Das vierte Jahr

Das erste Jahr Babybuddha jetzt auf:

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Der erwachende Geist ist der verschwindende Geist

 

Die Kinderhand, die die Erwachsenenhand hält, greift fest zu, immer fester, deutlicher, entschiedener (wieviel anders als die langsam vergangene Babyhand, Meisterhand. Der Griff des Babys war weich, sanft, wie nebenbei, ungezielt, konnte aber auch so hart zupacken wie ein Gott, der niemandem neben sich etwas zum Anfassen übrig lässt). Ein Kind ist unser Kind geworden, ein kleines Kind, das manchmal ganz groß erscheint, und dessen Hände (wie auch seine Füße) auch sprechen, wenn sein Mund schweigt. Die Hand beschäftigt sich gern und wird gern beschäftigt. Sie ist nicht der Gehilfe des Auges (das auch), denn sie scheint selbst zu sehen, zu erahnen, zu sondieren, was sie umgibt und in ihrer Nähe auftaucht. Manchmal ist sie die Hand des Schöpfergottes, der vergessen hat, wie das, was er in die Welt gebracht hat, funktioniert. Durchaus mit Zorn und Gewalt nähert sie sich den Dingen (und auch den Menschen), um sie auf ihre Stabilität, ihre Ausdauer und ihren Widerstand hin zu prüfen. Wann brichst du Ding, wie brichst du, wodurch? Untersuchen heißt (nicht notgedrungen) zerstören. Zu verstehen, wozu ein Ding nützt und wie es das anstellt, ist gut, besser ist, ihm seine Endlichkeit klarzumachen. Zurück bleibt das funktionsunfähige, zerstörte, zertrümmerte Ding, wie ein verblüffter Mensch, der gerade erfahren hat, dass alles, was er über eine bestimmte Sache gedacht hat, falsch ist. Dem Ding sein Wesen zu rauben, heißt aber nicht, es zum Müll zu machen. Gerade die zerstörten Dinge entpuppen sich als wundersame Gegenstände, die dem Zwang zu ihrer Funktion entledigt, sich endlich einmal ausleben und endlich einmal in unvertrauten Funktionen versuchen dürfen. Dank an die wilde, rege, kräftige Kinderhand! Am Abend, kurz vor dem Zähneputzen, betrachtet unser Sohn seine Hand in dem länglichen Klappspiegel, dessen Herkunft sich weder du noch ich erkären kann und auch nicht, warum er im Badezimmer herumliegt (Dinge wandern, es ist unbekannt, wie sie das machen). Nach einiger Zeit, in der unser Sohn mit verschiedenen Abständen das Sichentfernen und Näherkommen (oder etwas ganz anderes) seiner gespiegelten Hand beobachtet hat, legt er die Hand schließlich auf den Spiegel, dreht den Spiegel um und scheint zu schauen, ob die Hand auch auf der anderen Seite des Spiegels auftaucht. Kurz glaube ich seinem Gesicht eine Verwunderung und leichte Enttäuschung abzulesen, dass etwas nicht eintritt, das früher doch eingetreten ist, oder von dem er vermutet, es sei früher ganz bestimmt eingetreten. Früher: als die Dinge noch durchlässig waren, früher: als die Augen noch durch alle Dinge hindurchsehen konnten. Doch der Geist ist wach, zu wach schon, als dass die ersten und größten Wunder noch länger bleiben könnten. Der Hand unseres Kindes und damit ihm selbst wird klar, ein Spiegel ist kein Loch, keine Öffnung, hat keine Tiefe, auch wenn es so scheint. Jetzt ist der Spiegel ein Rätsel, die spiegellose Zeit ist vorüber, die Gleichgültigkeit dem Spiegel gegenüber verschwunden. Der Spiegel hat die Macht übernommen, ab jetzt wird er das Bewusstsein immer wieder und immer wieder auf die gleiche dominante Weise beschäftigen. (Im auf zwei Seiten verspiegelten Aufzug in der schönen Stadt, auf den Mönchsberg hinauf, treibt es der Spiegel besonders toll. Wir drei werden gespiegelt gespiegelt gespiegelt. Das ist witzig, aber die undeutliche, leicht gebogene Unendlichkeit der Spiegelung macht den Witz unheimlich und unangenehm und unser Sohn hat wenig Lust, diesem Spiegelspiel länger als nötig zuzusehen. Raus aus der doppelt verspiegelten Aufzugswelt!) Der Spiegel, oh ja! Wir tragen ihn in uns. Beide Hände hebt unser Kind kurz in die Höhe und stellt sie sich gegenüber (wie Spiegelbilder), aber irgendetwas lässt ihn einen Gedanken (falls er ihn wirklich schon gefasst hat) schnell wieder abbrechen. Ein Gedanke zu groß für seinen Geist, man könnte aber auch sagen, ein Gedanke zu klein für seinen noch großen Geist: der Spiegel ist durchaus ein Repräsentant der Enge, indem er den Ball, das Bild (wenigstens nicht das Wort), das man ihm zuwirft, gleich wieder zurückwirft. Vielleicht ein Grund, weshalb unser Sohn so gerne und unter sich steigernder Wucht mit der Hand auf den Spiegel im Flur schlägt (was natürlich verboten ist): Der Spiegel ist ein blödes Ding, die Hand mag keine blöden Dinger. Ebenso ist der Spiegel ein Repräsentant der Ambivalenz und fordert immerzu auf in die Falle der eigenen Eitelkeit zu tapsen – ein weiterer Grund auf ihn einzuschlagen (Eitelkeit liegt unserem Sohn noch fern, seine Freude am Schönen ist ungetrübt und widersteht der Überprüfung und Vorhaltung in einem blöden Glas). Saul Bellow schreibt: Der Tod ist die dunkle Schicht, die ein Spiegel braucht, damit wir etwas sehen. Den Tod aber wie wir ihn kennen (oder zu kennen glauben), lehnt unser Kind ab. Was und wem das Baby nahestand, ist in weite Ferne gerückt. Der Tod gehört dazu. Redet unser Kind von ihm, so ist es ein unbeschwerter Versuch, wie es ihn mit zahllosen anderen Dingen unternimmt. Der Tod ist nichts Besonderes. Einer unter vielen, eines unter vielen. Auch insofern ist der Spiegel (Bellows Bemerkung im Ohr) eine Zumutung, aufdringlich und überwältigend. Armer verschwindender Anfängergeist, den der erwachende Geist verdrängt. Ich habe mich heute schick angezogen, sagt unser Sohn, aber statt eines bestätigenden Blicks in den Spiegel wendet er sich damit einem anderen Kindergartenkind zu, und dann zuhause auch uns. Das andere Kind, wir sind ebenfalls Spiegel, aber wir verbergen es sehr gut und noch besser die dunkle Schicht des Todes. Ja, du hast dich schick angezogen, antworten wir und merken wie die nichtambivalente Kinderhand uns entschlossen ins Kinderzimmer zieht, um uns zum spielen zu verführen. Noch ist nichts entschieden, obwohl alles entschieden ist. Dem Spiegel entkommt kein Wesen und die Frage wird sein, wie stark wird die Erinnerung an den verschwindenden Geist möglich sein, ohne den erwachenden Geist zu sehr einzuschränken. Im Innern ist bei allem Geschöpf die gleiche warme Finsternis, heißt es bei Hans Henny Jahnn. Im Dunkeln kann sich nichts spiegeln. Das Dunkel ist groß und warm wie eine Kinderseele. Unendlich und geborgen. So sehen wir das. Und uns. In unserem Kind.