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Dann trägt jemand anderer mein Kind durch die Wohnung, ein wohlgelittener Besucher, ein Gast, ein Freund, selbst erfahrener Vater von drei schon älteren Kindern. Sofort fließt Eifersucht durch mein Herz, so plötzlich, als stünde ich unter Schock. Und mein Freund trägt weiter mein Kind herum, hat mich (den leiblichen Vater!) vergessen, berauscht vom Glück, einmal wieder ein Baby in den Armen zu halten. Auch mein Baby hat mich vergessen, lässt sich den fremden Mann gefallen, als wäre er kein Fremder (wo könnte das hinführen, denke ich entsetzt). Als ich nach ewiger Zeit mein Kind zurück bekomme, der Freund sich verabschiedet und wir beide (das Baby und ich) wieder allein sind, spült mir eine milde Scham die Eifersucht aus den Adern. Ich stimme mit dem Baby überein: wir werden diesen Tag komplett vergessen.

Then someone else is carrying my child around the apartment, a well-liked visitor, a guest, a friend, himself an experienced father of three older children. Jealousy floods my heart, so suddenly, I might as well call it a state of shock. And my friend keeps carrying my child around and has forgotten me (the biological father), intoxicated by the pleasure of cradling a baby again. My baby too has forgotten me, accepts being carried by the strange man as if he were not a stranger (where could this lead, I think, terrified). After an eternity, with my child in my arms, after my friend has left and the two of us (the baby and I) are alone again, a mild shame flushes the jealousy out of my veins. I agree with my baby: we will completely forget this day.

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Das Baby lernt von allein. Es braucht unsere Unterstützung nicht (eine Kränkung, die wir uns nicht nur, weil sie keine ist, verbieten müssen: sie würde uns in die Irre führen). Folgt unser Baby einem Plan? Fast scheint es so (unsere Pläne kommen uns, verglichen mit seinem einen, konfus vor). Wenn wir denken, es könnte dies oder das noch nicht, ist es am augenfälligsten (wenn unsere Augen auf der Höhe ihrer Fähigkeiten sehen): es kann nur, was es kann. Was es nicht kann, lernt es von allein.

The baby learns by himself. He does not need our assistance (a slight we refuse to countenance, not only because it is not a slight but because it would lead us astray). Is our baby following a plan? It almost seems that way (our plans, compared to his single plan, seem confused). When we think, he could do this but not yet that, it becomes most obvious (when our eyes are at the  height of their capacity): He can only do what he can. What he can’t do, he learns by himself.

88

Das Blau des Himmels ist bis zu den Grenzen seiner Sichtbarkeit hin gleichmäßig. Nicht eine Nuance. Eine kleine Wolke steht am Himmel. Der Himmel ist eine Fläche, die Wolke ein Raum. Berühren sie sich? So ist das Baby, denken wir, diese Wolke an diesem Himmel. Das Blau des Himmels allein lässt uns sehend blind sein. Die Wolke, denken wir, alles (dass wir sehen, was wir sehen) muss an der Wolke liegen, die etwas vom Himmel verdeckt, ohne ihn zu berühren.

The sky is evenly blue all the way to the edge of its visibility. Not a single nuance. A small cloud stands in the sky. The sky is a plane, the cloud a space. How do they manage to touch? That is how the baby is, we think, these clouds in this sky. The blue of the sky alone makes us blind even as we see. The cloud, we think, everything (that we see) must be due to the cloud that is covering part of the sky

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Am Abend will der Schlaf sich nicht einstellen. Alles ist ihm bereitet. Der Hunger gestillt, das Licht gedämpft, Ruhe im Haus. Kein Schlaf. Aber keine Aufregung, bloß wach sein. Wir warten (du, ich). Das Baby wartet nicht. Es ist wach. Müde, aber wach. Fehlt noch jemand? Nein. Es dauert. Wir werden müde, müder als das Baby. Jedenfalls ist der Schlaf einer, der nicht alle auf einmal überfällt, denken wir mit schweren Lidern. Das Baby: weiterhin wach. Ruhig. Wir hören seinen Atem kaum. Wir atmen im gleichen Rhythmus, denken wir und schlafen ein (das letzte, das wir bemerkt haben, bevor wir eingeschlafen sind, war unser Einschlafen). Als wir kurz aufwachen, schläft unser Baby. Es hat uns in den Schlaf begleitet. Um dann heimlich einzuschlafen. Um allein einzuschlafen. Wir sind zu müde, darüber nachzudenken. Wir schlafen weiter (du, ich, das Baby).

