Das erste Jahr Babybuddha jetzt auf:
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Warum?
Warum tun wir, was wir tun? Warum ist etwas so, wie es ist? Unser Sohn ist in der Warum-Welt angekommen (wirklich? Manchmal schimmert eine unschuldige Ironie durch seine Fragen, eine Nüchternheit und Interesselosigkeit, die uns an der Ernsthaftigkeit seines Fragens zweifeln lässt; oder sie so übersteigert, dass wir, die im Grunde Antwortlosen, uns hilflos fühlen). Papa, warum schneidest du die Banane auseinander? Warum gehst du jetzt ins Wohnzimmer? Warum ist der Eiswürfel kalt? (Manchmal holt er sich einen aus dem Tiefkühlfach und wirft ihn in sein Wasser, fischt ihn, angerundet und glasig geworden bald wieder heraus, um ihn sich in den Mund zu stecken und dann in die Backe zu schieben.) Ja, warum ist alles so, wie es ist und warum tun wir, was wir tun? Wir geben Antwort, redlich, unredlich, ehrlich, fantasierend. Unser Sohn scheint zu glauben, wir wüssten alles. Nein, er testet nur, was wir alles nicht wissen. Nein, er übt bloß das Fragen. Nein, sein Fragen ist ihm notwendig wie jeder Atemzug. Und darin und dabei gibt es keine Mäßigung. Manchmal kommt uns das Fragen wie das Dasein selbst vor. Wir sind Fragende, ewig Fragende. Fragt unser Sohn im Außen, so haben wir (du, ich) längst zur Gewohnheit gefunden, im Inneren zu fragen. Ist unser Herz nicht in Wahrheit ein Fragezeichen? Und trägt unser Sohn es nicht auf der Zunge? Irgendwann sind wir zu heimlichen Menschen geworden, die sich bedenken, bevor sie fragen, wie wir jede Frage lieber aus einer Überlegung herauswachsen lassen und weniger aus der Spontaneität zu stellen gewohnt sind. Ist das Fragen unseres Kindes überhaupt verwandt mit unserem eigenen Fragen? Ist es nicht ganz anders, wenn man einfach fragt, wie es kommt? Nicht denkt, nicht sinniert, nicht innehält, nicht wartet? Wenn man die Frage sich selbst stellen lässt. So kommt uns unser Sohn vor. Er sieht etwas und zwischen dem Sehen dieses Etwas und dem Entstehen der Frage scheint keine Zeit vergangen zu sein. Oder ist doch eine Zeit vergangen, so diente diese Zeit nicht dem Überlegen, sondern allein dem weiteren Anschauen. Die Frage ist so eng verbunden mit dem Ding oder der Sache, die sie hervorkitzeln, dass wir glauben, dass eigentlich das Ding oder die Sache die Frage stellt und sich dabei des Kindermundes bedient. So spricht unser Kind aus dem Innersten des Dings oder der Sache heraus, als wäre die Frage ein Gedanke, den das Ding oder die Sache selbst gerade gefasst hätte. Nicht vorstellbar, dass Dinge und oder Sachen fraglos und unbefragt in der Welt sein könnten. Alles, ausnahmslos alles, lässt das Fragen entstehen, würde es das nicht tun, existierte es nicht. Warum liest du dieses Buch, Papa? Unser Sohn bringt das Buch (trägt es wie ein Tablett) aus dem Flur (wo es liegengeblieben ist) ins Wohnzimmer. Die Antwort fällt mir leicht, sie ist ehrlich, einfach, klar: Weil es mir ein guter Freund empfohlen hat. Kurzes Nachdenken, dann die Frage: Und warum liest du es? Soll ich meine Antwort wiederholen? Geht nicht, schon hat mich die erneute Frage infiziert. Warum lese ich dieses Buch, hundertdreißig Seiten lang bereits, und werde es auch zu Ende lesen? Es trägt den Titel: Das Buch vom Es. Der Verfasser Georg Groddeck beschreibt darin in fiktiven Briefen an eine Freundin, dass wir Menschen nicht von unserem Bewusstsein durchs Leben geführt und gelenkt werden, sondern vom Es, einer großen unbewussten Macht. Einer ebenso witzigen wie sonderbaren wie hemmungslosen Macht, die einigen Schrecken zu verbreiten in der Lage ist. Es ist sehr interessant, antworte ich unserem Sohn und betone das Es am Anfang mit einem in die Länge gedehnten E. Wie heißt das Buch? Ich antworte korrekt. Was ist Es? Fast hätte ich irgend so etwas geantwortet: Das, was du mehr als ich bist, dem du näher stehst als ich, das du viel besser verstehst als ich. Es: das ist bei Groddeck die Kraft, von der wir gelebt werden. Wir leben nicht selbst (wie wir denken und glauben und hoffen), sondern durch ein Drittes, das größer und weit mächtiger ist als wir es je sein könnten. Blicke ich auf meinen Sohn, dem ein Warum auf den Lippen klebt, das sich gleich lösen und zu mir eilen wird, so kommt mir vor, als würde ein Es vor mir stehen, als könnte ich ein Es entdecken, erblicken, deutlich sehen, und damit genau das sehen, was eben nicht und auf keinen Fall sichtbar ist in unserer treu in Sichtbares und Unsichtbares eingeteilten Welt. Unser Kind, ein Es (hier schillert der Meister durch, Babybuddha, der sich soweit zurückgezogen hat, hinter das Ich, durch all das kindliche Ichgeschrei in die Verborgenheit geraten; bist du auch dieser Ansicht, du siehst aus, als würdest du befürchten, solche Gedanken könnten dein Kind zum Verschwinden bringen? Nein? Du schüttelst den Kopf). Ein Es: wie wunderbar. Bei Groddeck heißt es: „Das Leben beginnt mit dem Kindsein und geht auf tausend Wegen durch das Mannesalter hin nach dem einen Ziel, wieder Kind zu werden, und nur der einzige Unterschied ist zwischen den Menschen, ob sie kindisch werden oder kindlich.“ Ich möchte glauben, dass wir (du, ich) uns zu einem Es zurückentwickeln, zu einer Kindlichkeit, die uns (unser Es) sichtbarer werden lässt, als wir es heute sind. Es könnte sich dann das Geheimnis der Warum-Frage offenbaren, die vielmehr als zum Ich frage zum Es fragt zu gehören scheint und wenn wir das Es fragt als das eigentliche Fragen betrachten sollen, könnte in ihm der Schlüssel zur Erkenntnis der Dinge und Sachen liegen. Eine Art Euphorie ergreift mich (und ein wenig auch dich). Eine Stille, die das Gedachte unausgesprochen bewahren und behüten möchte. In diese Stille bohrt sich eine Frage. Eine Warum-Frage. Warum antwortest du nicht, Papa? fragt unser Sohn (und klatscht dabei in die Hände).