei jemandem, der summt, kann man also nie entscheiden, ob er einem etwas sagen oder ob er einem nur ein Lied vorsingen möchte. Auf diesem Spaziergang werden wir flugs zu meisterhaften Summern, es erstaunt uns selbst, wie leicht es uns fällt (und wir schummeln nur ganz, ganz selten). Wir entschließen uns, zum Weihnachtsfest zur Oma zu fahren und unsere neue Kunst auszuprobieren. Die Oma ist in Quarantäne, obwohl sie gesund (negativ) ist, aber jemand auf ihrer Etage (es ist die dritte) ist positiv – so sind die neuen Regeln (die Gesunden büßen für die Kranken mit. – Oder sind wir alle krank? Und nur die Kranken sind in Wirklichkeit gesund? War es nicht immer schon ein Irrtum zu glauben, wenn man kein Halskratzen hat, kein Fieber, keinen Schnupfen, oder noch viel schlimmeres und sich auch sonst pudelwohl fühlt, man sei gesund? Ist nicht die eigene Gesundheit der größte Irrtum? Sollten wir uns nicht endlich von dem Irrglauben und der Wahnvorstellung befreien, wir selbst könnten beurteilen, ob wir gesund sind?). Die Oma tritt wieder auf ihren Balkon, die Aussicht auf uns ist gut, denn die Bäume sind blattlos. Aus dem Frühjahr haben wir ja schon Erfahrung im Winken, wir winken hinauf zur Oma und sie winkt zu uns hinunter. Dann summen wir los. Die Oma schüttelt den Kopf, ruft etwas, dann schütteln wir den Kopf und zeigen auf unsere geschlossenen Lippen. Das Summen nach oben ist schwer, in der Höhe scheint das Summen sich zu verlieren, das ist natürlich schade. Aber wir leben in findigen Zeiten, es gibt für alles eine technische Lösung. Wir rufen sie auf dem Handy an, das hat sie immer in der Tasche ihres Rollators. Und jetzt kann sie uns verstehen, wir summen durchs Handy hinauf an ihr Ohr, bis sie endlich sagt: Was macht ihr denn für einen Quatsch! Wir lachen alle drei und dann winken wir noch einmal und ziehen schließlich wieder unserer Wege und die Oma geht zurück in ihre Quarantäne. Wenn unser Sohn den herrlichen Hölderlin kennen würde, könnte er nun noch rasch zu MEINER VEREHRUNGSWÜRDIGEN GROSSMUTTER hinaufsummen: Vieles hast du erlebt, du teure Mutter! und ruhst nun / Glücklich, von Fernen und Nahen liebend beim Namen genannt, / Mir auch herzlich geehrt in des Alters silberner Krone … Aber diese alte Dichtkunst könnte nicht durch die Mauern der unbedingt notwendigen Quarantäne dringen, weder gesummt, noch gesprochen, noch gebrüllt (die Quarantäne ist ein heiliger Ort, bietet einzig den Schutz, den ehemals die Kirche geboten hat und die Politiker sind ihre im grellen Scheinwerferlicht herumspukenden Priester, die mehr noch als das Lachen das Singen verabscheuen). In der Dunkelheit kehren wir zurück nach Hause, durch unsere ruhige, fast ausgestorbene Stadt, die geheimnisvoll wirkt und verwunschen. (Als du unseren Sohn ins Bett gebracht hast, summe ich dir etwas vor. MMMHHMMMHHMMM HMM HMM HMMHH. Was habt ihr beide heute gemacht? fragst du. Ich summe es. Aha, sagst du. Es geht eine Zeitlang so hin und her, du fragst, ich antworte summend. Dann beginnst auch du zu summen. Bald summen wir gemeinsam und nach einigem Vergnügen daran, wird das Gesumme uns so lieb und schließlich zu einer großen Lust. Vor dem Schlafengehen, schauen wir noch einmal nach unserem Kind. Wir dachten es uns schon: es summt im Schlaf wie eine Biene, die in einer Blüte hängengeblieben ist. Bevor wir das Licht löschen, summen wir noch zwei Sprüche: Wollt ihr nicht verstummen / müsst ihr summen. Und: Wer summt, irrt nicht. Statt eines Kusses winken wir uns heute zu, bevor wir schlafen).

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Die Krise geht in die Schule

Die Krise entwickelt sich wie sich ein Kind entwickelt. Wohin führt das alles, welchen Weg geht das Kind? Wir (du und ich) können ahnen und unken, hoffen und bangen. Niemand weiß, was morgen geschieht. Wir können unseren eigenen Maßnahmen glauben, glauben, dass sie die Zukunft positiv beeinflussen. Eines Tages könnte wir dann unser Kind betrachten und zu uns sagen: Siehts du, das haben wir gut gemacht, deshalb und deshalb und deshalb ist es so und so und so geworden. An allem, was unser Kind eines Tages geworden sein wird, können wir uns einen hohen Anteil anrechnen. Wie die Menschen in der Krise: Wir haben das und das und das getan, deshalb ist es jetzt so, wie es ist, wir haben es richtig gemacht. Möglicherweise ist die Krise ein Kind, denken wir (denkst du, denke ich – tatsächlich: manchmal fassen wir den gleichen Gedanken zur gleichen Zeit), ein Kind, das uns die nächsten Jahre, Jahrzehnte noch sehr beschäftigen wird. Und immer wieder wird es etwas tun, das wir ganz und gar nicht begreifen können und uns höchst gefährlich und nicht im Geringsten förderlich erscheint. Die Krise ist ein Kind, das ewige Kind. Wir blicken auf unser Kind, das gerade mit einer Freundin zusammen das Bett mit allen verfügbaren Stiften angemalt hat. Das Holz, die Matratze, das Bettzeug. Ach ja, und die Tür haben sie auch noch bunt gemacht. Brauchen wir vielleicht einen Experten? Der unser Kind erkennt, erforscht, gerne mit Zahlen spielt und seine Schlüsse zieht, die zu geeigneten Maßnahmen führen? Maßnahmen, die unser Kind und seine Freundin in Zukunft auf Papier malen lassen werden und uns damit ersparen, Bett- und Bettzeug mühsam zu säubern? Wir sind uns einig: Mit so einem Experten würde unser Kind ganz schnell ein langweiliges und unlebendiges Kind werden. Würden wir einen Experten zu Rate ziehen, würden wir uns genauso gnadenlos verhalten wie die Experten, die die Krise vorgeblich (was wissen wir schon über ihre kindischen Motive?) zu entschärfen versuchen. Würden wir uns an einen Experten halten, würden wir nur unsere Putzfaulheit und damit unseren Egoismus nähren. Es tut uns gut, für das sinnlose, aber genauer besehen, recht hübsche Tun unseres Kindes und seiner Freundin geradezustehen. Ein Experte würde am Ende unser Kind abschaffen wollen. So wie der Experte Oma abgeschafft hat. Können wir Oma besuchen? fragt unser Sohn. Können wir nicht. Oma ist nunmal sehr alt und lebt in einem Heim und da darfst du nicht hinein. Die Oma, die ja am Leben ist, wird allmählich zur Erinnerung. Das letzte Mal, da trugen die Bäume noch keine Blätter, haben wir der Oma gewunken, zum Balkon hinauf und sie hat zu uns heruntergewunken. Als wir das nächste Mal auf dem Weg standen, der an ihrem Heim entlangführt, wußten wir zwar, dass sie wieder auf dem Balkon steht, aber so sehr wir uns auch bemühten, durch das Blättermeer war sie nicht zu entdecken. An der Pforte durften wir eine Schale Erdbeeren abgeben, eine Mitarbeiterin im Heim huschte heraus und unser Sohn hielt ihr die Schale hin. Leben wir am Ende in einem Märchen? Während wir von der Oma, die wir nicht besuchen durften, nach Hause radelten und uns Zaubersprüche ausdachten, wie im Märchen, Zaubersprüche, die den elenden Bann, der sie gefangen hält, vielleicht lösen können, verging die Zeit und mit ihr wehte es die Oma aus unseren Gedanken. Jetzt, da die Krise sich etabliert hat (und dabei so tut, als wäre sie weniger da), merken wir, dass wir ihr nicht hinterherkommen, wie wir der Entwicklung des Kindes nicht hinterherkommen (der Entwicklung unseres Sohnes, der sich auch etabliert hat und dabei so tut, als wäre er immer so, wie er jetzt gerade ist). Ach, die Oma, seufzen wir. Einer von uns (du, ich) durfte zu ihr und neulich durfte dann einer von uns beiden zu ihr, zusammen mit unserem Sohn und es war wieder wie im Märchen. Drei Tische im hauseigenen Café trennten uns, wir Besucher trugen Masken und wir schrien, damit wir unsere Worte verstehen konnten. Eine Stunde Zeit wurde uns erlaubt. Soviel Zeit reicht auch vollkommen aus, um heiser zu werden. In Märchen geht es grausam zu, herzlos, ohne Mitgefühl, die böse Schwiegermutter heutzutage heißt Vernunft. Es ist geboten, sie solange anzubeten, bis das eigene Denken endgültig in der Wüste der Allgemeinheit vertrocknet ist. Und die Zeit rast dahin (wirklich, es kann einem vorkommen, dass der Zeit an sich ein Rasen, ein Wahnsinn innewohnt): Schon ist die Krise so groß geworden, dass sie eingeschult werden kann. Im ersten Jahr dieses neuen Abschnitts wird sie verpflichtet, eine Maske zu tragen. Oder ist es nur unser Kind, das eine Maske trägt? (Gut, dass alles, was sich Menschen ausdenken, ins Spiel einfließen kann, in dieses ewige Spiel, dass man, ohne zu Zögern, das Leben nennen kann. Man sollte diese kleine Wahrheit aber nicht den Menschen auf der Straße zurufen, die mit großem Ernst ihre Maske über ihren Mund und ihre Nase legen, mit einer Heiligkeit und Demut, die von früher stammen muss, als es noch Religionen und Gottgläubige gab.) Was die Erwachsenen tun, tun auch die Kinder, allerdings diskutieren sie nicht über die große Krise, weil diskutieren das absolut Langweiligste ist, was man in der Welt tun kann (viel langweiliger als Klettern, mit Kissenwerfen oder Lego City, das unser Sohn bei einem Kindergeburtstag entdeckt hat). Die Krise entwickelt sich (sie wird noch viele Jahre brauchen) und unser Kind entwickelt sich (es wird noch viele Jahre brauchen). Unser Sohn entwickelte sich in der Krise, mit der Krise und ohne die Krise. Abends, wenn das Kind schläft, suchen wir Trost, denn die Krise kostet Kraft und Nerven. Den besten Trost bietet die Literatur, die einzige Kunst, die die Krise (und ihre Handlanger) nicht so leicht zugrunde richten kann, wahrscheinlich, weil sie nur aus ein bißchen Papier besteht. Lesen wir also Polgar, Trost in Krisenzeiten: … Vorteile der Krise für das Privatleben: Die persönlichen Gründe zur schlechten Laune lassen sich mühelos hinter den allgemeinen verstecken … Der Egoismus entledigt sich seiner Verschleierungen. Man trägt ihn heute nackt … Das Falsche und das Brüchige vieler sogenannter Lebensfreuden wird offenbar. Es zeigt sich in den meisten Fällen, daß Vergnügen kein Vergnügen ist. Und die Steigerung der Lebensangst hat Minderung der Todesangst zur Folge … Niemand kann mehr über sich selbst bestimmen: das bedeutet große Ersparnis an Entschlußkraft und geistigem Aufwand. Der Wirkungs-Radius des freien Willens ist auf ein Winziges zusammengeschrumpft, du lebst weniger, als du gelebt wirst, bist also nur mehr zu lächerlich geringem Teil dir selbst für dein Schicksal verantwortlich … So hat der Mensch endlich Ruhe vor sich selber … Während wir also jeden Abend vor dem Einschlafen, gerade noch im Wachen, eine Runde Lachen einlegen, lacht unser Sohn im Schlaf. Wir haben es eben deutlich gehört. Ein hohes, klingelndes Lachen, das nur aus Freude besteht.