It’s evening, and sleep refuses to come. Conditions couldn’t be more favorable. Our hunger is sated, the lights are dimmed, the house is quiet. No sleep. No excitement either, just lying there awake. We wait (you, I). The baby does not wait. He is awake. Sleepy, but awake. Is someone still missing? No. It takes time. We get sleepy, sleepier than the baby. Anyway, sleep doesn’t mug everyone at the same time, we think with heavy lids. The baby: still awake. Calm. We can hardly hear his breath. We breathe in the same rhythm, we think, and fall asleep (the last thing we noticed before falling asleep was our falling asleep). When we awaken briefly, our baby is sleeping. He accompanied us into sleep. So as to fall asleep then, in secret to fall asleep alone. We are too tired to think about it. We go on sleeping (you, me, the baby).

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Jeden Tag das gleiche Baby. Zweifel sind ausgeschlossen, unser Baby ist auch heute wieder unser Baby. Wir erkennen es ohne Mühe wieder. So fremd uns oft sein Wesen – oder wie sonst sollen wir es nennen? – vorkommt, so vertraut ist uns sein Körper. Der gleiche Körper wie gestern. Der gleiche Körper. Im nächsten Moment ist er uns fremd. Ein neuer Körper. Klein, fest, glatt, weich. (Nebenbei ein Wunder: er macht das Zimmer, das sein Zuhause ist, nicht voller). Wir dienen ihm, bewundern ihn, beten ihn an (manchmal merken wir, dass wir es tun). Jetzt, unter der Pflege unserer Hände, gibt der Körper sein Wesen preis: jeden Tag aufs Neue das gleiche Baby.

Every day the same baby. Doubts are out of the question; our baby is the same baby again today. We recognize him without effort. There are moments when his nature – what else should we call it? – feels foreign to us, but his body is always familiar. The same body as yesterday. The same body. The next moment it is no longer familiar. A new body. Small, firm, smooth, soft. (And, incidentally, a miracle: He does not make the room, which is his home, any fuller.) We serve him, admire him, adore him (sometimes we notice ourselves doing that). Now, under the fostering care of our hands, his body reveals its nature: every day the same baby anew.

85

Wir vertrauen dem eigenen Pathos mehr und mehr. Allmählich wird die Schamlosigkeit zu unserer größten Tugend. Das Baby gibt uns die Freiheit, ohne Selbstbeschränkung (im Denken, im Fühlen) auf die Welt zu blicken. Der zögerliche, zaudernde Mensch hat ausgedient (wollen wir uns selbst überschätzen, tun wir es). Wir bremsen uns nicht in dem natürlichen Drang uns innerlich wie äußerlich (wer kennt schon den genauen Unterschied?) zu verausgaben. Dies alles nur, weil wir die herrliche Unfähigkeit des Babys zur Eitelkeit nachahmen, indem wir mit der gleichen anmutigen, betörenden, charmanten Unklugheit durch alles und jeden hindurchsehen.

We trust our own pathos more and more. Gradually shamelessness becomes our greatest virtue. The baby gives us the freedom to view the world without limiting ourselves (in thought, in feeling). The hesitant, halting person has served his time (if we want to overestimate ourselves, we do so). We do not restrain the natural urge to expend ourselves fully, both inwardly and outwardly (who can tell the precise difference?). And all this merely because we imitate the baby’s glorious incapacity for vanity by seeing through everything and everyone with the same graceful, enchanting, charming foolishness.

