Das erste Jahr Babybuddha jetzt auf:

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Wir wachsen.

Und ich werde größer und größer! Du kannst nichts tun dagegen, auch nichts dafür. Es ist so. Ich kann auch nichts tun, ich werde größer und größer, ob ich will oder nicht will. Oh, ja, doch, ich will. – Bisweilen können wir unseren Sohn mühelos lesen. Es ist gerade so, als stände es auf ihm geschrieben. Jetzt, mit sechs Jahren, erscheint diese neue Schrift auf ihm, augenfällig und ihr Inhalt entspricht durchaus unserer Wahrnehmung. (Es ist schade, dass das Wachstum eines Tages aufhört oder sich komplett nach innen verlagert oder aber versiegt im schlimmsten Fall.) (Oder unendlich weitergeht im besten Fall? – Du schüttelst den Kopf.) Unser Sohn (dein Sohn, mein Sohn) ist ein richtig großer Junge geworden, ein Kind, das in die Schulreife hineinwächst und schon hineingewachsen ist. Das Gesicht hat das Mondenhafte verloren, der Hals hat sich gestreckt, Hände und Füße sind keine Patschhände und Patschfüße mehr. In den Händen findet sich ein gesteigertes Interesse wieder, das Angreifen ist zugleich Begreifen, Suchen und Erkennen. Die Hand sieht (und manchmal denken wir, unsere Hände sollten sich öfter im Sehen üben). Ich weiß gar nicht, was das mit dem Körper alles zu bedeuten hat, sagt unser Sohn zu mir als wir auf unserem Rundweg an der Station der Festungsbahn vorüber gehen. Er läuft ein Stück vor mir und hat die Hände ausgebreitet, die Handflächen nach oben geöffnet. (Irgendjemand aus der Menge der Touristen, die sich lose vor dem Kassenhäuschen drängeln, lächelt über uns, über unseren Sohn zumindest. Das Lächeln löst sich von den Lippen einer Japanerin, die eine sehr dicke weiße Wollmütze auf dem Kopf trägt.) Da ich es auch nicht weiß – was das mit dem Körper alles zu bedeuten hat? – und die Worte des Kindes keine Frage an mich waren, schweige ich und denke selbst darüber nach. Was hat das mit dem Körper alles zu bedeuten? Nein, ich denke nicht darüber nach, ich folge der Schwingung der Frage, so wie ich hinter unserem Sohn hinterhergehe. Unser großer Sohn denkt jetzt und scheut sich nicht die größten Fragen anzusprechen, die er selbst nicht als die größten bezeichnen würde. Die Fragen kommen von selbst und sind doch gedacht. Aber sind es überhaupt Fragen? Der Kopf unseres Sohnes folgt noch ganz dem zufälligen Auftauchen der Gedanken. Zugleich scheint jemand mitzudenken. Der Körper? Alles kann von Interesse sein. Der Getränkehändler gegenüber trägt einen Kapuzenpulli mit einer durchgehenden Bauchtasche. Unser Sohn bemerkt es und sagt dem Verkäufer, er habe auch so einen Pullover. Er öffnet seinen Anorak und zeigt, wie seine rechte Hand auf die gegenüberliegende Seite der Tasche durchgreifen kann. Ja, sagt der Verkäufer, verblüfft über die deutliche Ansprache des Themas Kleidungsähnlichkeit. Aber dein Pullover hat Punkte, sagt unser Sohn. Und meiner ist weiß, deiner blau, antwortet der Mann mit dem wir lose bekannt sind. Ein gutes, kurzes Gespräch über Kleidung: Nachdenken über Kleidung, über die Unterschiede und Gemeinsamkeiten. Und, anders als in unserem Denken, worüber nachgedacht wird, das wird sogleich ausgesprochen. Das ungehemmte, kindliche Denken kann nicht warten (wie unser gehemmtes Denken, dass immer wartet und aufschiebt und zurückgreift und vorgreift, nicht selten bis es sich der Gedanke aufgelöst hat). Warum kann unser Sohn das? Einfach so losreden? Es kommt uns nicht vor wie eine kindliche Schwäche, sondern wie eine menschliche Stärke. Der direkte Weg zu den Menschen, auf dem konstatiert, aber nicht geurteilt wird. Deswegen nennen wir ihn einen großen Jungen. Das Baby, unser Meister ist jetzt – im großen Jungen – gleichsam selbst aktiv geworden. Die Fragen an uns müssen gestellt werden. Ohne Verzögerung (meistens, es gibt Ausnahmen) und auf dem direkten Weg. Die wichtigen Angelegenheiten (alle Angelegenheiten sind wichtig) müssen geklärt werden. Am besten im Augenblick ihres Auftauchens. Das bezeugt die Größe unseres Sohnes (einer Größe, an die wir selbst, ehrlicherweise, kaum mehr hinreichen – insofern sind wir geschrumpft). Das Wachstum drückt sich unverwandt aus in dieser Fähigkeit, nicht nur in die Welt hineinzusprechen, sondern die Welt direkt anzusprechen (vielleicht ist sie auch eine Art, aus der Welt selbst herauszusprechen, sie zum Sprechen zu bringen. Unsere Stimmen sind weniger geeignet dies anzuregen, denn sie sind etwas verstimmt mit den Jahren, brüchig, ein bißchen vermodert). Sind wir gut drauf, dann ringen wir nicht so sehr mit Antworten, dann wollen wir die gestellten Fragen nicht so sehr verstehen, dass wir sie schlüssig beantworten (das auch, schon, schon), nein, dann lassen wir uns mitnehmen und verzaubern von der Unmittelbarkeit der Gedanken und Fragen unseres Kindes und versuchen diese Unmittelbarkeit nicht in der Maßlosigkeit des Kindes, sondern im richtigen Maß für uns, als Hintergrundschwingung unseres Tuns und Redens geradezu zu imitieren. Ja, nicht nur unser Sohn ahmt uns nach, auch wir ahmen unseren Sohn nach. (Würde es Sinn machen, wenn Eltern nichts von ihren Kindern lernen würden? Was meinst du? Was hast du von deinem Sohn gelernt? – Du lässt dir Zeit mit der Antwort. Dann sagst du: Zeit und Gerechtigkeit. – Große Dinge, sage ich. – Große Dinge, sagts du. – Jetzt aber üben wir Flöte. Der große Junge kann jetzt ein hohes e blasen und es klappt zunehmend besser mit den Achtelnoten. Der Zungenschlag klappt gut. Spielst du Backe, backe Kuchen? – Nein! Ist ein Mann in‘ Brunen g’falln! – Viel später, der große Junge schläft längst, sagst du: Ich habe noch etwas gelernt von unserem Sohn. Die Wichtigkeit der richtigen Reihenfolge. Ich dachte, ich hätte darüber längst alles gewußt, aber das stimmt nicht. Nicht dass ich nicht wüsste, dass die Reihenfolge beachtet werden muss, aber jetzt weiß ich, dass sie wichtig ist für das Innere, das Wachstum. Groß kann ein Kind nur werden, wenn es beim Wachstum nicht in der Reihenfolge gestört wird. – Du schläfst zuerst ein, dann ich.)