The crisis goes to school

The crisis develops the way a child develops. Where is this all leading, what course is the child going to take? We (you and I) have presentiments, hopeful and fearful ones. No one knows what will happen tomorrow. We can believe in our own approaches, trusting that they will have a positive influence on the future. Eventually, some day, we can look at our child and say to each other: You see, we did a good job, this and that is why things turned out this and that way. Our part in whatever becomes of our child is considerable. People in a crisis reckon the same way: The reason things are as they are right now is because we did this and that: we did the right thing. Maybe the crisis is like a child, we think (I think, you think – actually, truly: sometimes we come up with the same thought at the same time), a child that will be our concern for years and decades to come. And again and again it will do something that is utterly incomprehensible to us and that strikes us as highly dangerous and not at all promising. The crisis is like a child, the eternal child. We look at our child, who has just painted the bed, in collaboration with a little girl who is his friend, using every available crayon. The wood, the mattress, the linen. Ah yes, and they’ve painted the door as well. Should we consult an expert? Someone who can understand and study our child, a person who likes to play with numbers and draw conclusions, which would lead to appropriate measures? Measures that will lead our child and his friend to paint on paper in the future, and spare us the arduous labor of cleaning the bed, the linen, the door. We agree: with that kind of expert, our child would very quickly turn into a boring and wooden child. If we consulted an expert, we would be acting as ruthlessly as the experts who are allegedly (what do we know about their childish motives?) seeking to mitigate the crisis. If we consulted an expert, we would only be feeding our aversion to cleaning and polishing and hence our egoism and our sloth. It’s good for us to stand up for the senseless but on closer inspection quite lovely behavior of our child and his friend. An expert would ultimately aim at getting rid of our child. Just like the expert who got rid of Grandma. Can we visit Grandma? our son asks. We can’t. Grandma is very old by now and is living in a retirement home and you’re not allowed in there. Grandma, who is alive, is gradually turning into a memory. The last time, that was before the trees had sprouted their new leaves, we waved to Grandma and she waved down to us from her balcony. When we stood there the next time on the path that leads to her retirement home, we knew that she was standing on the balcony, but no matter how hard we tried, we could not make her out through the sea of leaves. We were only permitted to leave a bowl of raspberries for her at the gate. An employee came out in a hurry and our son held out the bowl to her. Could it be that we are living in a fairy tale? As we rode back home on our bikes from the grandmother we were not allowed to visit, making up hexes and charms to break the miserable spell that is holding her captive, time passed, and with it Grandma slipped out of our thoughts. Now that the crisis has taken root (pretending at the same time that it has diminished), we notice that we cannot keep up with it, just as we cannot keep up with our son’s development (who has also taken root and is also acting as if he were always the way he is now). Ach, Grandma, we sigh. One of us (you, I) was allowed to visit her and recently one of the two of us was allowed to see her together with our son, and it was once again like a fairy tale. Three tables in the home’s common room separated us, we visitors were wearing masks and we shouted to make our words heard. We were granted an hour. That is enough time to shout yourself hoarse. Life in a fairytale is cruel, heartless, devoid of compassion. The evil stepmother in our days bears the name of Reason. We are commanded to worship her until our own thinking has finally dried up in a desert of common agreement. And time is racing (at breakneck speed, and sometimes it seems that time itself is the rageful progress of a kind of madness): By now the crisis has grown to a point where it can be sent to school. During the first year of this new chapter it is obliged to wear a mask. Or is it just our child who is wearing a mask? (Good that everything people come up with can flow into the game, the eternal game which we can all without hesitation call life. But it is better not to proclaim this small truth to people on the street, who are very earnestly covering their noses and mouths with masks, with a piety and humility that must come from earlier times when there were still religions and believers in God.) What adults do, the children do as well, with the difference that children do not discuss the great crisis, because discussing anything is the most absolutely boring thing in the world (much more boring than climbing, throwing pillows, or Lego City, which our son discovered at a birthday party). The crisis is developing (it has many years to go), and our child is developing (with many years ahead of him). Our child has developed in the crisis, with the crisis, and without the crisis. In the evening, when our child sleeps, we seek consolation, for the crisis takes effort and frays one’s nerves. The best consolation comes from literature, the only art that the crisis (and its minions) cannot easily ruin, probably because it only consists of marks on a piece of paper. So let us read Alfred Polgar, Consolation at a time of Crisis: . . . Advantages of the crisis for private life: Personal reasons for a bad mood can be effortlessly hidden behind the general reasons . . . Egotism sheds its disguises. These days it is worn nakedly . . . The falseness and brittleness of many a pleasure becomes apparent. Most amusements, it turns out, are not amusing. And the increased fear of life leads to a diminution of the fear of death . . . No one can determine himself any longer: this entails a great saving in resoluteness and mental effort. The effective scope of free will has shrunk down to a minuscule range, you’re not so much living as being lived, so you are responsible for your own fate to a ridiculously small degree . . . Thus man is at long last left in peace from himself . . . And so, as we put in a round of laughter before falling asleep every evening, still barely awake, our son laughs in his sleep. We just heard it again, very clearly. A high, ringing laugh that consists of nothing but joy.

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Corona, Corona, Corona, wir fahr`n mit der Oma nach Verona.