84

Dass wir selbst uns nicht an unsere Babyzeit erinnern können (unglaublich!), lässt uns nicht in Frieden. Wohlwollende Unruhe überfällt uns: dass wir glauben, uns nicht an unsere Babyzeit erinnern zu können – damit sollen, müssen, können, dürfen wir uns nicht begnügen! Ja, doch, wir erinnern uns. Im Baby erinnern wir uns an uns selbst (Erinnerung ist nicht an uns gebunden, unsere eigene Erinnerung ist frei von uns). Jetzt (dem Gezappel des Baby folgend) erinnern wir uns an uns selbst (unser eigenes Gezappel). Der Mangel an Erinnerung ist keine Dunkelheit, in die wir nun Licht bringen. Es ist einfach da, dieses Dahinter, Zuvor, Ehemals. Wir müssen nicht weit weit zurückgehen: worin sonst sollte der Sinn des dasein bestehen? (Einfache Formel: erinnern ist da sein. Schon spüren wir das Strampeln und Zappeln und Wackeln unserer Füße unvergangen.)

That we ourselves cannot remember our infancy (unbelievable) is a source of recurrent unease. A benevolent disquiet seizes hold of us: That we believe we can’t remember being a baby – this is something we should not, must not, cannot accept! Yes, of course, we remember. In the baby we remember ourselves (memory is not bound to ourselves, our own memory is free of us). Now (following the baby’s wriggling) we remember ourselves (our own wriggling). The lack of memory is not a darkness into which we now bring light. It is simply there, behind, earlier, before. We don’t have to go way way back: What else would be the meaning of Dasein, of being-there? (A simple formula: To remember is to exist. Already we feel the kicking and wriggling and wobbling of our feet, nothing bygone about it.)

83

Mit dem Baby musst du nichts Anderes mehr erleben. Dein Zweifel an der Welt fällt in sich zusammen. In diese süße Falle kannst du getrost tappen. Sie fängt dich ein, ohne dich an allem Weiteren zu hindern. Eine Falle, die zu dir spricht: ich hab dich, geb dich nicht wieder her, nun geh deiner Wege! (Die füllige Weichheit des entzückenden Babyblicks, weit die Augen überfließend, ist sie nicht nichts als Verheißung?)

With the baby you don’t have to experience anything else. Your doubt in the world collapses. You can safely blunder into this sweet trap. It catches you without hindering you in any way at all. A trap that speaks to you: I have you, don’t give yourself again, just go about your business! (The fulsome softness in that overbrimming glance, far beyond the eye’s capacity, is it anything but a hint of glory?)

82

Ohne Ziel vergeht unser Tag (ja, doch: wir haben Ziele. Tun und machen. Arbeit. Reden. All das schöne Zeug. Der Weltstoff). In der Ziellosigkeit lenkt uns das Baby nirgendwohin, irgendwohin (ja, doch: das Baby hat Ziele. Es macht uns längst nach und zwar mit Absicht. So gibt es uns die Gewissheit, unser Tun hat einen, seinen Sinn). Wir stellen uns vor: das Baby macht uns nicht nach. Sofort verzweifeln wir.

Without aim, our day goes by (yes, of course: we do have goals. Doing and making. Work. Talking. All that nice stuff. The stuff of the world). In its aimlessness the baby steers us nowhere, somewhere (yes, of course: the baby does have goals. He has been imitating us for quite a while, and quite intentionally. In this way he assures us that our activities have meaning: his meaning). We imagine: the baby is not imitating us. Immediately we feel desolate.

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Plötzlich sagt das Baby: ich habe dich und dich geboren, jeden von euch auf seine Art (schwer wiegt sein Kopf, als es Versuche unternimmt, sich mit den Unterarmen hochzudrücken. Seine Augen sind weit geöffnet und aus seinem Mund kommen abgehackte Laute der Anstrengung). Stolz denken wir: unser Baby ist das erste Baby, das spricht, bevor es sprechen kann. Aber – sehen wir sofort reumütig ein – das kann nicht sein!

Suddenly the baby says: I gave birth to you and you, each in his and her own way (his head hangs heavily as he tries to push himself up with his lower arms. His eyes are wide open, and chopped-off sounds of effort come from his mouth). Proudly we think: Our baby is the first baby that speaks before it can speak. But—we realize this ruefully right away—that can’t be the case!