Die Kreativität der Kinder ist groß und ganz anders als das allgemeine absichtsvolle künstlerische Bemühen frei und bereit für jeden Sinn und Unsinn. Es ist moralisch unverantwortlich und es hat keine Mission. Aufklären sollen die Erwachsenen, im Grunde machen sie ja den ganzen Tag nichts anderes und kommen nie damit zu Ende. Ist das jetzt wegen der Corona-Krise? fragt unser Sohn angesichts eines verschlossenen Türchens zum Spielplatz (es wäre ein Leichtes darüberzuklettern). Ja, das ist wegen der Corona-Krise. Es ist noch früh am Tag und ziemlich kühl und es sind kaum Menschen auf den Wegen. Es wäre durchaus möglich, mit den anderen Kandidaten, die momentan noch nicht sichtbar sind, die Benutzung des Spielplatzes eigenverantwortlich zu regeln, aber zur Zeit wird uns das nicht zugetraut. Ja, natürlich, wir alle sind wie Kinder: reiche ihnen den Finger und sie greifen gleich nach der ganzen Hand! Wenn wir den Spielplatz betreten würden, wie schnell gerieten wir außer Rand und Band in unserer kindischen Sorglosigkeit. Deshalb sorgt jetzt der Staat für uns, sein pädagogisches Konzept stammt aus den Tiefen des neunzehnten Jahrhunderts, aber halt!, bevor wir Väterchen Staat schelten, aus denselben Tiefen kommt auch Adalbert Stifter. Unser Sohn trägt viel von Stifter in sich, ich selbst lese ihn gerade (und da wir viel, viel Zeit haben, lese ich dir einiges von Stifter vor, während von draußen aus der verstummten Großstadt eine große Ruhe hereindringt, ruhiger noch als die in unserem Wohnzimmer und unser Lesen sanft begleitet). Es gibt Interessanteres als Spielplätze. „Als Knabe trug ich außer Ruten, Gesträuchen und Blüten, die mich ergötzten, auch noch andere Dinge nach Hause, die mich fast noch mehr freuten, weil sie nicht so schnell Farbe und Bestand verloren wie die Pflanzen, nämlich allerlei Steine und Erddinge“ heißt es bei Stifter. Die Steine. Im Zimmer unseres Sohnes befindet sich bereits eine große Sammlung von Steinen, eigentlich eine Ansammlung, denn dicht gedrängt verwahrt unser Kind sie in einer flachen Holzschale oder in Säckchen, wenn er mit ihnen nicht gerade Muster auf den Teppich legt oder Grenzen um den Stall herum baut. Und schon hat er wieder einen Stein gefunden mit seinem Kennerblick, ein spitzer, länglicher Stein, der sich unter der Buchenhecke, die den Spielplatz umrundet, befand. Schnell verschwindet der Stein in seiner Jackentasche, diesen Schatz teilt er erstmal mit niemandem. Andere Erddinge sind halb vergrabene Kronkorken (manche aus purem Gold), ominöse Plastikteile (dreifach gebogen – was ist das denn? ruft unser Sohn fast empört) oder eine alte, fast schwarze Kastanie aus dem letzten Jahr, die einen kräftigen, blassen Trieb aus sich selbst heraus hat keimen lassen. Während wir sammeln (nein, unser Sohn sammelt und manches vom Gesammelten muss ich in meinen Taschen aufbewahren, dabei bleibt mir Zeit, ein, zwei Sätze aus einem Buch zu lesen oder in den Himmel zu blicken), summen wir. Wir sind wie die ersten Bienen, die auf den strammen Leberblümchen und Buschwindröschen ihrem schaukeligem Geschäft nachgehen und dabei einem ähnlichen Vergnügen frönen. Zuerst summen wir, dann singen wir. Einer von uns beiden wird angefangen und den anderen verführt haben oder wir haben beide gleichzeitig angefangen mit unseren Stimmen zu spielen – schon ist es nicht mehr zu entscheiden. Corona, Corona, Corona. Die Oma, die Oma, die Oma. Verona, Verona, Verona (dort waren wir letztes Jahr und haben einen Gummiball gekauft, höchst bunt, mit verfließenden Farben, den ich in meinen Rucksack gestopft habe). Irgendwann finden wir in unserem Gesumme und Gesang zu einer Melodie, einer leichten Melodie, die unser neues Liedchen unbeschwert begleitet. Wir geben unsere Suche am abgesperrten Spielplatz auf (wie stark wir uns von einem flatternden, rotweißen Plastikband beeindrucken lassen) und wandern weiter über die Wiesen, beobachten die Polizeiautos, die langsam die Wege im Park entlangfahren, da und dort stehen bleiben und die Ungehörigen, die allein, an einen Baum gehockt, rasten, vertreiben. Wegen Corona, sagt unser Sohn. Ja, wegen Corona, sage ich. Corona, Corona, Corona – es singt sich leicht dieses Wort, das gerade die ganze Welt bedeutet. Die Macht ist wirklich sehr launisch und ihr Anlass so klein, so klein. Was ist Corona eigentlich? Gute Frage, was ist es eigentlich? Wir suchen einen Ort, um Ball zu spielen. Neulich sind wir schon einmal auf dem Kirchplatz vertrieben worden, jetzt spielen wir gut verborgen hinter einer Baumgruppe. Wir fahr`n mit der Oma nach Verona, jetzt ist unser Lied fast komplett. Die Melodie üben und verfeinern wir auf dem Heimweg. Wie zwei Könige laufen wir singend über die Gehwege, die uns allein gehören. Voller Demut und Achtung gehen uns die Menschen aus dem Weg oder wechseln gar die Straßenseite. Manche tragen Masken über dem Gesicht, um uns mit ihrem Atem nicht die frische Frühlingsluft zu verderben. Ja, wir laufen sogar in der Mitte der Straße und kaum hat man uns erblickt, ruht der verbliebene Verkehr, schüchtern und schuldbewußt drücken sich die wenigen Autos zitternd an den Straßenrand. Corona, Corona, Corona. Als wir zu Hause ankommen, blicken wir in den Himmel, weil unser Sohn etwas entdeckt hat. Ein Bussard, ruft er, ein Bussard, wo? rufe ich. Doch, doch, doch, ruft unser Sohn, aber ich sehe nur den makellosen blauen Himmel, rein, wie ich ihn noch nie erblickt habe. Unser fertiges Lied singen wir dir vor: Corona, Corona, Corona, wir fahr`n mit der Oma nach Verona. (Kurz, sagst du am Abend, bist du über unser Lied erschrocken, dann hat es dir ganz besonders gut gefallen. In den Zeiten von Corona schläft unser Sohn nicht besser, nicht schlechter in seinem Hochbett. So stehen wir für einen Moment beruhigt an seiner Seite, dann legen wir uns selbst schlafen. Bevor wir die Augen schließen, noch ein bißchen Stifter: „Die Familie ist es, die unseren Zeiten not tut, sie tut mehr not als Kunst und Wissenschaft, als Verkehr, Handel, Aufschwung, Fortschritt, oder wie alles heißt, was begehrungswert erscheint.“ Wir sehen uns an, denken an unseren Sohn, und lachen so ausgiebig wie nie zuvor in unserem Leben und – es muss ein Wunder sein – schlafen lachend ein.)

Corona, Corona, Corona, we’re driving with Oma[1] to Verona.

The creativity of children is great, and unlike the ordinary intentional artistic endeavor it is free and available for every kind of sense and nonsense. It is morally irresponsible and has no mission. Let the grownups instruct and enlighten each other, which is what they basically do all day long, without any end in sight. Is this now because of the Corona crisis? our son asks regarding a lock on the little gate to the playground (it would be easy enough to climb over it). Yes, it’s because of the Corona crisis. It’s still early in the day and quite cool and there are hardly any people on the paths. It would not be at all inconceivable for us to decide in concert with other, not yet visible candidates how best to regulate the use of the playground, but for now we cannot be trusted to do so. Yes, of course we are all children; give them a finger and they’ll grab your whole hand. If we were to enter the playground, our childish, heedless ways would lead us in no time to go wild. That is why the state takes care of us. Its pedagogic concept comes from the depths of the nineteenth century, but wait!, before we complain about Father State, let us consider that Adalbert Stifter comes from those same depths. Our son has a lot of Stifter in his nature. I happen to be reading Stifter at the moment (and since we have lots of time, I read some passages by him out loud to you, while a great stillness seeps into our home from the silenced city, a stillness quieter even than the stillness of our living-room, a gentle accompaniment to our reading). There are more interesting things than playgrounds. “As a boy I also carried home — besides sticks, shrubs, and blossoms — other things, which I almost enjoyed even more because they did not discolor or relinquish their condition – that is to say, all sorts of stones and other things from the earth,” Stifter writes. The stones. In our son’s room there is already a large collection of stones, more precisely an accretion, for our son stores them, densely clustered, in a shallow wooden bowl or in little pouches, whenever he isn’t arranging them in patterns on our rug or laying them out as borders around the stable. And once again he has spotted a stone with his connoisseur’s eye, a longish, pointed stone that was lying under the beech hedge that circles the playground. Quickly the stone disappears in his jacket pocket, a treasure he is not going to share with anyone yet. Other things from the earth are half buried bottle caps (some made of pure gold), ominous pieces of plastic (triply bent – what’s this? our son asks, almost indignantly) or an old, almost black chestnut from last year that has sprouted a vigorous, pale shoot from out of itself. While we collect (no, our son collects, and many of the goods garnered have to be stored in my pockets, leaving me time, intermittently, to read two pages in a book or gaze into the sky), we hum. We are like the first bees that are going about their errands, bobbing and swaying on firm little liverwort flowers and wood anemones, indulging in a pleasure similar to ours. At first we hum, then we sing. One of us must have started and enticed the other to join in, or we both started to play with our voices – who can tell at this point. Corona, Corona, Corona, my Oma[1], my Oma, my Oma, Verona, Verona, Verona (we were there last year and bought a rubber ball with bright colors that blended into each other, which I now carry stuffed in my knapsack). At some point, in the midst of our humming and singing, we strike upon a tune, a jaunty little melody that lightly accompanies our new song. We give up our search near the locked-up playground (how strongly impressed we allow ourselves to be by that fluttering, red and white plastic ribbon) and wander further across the meadows, watching the police cars slowly drive along the paths in the park to stop here and there and disperse some naughty fellows who were taking a rest, alone, leaning against a tree. Because of Corona, our son says. Yes, because of Corona, I say. Corona, Corona, Corona – this word, which means the whole world at the moment, is easily sung. Power is truly capricious, and provoked by something so small. What is Corona? Good question, what is it? We look for a place to play ball. Recently we were driven off the church square for playing ball there, now we’re playing under a group of trees where we’re well hidden. We’re driving with Oma to Verona, now our song is almost complete. We practice and refine the tune on our way home. We sing like two kings as we walk along the footpaths which belong to us alone. People step out of our way, full of humility and respect. Some even cross the street. Some are wearing masks over their faces so as not to sully the fresh Spring air we are breathing. We even walk in the middle of the street. No sooner do the drivers take note of us than the sparse flow of traffic comes to rest and the few remaining cars press shyly and guiltily along the edge of the street. Corona, Corona, Corona. When we arrive at our house, we look up at the sky because our son has discovered something. A buzzard, he cries out, a buzzard! Where? I call out. It’s true, it’s true! our son cries out, but all I see is the flawless blue sky, purer than I have ever seen it. We sing our finished song to you: Corona, Corona, Corona, we’re driving with Oma to Verona. (For a moment, you say that evening, for a moment our song scared you, then you liked it especially. In times of Corona our son does not sleep either better or worse in his bunk bed. So we stand for a moment, reassured, by his side. Then we ourselves go to sleep. Before we close our eyes, I read you some more Stifter: “It is the family that our times need; it is more needed than art or science, than transportation, commerce, boom and progress, or whatever people call what seems desirable.“ We look at each other, think of our son, and – it must be a miracle – fall asleep laughing.)

[1] “Oma” is the German word for “Grandma.”

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Wir wachsen.

Und ich werde größer und größer! Du kannst nichts tun dagegen, auch nichts dafür. Es ist so. Ich kann auch nichts tun, ich werde größer und größer, ob ich will oder nicht will. Oh, ja, doch, ich will. – Bisweilen können wir unseren Sohn mühelos lesen. Es ist gerade so, als stände es auf ihm geschrieben. Jetzt, mit sechs Jahren, erscheint diese neue Schrift auf ihm, augenfällig und ihr Inhalt entspricht durchaus unserer Wahrnehmung. (Es ist schade, dass das Wachstum eines Tages aufhört oder sich komplett nach innen verlagert oder aber versiegt im schlimmsten Fall.) (Oder unendlich weitergeht im besten Fall? – Du schüttelst den Kopf.) Unser Sohn (dein Sohn, mein Sohn) ist ein richtig großer Junge geworden, ein Kind, das in die Schulreife hineinwächst und schon hineingewachsen ist. Das Gesicht hat das Mondenhafte verloren, der Hals hat sich gestreckt, Hände und Füße sind keine Patschhände und Patschfüße mehr. In den Händen findet sich ein gesteigertes Interesse wieder, das Angreifen ist zugleich Begreifen, Suchen und Erkennen. Die Hand sieht (und manchmal denken wir, unsere Hände sollten sich öfter im Sehen üben). Ich weiß gar nicht, was das mit dem Körper alles zu bedeuten hat, sagt unser Sohn zu mir als wir auf unserem Rundweg an der Station der Festungsbahn vorüber gehen. Er läuft ein Stück vor mir und hat die Hände ausgebreitet, die Handflächen nach oben geöffnet. (Irgendjemand aus der Menge der Touristen, die sich lose vor dem Kassenhäuschen drängeln, lächelt über uns, über unseren Sohn zumindest. Das Lächeln löst sich von den Lippen einer Japanerin, die eine sehr dicke weiße Wollmütze auf dem Kopf trägt.) Da ich es auch nicht weiß – was das mit dem Körper alles zu bedeuten hat? – und die Worte des Kindes keine Frage an mich waren, schweige ich und denke selbst darüber nach. Was hat das mit dem Körper alles zu bedeuten? Nein, ich denke nicht darüber nach, ich folge der Schwingung der Frage, so wie ich hinter unserem Sohn hinterhergehe. Unser großer Sohn denkt jetzt und scheut sich nicht die größten Fragen anzusprechen, die er selbst nicht als die größten bezeichnen würde. Die Fragen kommen von selbst und sind doch gedacht. Aber sind es überhaupt Fragen? Der Kopf unseres Sohnes folgt noch ganz dem zufälligen Auftauchen der Gedanken. Zugleich scheint jemand mitzudenken. Der Körper? Alles kann von Interesse sein. Der Getränkehändler gegenüber trägt einen Kapuzenpulli mit einer durchgehenden Bauchtasche. Unser Sohn bemerkt es und sagt dem Verkäufer, er habe auch so einen Pullover. Er öffnet seinen Anorak und zeigt, wie seine rechte Hand auf die gegenüberliegende Seite der Tasche durchgreifen kann. Ja, sagt der Verkäufer, verblüfft über die deutliche Ansprache des Themas Kleidungsähnlichkeit. Aber dein Pullover hat Punkte, sagt unser Sohn. Und meiner ist weiß, deiner blau, antwortet der Mann mit dem wir lose bekannt sind. Ein gutes, kurzes Gespräch über Kleidung: Nachdenken über Kleidung, über die Unterschiede und Gemeinsamkeiten. Und, anders als in unserem Denken, worüber nachgedacht wird, das wird sogleich ausgesprochen. Das ungehemmte, kindliche Denken kann nicht warten (wie unser gehemmtes Denken, dass immer wartet und aufschiebt und zurückgreift und vorgreift, nicht selten bis es sich der Gedanke aufgelöst hat). Warum kann unser Sohn das? Einfach so losreden? Es kommt uns nicht vor wie eine kindliche Schwäche, sondern wie eine menschliche Stärke. Der direkte Weg zu den Menschen, auf dem konstatiert, aber nicht geurteilt wird. Deswegen nennen wir ihn einen großen Jungen. Das Baby, unser Meister ist jetzt – im großen Jungen – gleichsam selbst aktiv geworden. Die Fragen an uns müssen gestellt werden. Ohne Verzögerung (meistens, es gibt Ausnahmen) und auf dem direkten Weg. Die wichtigen Angelegenheiten (alle Angelegenheiten sind wichtig) müssen geklärt werden. Am besten im Augenblick ihres Auftauchens. Das bezeugt die Größe unseres Sohnes (einer Größe, an die wir selbst, ehrlicherweise, kaum mehr hinreichen – insofern sind wir geschrumpft). Das Wachstum drückt sich unverwandt aus in dieser Fähigkeit, nicht nur in die Welt hineinzusprechen, sondern die Welt direkt anzusprechen (vielleicht ist sie auch eine Art, aus der Welt selbst herauszusprechen, sie zum Sprechen zu bringen. Unsere Stimmen sind weniger geeignet dies anzuregen, denn sie sind etwas verstimmt mit den Jahren, brüchig, ein bißchen vermodert). Sind wir gut drauf, dann ringen wir nicht so sehr mit Antworten, dann wollen wir die gestellten Fragen nicht so sehr verstehen, dass wir sie schlüssig beantworten (das auch, schon, schon), nein, dann lassen wir uns mitnehmen und verzaubern von der Unmittelbarkeit der Gedanken und Fragen unseres Kindes und versuchen diese Unmittelbarkeit nicht in der Maßlosigkeit des Kindes, sondern im richtigen Maß für uns, als Hintergrundschwingung unseres Tuns und Redens geradezu zu imitieren. Ja, nicht nur unser Sohn ahmt uns nach, auch wir ahmen unseren Sohn nach. (Würde es Sinn machen, wenn Eltern nichts von ihren Kindern lernen würden? Was meinst du? Was hast du von deinem Sohn gelernt? – Du lässt dir Zeit mit der Antwort. Dann sagst du: Zeit und Gerechtigkeit. – Große Dinge, sage ich. – Große Dinge, sagts du. – Jetzt aber üben wir Flöte. Der große Junge kann jetzt ein hohes e blasen und es klappt zunehmend besser mit den Achtelnoten. Der Zungenschlag klappt gut. Spielst du Backe, backe Kuchen? – Nein! Ist ein Mann in‘ Brunen g’falln! – Viel später, der große Junge schläft längst, sagst du: Ich habe noch etwas gelernt von unserem Sohn. Die Wichtigkeit der richtigen Reihenfolge. Ich dachte, ich hätte darüber längst alles gewußt, aber das stimmt nicht. Nicht dass ich nicht wüsste, dass die Reihenfolge beachtet werden muss, aber jetzt weiß ich, dass sie wichtig ist für das Innere, das Wachstum. Groß kann ein Kind nur werden, wenn es beim Wachstum nicht in der Reihenfolge gestört wird. – Du schläfst zuerst ein, dann ich.)

 

 

 

 

 

 

 

Das sechste Jahr

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Die Entfernung wächst mit.

Entfernung ist eines der vielen sonderbaren Worte, die ihr Gegenteil wie einen Schatten stets mit sich führen (vielleicht stützt und bewegt auch umgekehrt der Schatten den Vordergrundsinn des Wortes). So wie wir (du, ich) die Größe unseres Sohnes (aktuell 1,16 m) messen können, so wie wir sein Alter zählen (aktuell 5 ¾), so können wir, wenn auch nie ganz so eindeutig, seine Entfernung zu uns messen. Sicher ist: er entfernt sich von uns, nicht täglich ein Stück mehr, nicht kontinuierlich, doch immer wieder gibt es diesen Sprung, der ihn aus unserem Blickfeld führt, in eine Weite, die uns staunen macht, erfreut, beunruhigt. Wo geht er eigentlich hin, wenn er sich entfernt? In den Ferien verlässt er unser gemietetes Haus an der Rance mit mehrere Postkarten in der Hand und der deutlichen Mitteilung, dass er nun zum Briefkasten zu laufen beabsichtige. Er geht die kleine, enge Straße mit dem kaputten Belag entlang, zielstrebig und wie es scheint, selbst in einer Art Sinnen versunken, über die Dimension seines Sichentfernens. Zugleich ist er entschieden, deutlich entschlossen, unbeirrbar in seiner Absicht. (Ich trete, als er sich schon ein gutes Stück entfernt hat, vors Haus, um ein Foto dieses Ausflugs zu machen. Das Foto soll ihn festhalten in seinem Fortgehen, und auch seine Entschlusskraft dokumentieren – vielleicht will ich uns die Wahrheit dieser Augenblicke beweisen, denn die Klarheit des Fortgehens unseres Sohnes könnte uns ein Vorbild sein für zweifellose, notwendige, gut gespürte Entscheidungen, die das Leben von uns fordert). So geht er dahin, vorüber an violett blühenden Stockrosen, doppelt so groß wie er selbst, an ausladenden, urmütterlichen, zartrosanen Hortensien, geht in angemessenem Tempo mit seinen braunen Flip-Flops, die wir am Strand in St. Lunaire gekauft haben und verschwindet am Ende der sanft gebogenen Straße hinter der letzten Hausecke. Nun ist er fort, außer Sicht. Wirft wahrscheinlich die Postkarten in den Briefkasten ein. Es ist ein Moment des Getrenntseins, der für sich steht und gewissermaßen absolut ist. Jeder lebt für sich allein bei aller gedachten und erlebten Verbundenheit. Ein Schreck fährt mir durch die Glieder, ein wohliger Schreck, ein glücklicher Schreck, der immer die Momente kleiner Erkenntnisse begleitet: ein bißchen Wahrheit, nichts sonst. Auf diese Weise erfrischt, sehe ich unseren Sohn zurückkehren. Er ist verändert, denke ich sofort, obwohl ich, da er noch weit entfernt ist, keine Züge in seinem Gesicht unterscheiden kann. Er kommt langsamer zurück, als er fortgegangen ist. Eine durchsichtige Traumwolke umhüllt ihn, es sieht so aus, als könnte sie ihn vom geraden Weg abbiegen und in irgendeinen Vorgarten treten lassen. Er spricht mit sich oder er singt ein Lied, nein, am ehesten sieht es nach halblautem Gemurmel aus, halbsinnvollem Zeug, nach Gedanken, die sich halb im Kopf, halb draußen im Freien befinden (wieder mache ich Fotos von ihm, nicht ganz ohne Schuld- und Schamgefühl, darüber, diese Intimität und dieses schwebende Beisichsein ohne Erlaubnis festzuhalten. So verführerisch die Fotografie ist, eigentlich ist sie doch nichts als eine große Unverschämtheit, – was meinst du?). Schon sehr weit vorangekommen, erblickt er mich. Lächelt. Fühlt er sich ertappt? Ein bißchen. Dann freut er sich, winkt mit beiden Armen und erzählt mir etwas von einer Pflanze, die unter dem quadratischen Gullygitter wächst, die in einem dunklen Schacht wurzelt, wo es keine Erde gibt, die sie hält und an der sie sich festhalten kann. Ihr Blütenköpfchen stößt fast an das Eisen des Gitters, aber es kann doch jetzt nicht mehr weiterwachsen, die Abstände im Gitter sind zu eng. Oder, Mama? Du bist dazugekommen, dir gilt diese Frage, du bist die, bei der unser Sohn stets seine Fragen nach den Welträtseln mit einem nachgestellten: oder, Mama? enden lässt. Die an mich gestellten Fragen enden mit einem simplen Fragezeichen und ich frage mich nun selbst, ob denn der Abstand zu uns, zu dir, zu mir, zum gleichen Zeitpunkt der gleiche ist, oder ob es einen Unterschied gibt, ob wir unterschiedliche Trabanten sind, die unseren Sohn in unterschiedlichen Entfernungen umkreisen. Entfernen am Ende wir uns von unserem Sohn und so sehr wir uns zu ähneln glauben, doch mit unterschiedlichem Tempo und unterschiedlichem Vorankommen. Wir wollen am liebsten unserem Sohn die Bürde und Pflicht und Freunde und Furcht des Sichentfernens zurechnen, und vergessen dabei unsere eigene Bewegung. Wir wollen es der Entwicklung unseres Kindes zurechnen, und vergessen dabei unsere eigene. Morgen geh ich wieder zum Briefkasten, sagt es. Ich könnte auch mal zum Bäcker gehen. Willst du mitkommen?

 

 

Das fünfte Jahr

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Das Urteil fällt

Alle Kinder. Alle einundzwanzig Kinder aus der Kindergartengruppe (der Blauen Gruppe) gehören dazu. Der Fluch der Ausgrenzung bleibt noch unausgesprochen. Was immer jedes Kind tut, es gehört dazu. Das Tun jedes Kindes wird wahrgenommen, aber es hat nichts mit seiner Zugehörigkeit oder Nichtzugehörigkeit zur Gruppe zu schaffen. Auch nicht, was jedes Kind spricht oder nicht spricht, oder wie es spricht, oder in welcher Sprache. Alles wird wahrgenommen als das, was es ist. Die meisten Dinge, die die anderen Kinder tun, werden, wenn überhaupt etwas darüber berichtet wird, mit großem Gleichmut erzählt. Ja, das war schon lustig, was der Soundso gemacht hat, ja, und das Andere war verboten und das Dritte war schön. So geht es zu in der Welt: manches ist erlaubt, manches verboten, aber daraus leitet sich nichts ab, kein Gut und Böse, keine Bewertung, die Folgen für den Täter hätte. Oder die Täterinnen, die drei ältesten Mädchen, die ständig etwas aushecken und immer wieder den Kleineren etwas anschaffen. Es gibt eben die, die anschaffen und die, denen angeschafft wird. Aber daraus leitet sich nichts ab, kein Besser, kein Schlechter. Es geht um Vollständigkeit. Vollständig heißt alle. Alle Dinge, alle Kinder, die ganze Welt. Dann ist die Welt vollkommen. An ihr selbst ist die Welt immer vollkommen, sie kann gar nicht anders als vollkommen sein. Die Welt fühlt wie ein Kind: Alles, was ich bin und sein kann, gehört zu mir. Es fängt ganz einfach an. Wir blättern ein Album mit Tieren durch oder eine Schuhbeilage in der Tageszeitung. Unser Sohn möchte jedes einzelne Tier (oder jeden einzelnen Schuh) betrachten und etwas dazu sagen. Dieses Tier hat große Ohren, dieses Tier sieht wild aus, wie heißt dieses Tier? (Dieser Schuh ist spitz, dieser Schuh hat keine Schuhbänder, wie heißt dieser Schuh?) Überspringen und weiterspringen ist nicht erlaubt. Kein Tier, kein Ding wird ausgespart (was wir nur zu gern tun würden. Wir – du, ich: darin unterscheiden wir uns überhaupt nicht – möchten immer auswählen, vorsortieren, unseren Zwecken gemäß; die vollständige Betrachtungsweise ist uns ziemlich fremd, auch, weil sie reine Zeitverschwendung ist), alles, alles, alles ist gleich wichtig oder gleich unwichtig. Das Interesse unseres Kindes ist ungeteilt, was nicht bedeutet, es sei beliebig. Dieses Tier mag ich gern, dieses Tier mag ich noch lieber. Und das gilt auch für die Kinder im Kindergarten: Der Soundso ist schon nett, aber er ist nicht mein Freund. Doch wer nicht Freund ist, gehört genauso dazu, ist fester Teil der Gruppe. Selbst, wenn unser Sohn auswählt, verliert er nicht den Blick für die Vollständigkeit. Wir (die Naiven) denken, trifft unser Junge seine Wahl, dann ist das ein Tun, das unserem Wählen ähnlich oder gar gleich ist (so denken wir im Übrigen fast immer: Erkennen wir sein imitierendes Tun, glauben wir sogleich, der Modus seines Tuns sei der gleiche, in dem wir handeln; die Unschuld des Kindes nicht aus dem Blick zu verlieren, ist eine große Herausforderung, eine noch größere, sie überhaupt in den Blick zu bekommen). Erst fiel es unserem Kind schwer, zu wählen. Wieso das Eine wählen und nicht das Andere? Wählt man das Eine, verliert man dann nicht alles Andere? Ist das nicht ein unnatürliches Vorgehen? Eine Freundin besucht unseren Sohn. Am Ende des Nachmittags darf sie sich etwas von Dingen ihres Freundes aussuchen, ausleihen und mit nach Hause nehmen. Diese Wahl dauert. Und dauert. Und dauert, denn es bedarf auch noch der Zustimmung unseres Sohnes zu dem, was sie auswählt. Wieder hat es den Anschein, jede Wahl will wohlüberlegt sein. Wichtig ist die Verhandlung zwischen den beiden. Kann ich das? Das nicht! Wills du das? Das nicht! Vielleicht aber ist die Wahl, die Auswahl nur eine Rücksichtslosigkeit den anderen Dingen gegenüber, und fällt deshalb so schwer. Würde die Freundin nicht am liebsten alles ausleihen? Und fällt es dem Verleiher nicht deshalb so schwer, etwas herzugeben, weil damit die Ganzheit seines Besitzes zerstört wird? Da fällt uns unser Meister, das Baby, wieder ein. Er ist immer noch aktiv. Sein in Allem-Zuhause-Sein ist die am höchsten entwickelte Seinsweise, von der Abschied zu nehmen ebenso schmerzhaft, wie unabdingbar zu sein scheint. Das Baby urteilt nicht. Urteilen macht einsam. Die Gegenwart urteilt ununterbrochen. Das bringt nicht zusammen. Keiner darf und soll sein, wie er ist. Das Baby kümmert es nicht, wie jemand ist. Die Kinder kümmert es schon, aber ihr Urteil ist eher ein betrachtendes. So und so ist der also, interessant. Urteilen heißt in diesem Fall: sehen, wie sich jemand oder etwas verhält. (Aber es ist doch notwendig, urteilen zu lernen, denken wir, du, ich, wie sonst könnte man sich zurechtfinden in der Welt, wie sonst etwas erreichen? Bei Georg Steiner lesen wir: Echtes Lehren hat man als imitatio eines transzendenten oder, genauer, göttlichen Enthüllungsaktes angesehen … – verwunderlich – oder gerade nicht? -, dass auch der kluge Lehrer Georg Steiner die Lehrerschaft von Baby und Kind in keinster Weise bedenkt. Es ist gerade so, als würde der Lehrer wie ein Sonnenstrahl durch den lange bewölkten Himmel stoßen, wenn ein langer Teil des Lebens schon vorbei und die große Vernuft erwacht ist. Wir blicken auf unseren Sohn. Der Lehrer ist da, nicken wir uns zu. Der vollkommen uneitle Lehrer, der in seinem Tun und Sprechen seine alte Meisterschaft verrät. Der nicht lehrt, indem er lehrt.) Das ist blöd, ruft unser Sohn und auch seine Lieblingsfreundin ruft: das ist blöd! Wir haben nicht mitbekommen, worum es geht. Das ist blöd, das ist blöd, das ist blöd, rufen die beiden im Chor. Und dann lachen sie, lachen und lachen, als gäbe es nichts Lustigeres als solch ein lautes, plumpes, gemeines Urteil.

 

 

Das fünfte Jahr

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Du, das Tier und ich.

Der Zoo ist vielleicht der einzige Ort, an dem wir Klarheit über uns erhoffen können. Und die Klarheit wächst, in dem Maß, indem die Besucher des Zoos weniger werden. Überhaupt: zuviele Menschen verstellen schnell den Blick (in der Menge badend ist es nahezu unmöglich, einen klaren Kopf zu behalten). Es ist Winter und schon Nachmittag (wir haben sehr getrödelt, eigentlich wollten wir unseren Zoobesuch früher beginnen, doch hatten wir schon im Trödeln den Eindruck, dass es ein sinnvolles Trödeln sei, das uns sogar nützen könnte). Wir beginnen beim Maushaus. Sehr hübsche schwarze Mäuse mit langen Schwänzen sehen wir (unser Sohn, ich), die zu dieser lichtschwachen Nachmittagsstunde munter unterwegs sind, in ihrer wohl gestalteten Mäusewelt mit Häuschen und Wippen und Brücken und Rampen und reichlich Knabbernahrung. Die Mäuse bewohnen einen ehemaligen Kiosk mit großen Glasscheiben, für die Kinder gibt es zurechtgesägte Baumstämme, auf denen sie stehen oder knien für den richtigen Überblick. Die noch zahlreichen Betrachter des Mäuselebens sind entzückt über die süßen, flinken, eifrigen Wesen mit den Zitterschnauzen in ihrem idyllischen Diorama und auch unser Sohn spricht durch die Glasscheibe zu einer Maus und klopft mit dem Finger an die Scheibe, um sie auf sich aufmerksam zu machen (so sind wir Menschen, wir wollen, dass die Tiere uns sehen, dass sie Kontakt mit uns aufnehmen, dass sie uns erkennen und beschnuppern und bestaunen: sollen sie uns doch bitte für einige der ihren halten, auch wenn wir so gar nicht mausartig aussehen, wir wollen nicht die ganz anderen Lebewesen sein. – Das mit den Tieren ist wirklich eine ernste Angelegenheit, sagst du später, als wir dir von unserem Zoobesucht berichten). Nach einiger Zeit ist es genug mit den Mäusen, die Betrachtung von Mäusen erschöpft sich wie die Betrachtung von Gemälden, wir können nicht zu lange bei nur einer Spezies, bei nur einem Bild verweilen. Es gibt noch soviel anderes. Unser Junge wechselt schnell seine Absichten. Den Strauß will er sehen, fünf Schritte später die Elefanten, dann die Flamingos und was ist mit dem Spielplatz und der großen Hängebrücke? Den Strauß, den wir in der Nähe des Zebras vermuten, finden wir nicht. Im Elefantenhaus steht ein Elefant allein in der Ecke, während die anderen Tiere mit dem Rüssel Reste aus einem hoch hängenden Futterkorb ziehen. Haben Elefanten Zähne und überhaupt einen Mund? Ja, über einen großen Backenzahn können wir im Infobereich mit der Handfläche streichen. Wir sind glücklich darüber. Auch die anderen Besucher sind glücklich, bei den Tieren sind alle Menschen glücklich. Die Menschen lieben die Tiere. Lieben Elefantenzähne. Wir treten aus dem Elefantenhaus, es dämmert. Wir sehen ein Tier, das wie ein Pferd aussieht (vielleicht ein Einhorn? sage ich, Einhörner gibt`s gar nicht in echt, sagt er). Unser Junge läuft über die Hängebrücke, klettert ein paar Mal über ein mit dicken Tauen verbundenes Gerüst. Wie ein Affe, rufe ich. Die Affen, ruft unser Kind, die Affen, wir müssen noch zu den Affen! Es ist schon fast dunkel, als wir die Welt der Affen betreten. Und die Menschen, gerade noch so zahlreich, sind wenige geworden. Wir bleiben nur kurz bei den kleineren Affen, den Blaumaulmeerkatzen und Listzäffchen, denn unser Sohn will weiter, zu den größeren Affen, zu den richtigen Affen. Da sind sie: Die Orang-Utans. Da sind sie, hinter den riesigen Glasscheiben. Außer uns befindet sich nur noch ein Paar im Haus, das sich lächelnd Hinweise zuruft, was dieser, was jener Affe gerade tut, die unzählige Fotos schießen, wieder freudig lächeln, sich dann umarmen und nach Hause gehen. Jetzt sind wir allein mit den Affen. Jetzt kann sich alles klären. Keine Meinung ist im Raum, kein Gedanke, leise Gefühle nur und leichtes Sehen. Ein großer Orang-Utan, es könnte, laut Schautafel, Sitti oder Matra sein, zieht sich einen Jutesack erst über den Kopf, dann klettert sie ganz hinein. Kullert auf dem Rücken durchs Stroh. Stroh, das ein anderer Affe mit Händen und Füßen auf einen Haufen schaufelt. Zwei kleine Tiere turnen an den Gerüsten, hängen an den Seilen, jagen sich, liebkosen sich. So sind Affen. Und immer haben sie etwas zu essen in der Hand oder im Fuß, knabbern daran, spucken Schalen aus. Es ist wie unser Essen-to-go. Bei allem, was sie tun, essen die Affen. Es wirkt sehr gemütlich, da zu knabbern, dort zu kauen und dabei an einem Arm zu hängen, zu schaukeln und dann federnd auf einen Mitaffen zu springen. Es ist schön, allein mit den Tieren zu sein. Es ist, als könnten wir vergessen, dass wir Menschen sind. Als würde uns das am meisten fehlen: zu vergessen, Mensch zu sein. Aber es gibt keine Tür, die uns den Weg in den Käfig öffnet. Wir stehen, was die Tiere betrifft, ewig draußen vor der Glasscheibe. Sonderbare Notwendigkeit des Käfigs, denke ich und blicke auf unseren Sohn, der nur den Orang-Utan mit dem Jutesack begeistert betrachtet. Wie er sich im Sack versteckt und sich den Sack wieder vom Körper zieht. Immer wieder aufs Neue. Unser Sohn sitzt auf der Bank vor der Glasscheibe und schaut. Er sitzt gerade, die Hände miteinander verbunden, er lacht und ist so präsent, dass er dadurch gleichsam verschwunden ist. Oder vielmehr, ganz und gar da ist. Ist uns eigentlich klar, dass der Beobachter das Beobachtete ist? heißt es bei Krishnamurti. Wie könnten wir etwas über den Menschen erfahren, wenn wir immer nur Mensch sein und bleiben wollen? Bei Nietzsche heißt es: Einst wart ihr Affen, und auch jetzt noch ist der Mensch mehr Affe, als irgendein Affe. Dies nicht diffamierend denkend, ist es auf eine heitere Weise erhellend. Unser Sohn – leuchtet er nicht, während er den Orang-Utan mit seinem Sack beobachtet? Strahlt nicht sein Gesicht so sehr, dass es ein Loch in die Trennscheibe brennt? Wird uns ein Affe nach Hause begleiten? Was ist der Affe für den Menschen? Ein Gelächter oder eine schmerzliche Scham. Oh Nietzsche, wie gut, dass ihr Philosophen euch irrt. Wolltest du nicht schreiben: Was ist der Affe für den Menschen? Eine Freude und ein Glück.? Ruhig und stumm machen wir uns auf den Heimweg. Wir sind die Einzigen. Es ist schon ganz dunkel geworden. Und es ist überraschend dunkel, denn es gibt hier kein Wegelicht, keine beleuchteten Wegweiser. Wird es dunkel im Tierpark, wird es wirklich dunkel. Vielleicht stehen da überall im Dunkel Tiere. Die uns sehen. Und denken: Jetzt gehen sie wieder, die Menschen. Sie werden wiederkommen. Um sich Klarheit zu verschaffen. – Was für ein heimeliger Heimweg. (Die warme Pfote meines Sohnes in meiner: klein, weich, deutlich. – Wie war`s? fragst du, als wir zur Tür hereinkommen. Wir sagen, gut. Später, beim Schlafengehen fragt dich unser Sohn: Mama, warum essen wir Tiere? Rasch antwortest du: aus Liebe, nur aus Liebe.)

 

 

 

 

 

 

 

 

Das fünfte Jahr

 

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Zeitloses Kind

Wir haben die Zeit verloren. Nicht aus den Augen. Aus dem Körper. (Das klingt wie ein Gleichnis, sagst du. Darauf weiß ich nichts zu antworten.) Tatsächlich, irgendwann sind wir ins fünfte Jahr gewechselt, aber selbst die Feier des Geburtstags unseres Kindes (der auch schon lange zurück liegt) konnte uns nicht wirklich von der Wirklichkeit des Voranschreitens der Zeit überzeugen. Ehrlich gesagt, sind wir auch ein bißchen unwillig gegenüber dem Fluss der Zeit, denn auch wenn wir nichts gegen das Fließen einzuwenden haben, so sind wir doch nur Zuseher, die den vielen glücklichen Momenten, die auf dem Wasser davontreiben mal staunend, mal fragend, mal rätselnd, auch ein wenig traurig hinterherwinken können. Aber es geht weiter und dort über dem Fluß, in der tief stehenden Sonne, die so gut versteht, den Raum zu weiten, sind schon die neuen Momente entstanden, flirrend sich sammelnd, bevor wir sie erleben. Unser Sohn wächst. Innerlich und äußerlich. Das gestrige Entzücken darüber ist schon dem heutigen gewichen und das morgige ahnen wir schon. Wie die Wehmut unseres Entzückens. Schwer zu glauben, dass sich nichts festhalten lässt. Schon gar nicht ein kleines Kind. Es ist jetzt so groß und geschickt, dass es sich fast jedem Griff entwindet. Wir spielen Fangen und Raufen und Ungeheuer, und das Bein, das wir eben noch festhielten, schwingt sich schon wieder von hinten über unsere Schulter. Wir argumentieren (die neuen Stiefel haben Reißverschlüsse, die man, bevor die Schuhe ausgezogen werden, öffnen soll, denn sonst nehmen sie Schaden), aber kaum haben wir uns geäußert, schon wird unser Argument zur Schlinge, die unsere Zunge bindet (so geht es leichter, wenn ich die Matschhose anhabe, sagt unser Sohn, und wenn du, Papa dein Schuhband nicht aufmachst, mache ich meinen Reißverschluß auch nicht auf). Groß und geschickt, nicht auf den Mund gefallen, oft sinnierend, dann durchleuchtend, prüfend: Was hat die Erwachsenenwelt zu sagen? Macht das Sinn? Oder versteckt sich nicht in allem, was wir sagen, ein uns selbst verborgener Sinn? Die Kinder treiben sich in archetypischen Welten herum (sie sind Kämpfer und Prinzessinnen, Könige und Einhörner, Zwerge und Riesen) und deren Inhalte verknüpfen sie problemlos mit der rationalen, bewußten, oft genug überbewußten Erwachsenenwelt. Sie liefern uns einen interessanten Fingerzeig, dass wir auf der Oberfläche des Seins leben, bewusstlos darüber, doch nicht ohne Ahnung. Wir leben auf der Erde, fühlen uns sicher, getragen, standfest, aber wir haben so gut wie keine Vorstellung darüber, wie es im Inneren dieser Erde aussieht und wie es sich dort anfühlt. Es fällt uns leichter, nach Lichtjahre entfernten Sternen zu greifen, als in den Boden unter uns. Unser Sohn ist so viel kleiner als wir (ja, manchmal denken wir, ist er nicht unglaublich klein?), so viel näher der Weltkugel, die wir bewohnen und bewandern und so viel weniger interessiert am Blick nach oben. Unser Sohn wirft sich auf den Boden, aus Quatsch, er fällt oft, gut, leicht, rutscht auf den Knien, hockt sich hin mitten auf dem Gehsteig. Zwischen oben und unten scheint es einen speziellen Raum zu geben, einen Kinderraum, den die Kinder nur mit den Tieren teilen, hier in der Stadt: den Hunden, den Krähen und Tauben, den Mardern. Aber auch dem Land ist dieser Raum bewohnt von Tier und Kind. Auch, wenn unser Kind steht, bewohnt es diesen Raum. Das ist etwas, das im Blick zu behalten, wir uns geradezu zwingen müssen. Ein Kind lebt, allein durch seine Körpergröße bedingt, in diesem speziellen Raum. (Kannst du das verstehen? Kannst du dich in diesen Raum einfühlen? Kannst du dir vorstellen, dass du darin haust? – Es ist möglich, sagst du, und nach einer Weile, es ist nicht möglich. Du zögerst: vielleicht doch, wenn ich mich, die Zeit verlierend, erinnere. – Das klingt wie ein Gleichnis.) Es ist der Raum, den das Baby (unser Meister!) zurückgelassen hat! Der Raum, den wir gleichsam mit dem Baby zusammen in den Armen gehalten haben, den wir auf die Wickelkommode legten oder auf das Bettchen. Und den das Baby wieder mit hinunter auf den Boden genommen hat, von wo aus es anfing zu krabbeln, sich zu erheben und zu laufen. Wir dachten, es läuft doch in unserem Raum, aber das war ein Irrtum. Es tummelte sich und tummelt sich weiterhin ganz dicht über diesem „im Felde der dunklen Vorstellungen liegenden Schatz, der den tiefen Abgrund der menschlichen Erkenntnisse ausmacht, den wir nicht erreichen können“. Kein größerer Geist als Immanuel Kant hat davon gesprochen (wie stellen wir uns diesen Kant vor? Als ein superschlaues Kind, dessen scharfer Verstand uns Erwachsene darüber täuscht, worüber er jede Gehirnzelle fletschend wacht: der Schatz der Erkenntnis, der in der Tiefe liegt). Ist es nicht so, dass es etwas ganz Anderes ist, wenn man liegend oder an der Kante des Kraters hockend in einen Abgrund blickt, als wenn man stehend (oder auf Knien) in dieses tiefe Loch hineinblickt? Unser Kind hat nie ein Schwindel am Abgrund erfasst, auch dann nicht, wenn wir längst eine zitternde Sorge in uns bemerkt haben (erinnerst du dich an die hohe Ufermauer an diesem dunklen Bergsee, auf der unser Sohn mit Leichtigkeit dahinlief, während uns der Schweiß ausbrach (ach, dir brach gar kein Schweiß aus)? Unschwindelig ist unser Kind, weil ihm der Abgrund kein Abgrund ist. Weil er die Tiefe nicht kennt, scheut er sie nicht. Weil er die Tiefe nur zu gut kennt, ist sie ihm keine. Wir können uns zu unserem Kind auf den Boden setzen oder legen, aber den Schwindel werden wir so nicht wieder los. Das, was uns Gereifte trägt, ist Abgrund oder verschlossen oder beides. Auf ewig wie es aussieht. Der im Felde der dunklen Vorstellungen liegenden Schatz – wir sehen sein Leuchten nicht. Furchtlos spielt unser Sohn mit ihm; sieht es nicht oft so aus, als würde etwas durch seine Hände gleiten, abgelegt und wieder aufgenommen werden, das wir nicht sehen können? Eigenartige Dinge, die keine Zeit zu kennen scheinen, keiner Zeit unterworfen sind. Kleine glitzernde Ewigkeiten, die geräuschlos in den Boden sinken, wie sie geräuschlos aus ihm heraufgetaucht waren. (Wie groß er geworden ist, denken wir, wie groß. Was ist die wahre Größe anderes als einer der im Felde der dunklen Vorstellungen liegenden Schätze? Wie groß er geworden ist, denken wir wieder, und wie wenig uns die Zeit nützt und hilft, das zu begreifen.)

 

 

Das vierte Jahr

Das erste Jahr Babybuddha jetzt auf:

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Mama! und die Parallelwelt

Der Mamaruf. Kein Ruf ist lauter, kräftiger, willentlicher, zwingender, wirkungsvoller. Selbst wenn er geflüstert wird. Es gibt sogar den stummen Mamaruf (vielleicht ist das der lauteste, was meinst du, was hörst du?). Es ist auch der selbstverständlichste Ruf, ein Ruf der Einvernehmen, Einigkeit, Einssein ausdrückt. Ein großer Liebesruf, stark, kraftvoll und darin zärtlich und sanft: Kammermusik. Und dieser Ruf ist ein Befehl, ein unbedingtes Wollen, ein Ruf, der gleichsam körperlich von Raum zu Raum eilt, der größte und kleinste Distanzen überwindet und der sich nur gewaltsam überhören lässt. Unser Sohn, der längst in der Parallelwelt lebt (die sich wie ein Zwilling an unsere Welt kuschelt), ist ein großer Freund des Mamarufs. Mama! das ist der geworfene Anker, der sicheren Grund sucht und findet. Unsere Welt ist nicht die Welt unseres Kindes. Wir würden das Gegenteil nur zu gerne glauben, und unsere eigene Engheit und vernünftige Beschränktheit als Zeichen unserer Reife ausgeben. Ein Stuhl ist ein Stuhl, glauben wir, wissen wir in großer Selbstgewissheit. In der Parallelwelt unseres Kindes ist ein Stuhl kein Stuhl. Gestern war er eine Kutsche, heute ist er ein Turm, morgen ein Flugzeug. (Lächeln wir nicht darüber! Was meinst du?) Die Parallelwelt nennen wir auch die Welt der Fantasie. So sind sie eben die Kinder, sie denken sich etwas aus und unterwerfen jedes Ding und jedes Wesen ihrer unendlichen Vorstellungskraft. Sie bauen die Schöpfung um, diese großartigen Umschöpfer. Sie brauchen das, um sich zu entwickeln, um sich unsere Welt anzueignen. Ehrlich gesagt, nein, wir glauben gar nicht, was wir über die Kinder denken, aber wir müssen etwas denken, denn sonst würde uns die Parallelwelt Kopfzerbrechen bereiten. Ja, die Parallelwelt zerbricht unseren Kopf. Dieser Welt, die um so viel großzügiger, freier, unbeschwerter, mutiger ist als unsere Welt, trauen wir nicht. Mühsam haben wir unserer Welt uns erschlossen (und erschließen sie uns immer noch), da können wir keine Parallelwelt brauchen, die, wenn sie lustig ist, unsere Sicherheiten umwirft und umkehrt, in der die Kinder glauben, was sie wollen und von ihrem eben Geglaubten wieder abfallen, wann immer es ihnen passt. Wir blicken schon gerne hinüber in die Parallelwelt, in der der Stuhl sein Stuhlsein verlieren kann, aber noch lieber kehren wir in unserer Welt zurück (in der wir sicher sind, dass der Stuhl, auf den wir uns gleich setzen werden, uns trägt und nicht etwa gleich zum Mond schießt). Und wir sehen auch, dass das Spiel unserer Kinder (ist es ein Spiel, woher genau wissen wir das?) sich an unser Tun anlehnt. Dass die Kinder reisen und bauen und kaufen und erkranken und gesunden und Babys herumtragen und zur Schule gehen und in die Arbeit. Es mag so sein, dass sie sich im Spiel, in Nachahmung sich (unsere) Welt aneignen, doch wenn wir uns an unseren alten Meister (das weise Baby) erinnern, dann fällt uns auf, dass wir auch hier unsere Blickrichtung umdrehen können (ja, müssen, wollen wir lebendig bleiben). Was wir in der Parallelwelt sehen, ist die Illustration und Verdeutlichung unseres Reiches, aber noch vielmehr ermöglicht uns der Blick dorthinein, dorthinüber eine Erinnerung an den Reichtum und auf die Freiheit der Gestaltung des Lebens, der uns wehmütig an unseren Verlust von beidem denken lässt. Vielleicht ist es wie bei den Hunden und deren Verhältnis zum Menschen. Sagt man nicht, der Hund verstehe den Menschen weit besser, als der Mensch den Hund? Verstehen uns die Kinder nicht viel besser als wir sie? Bemühen sie sich nicht viel mehr unserer Welt zu verstehen (ja, morgens müssen wir uns anziehen und dann müssen wir los, spätestens um viertel vor acht, ja, ja, so ist es wohl) als umgekehrt? Und es ist ihnen kein Problem in ihrer Parallelwelt zu bleiben und leicht zwischen den Welten hin und her zu switchen, was uns gar nicht leichtfällt, was uns immer Mühe macht. Mama! Das ist ein Switchruf. Die Kinder können die Welten wechseln, zwischen ihnen hin und herspringen, weil sie diesen Ruf in sich tragen und ihn bei Verlangen ausstoßen, ohne dass sie jemand daran hindern könnte (würdest du manchmal gerne Mama! rufen? Ich schon). Mama!: das ist auch ein Weckruf, der uns aufweckt (und auch uns Väter mit dem ganz anderen und doch so ähnlichem Papa!ruf – manchmal ruft unser Sohn, obwohl du fort bist, seinem Vater Mama! zu und bemerkt kaum seinen Irrtum und ich als Ungerufener verstehe diesen Ruf sofort und folge ihm), der uns rät, uns hinüberzuwenden in die Parallelwelt, uns dorthin zu neigen (einer Neigung zu folgen, die höchst gezähmt in uns schlummert, ach wie gerne würden wir die Dinge verwandeln!), wo die Freiheit noch frei ist, sich ihrer selbst zu gefallen. (Oder wir beginnen damit, ersteinmal die Schuhe und die Socken auszuziehen und barfuß zu laufen. Wie die Geigerin Patricia Kopatchinskaja, die uns beide jüngst mit ihrem Spiel entzückt hat. Mit ihrem Barfußspiel und dem wallenden weißen Kleid. Mit den Bewegungen beim Spiel, die so plötzlich sie sich drehen ließen oder fester mit den bloßen Füßen den Boden suchen. Und dann noch Schönbergs Violinkonzert. Schönberg: der Name klingt wie eine Chiffre, wie etwas Verzaubertes und wie eine Täuschung. Schönberg: das ist komplizierte Musik, Kopfmusik, Herausforderungsmusik, totale Erwachsenenmusik. Aber an diesem Abend mit Patricia Kopatchinskaja ist Schönberg Musik aus der Parallelwelt. Wo alles alles andere sein kann. Wo ein Spiel ernst ist ohne das Vergnügen zu verlieren. Höchst lebendige Musik, die die Empfindungen des Hörers springen lässt. Und seinen Verstand Freude finden an der Verknotung. Und ebenso an der Entknotung. We need to remember us as we were as children, sagt die Geigerin: pure and daring. Mama! Kein Ruf klingt reiner. Ist das nicht verwegen?)