Das vierte Jahr

Das erste Jahr Babybuddha jetzt auf:

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Neinmacht.

 

Nein! Das stärkste Wort unserer Sprache, das am häufigsten genutzte, das wichtigste Wort! Diese Erkenntnis verdanken wir dir, unserem Sohn. Erst durch unseren Jungen ist das Nein wirklich in unser Bewusstsein getreten. Nicht, dass wir es nicht häufig benutzt hätten, zur Feindesabwehr, zum Ausdruck von Empörung und Erstaunen, um unsere Entschlossenheit und unseren Willen kundzutun – aber dennoch ist uns die Dimension dieses Wortes, wohl auch durch seinen gewohnheitsmäßigen Gebrauch, entgangen. Seine Dimension als Baustein der Existenz. Mag das Leben auch mit einem großen Ja beginnen, das Nein ist Erzieher und Lehrmeister und Ichschöpfer. Und wir (du, ich, auch ein paar Andere) sind die notwendigen Statisten, die dem kindlichen Nein erst seine Wucht ermöglichen. Es hat eine Zeitlang gedauert, bis uns deutlich wurde, dass das Nein unseres Sohnes nur vordergründig uns meint, in Wahrheit aber ein selbstbezügliches Werkzeug ist, ebenso raffiniert wie rücksichtslos. Tatsächlich sind wir oft in die Falle getappt und tappen immer noch hinein, zu glauben, dass das Nein unseres Kindes wirklich uns gelte, sogar, dass es gegen uns gerichtet sein könnte, womöglich sogar absichtsvoll. Natürlich sind wir ins Neinsagespiel (aber es ist kein Spiel) tief verwickelt, denn wenn unser Vorschlag, heute die rote Hose anzuziehen, mit größter Vehemenz und geradezu empört abgelehnt wird, mit einem so schneidenden nein!, das keine Wiederholung braucht, um unmißverständlicher zu tönen, können wir leicht auf den Gedanken kommen, wir würden eine Hauptrolle in diesem Interjektionszauberzirkus spielen und dem Irrtum verfallen, die Stoßrichtung des Neins würde zu uns zeigen, uns meinen, uns (dich, mich), uns als Personen. Ja, es ist ein Zauberzirkus, denn wir sind gemeint, aber nur als Pappfiguren, und das gefällt uns gar nicht, wollen doch auch wir vollwertige Schauspieler sein, wenn wir schon auf der Elternkinderbühne Tag für Tag (und manchmal nachts) unsere Auftritte haben. Wir sind sozusagen Pappfiguren mit Substanz und unsere größte Aufgabe scheint zu sein, nicht auf uns selbst hereinzufallen. Das Kind braucht uns, wir sind die Wand gegen die es seinen Neinball donnert, wir müssen echten Widerstand bieten, ohne uns von der Echtheit verführen zu lassen, das situative Nein unseres Sohnes (nein, nicht dahin, dorthin oder nein, keine Nudeln) nur auf eben diese Situation hin zu interpretieren. Das Nein schafft den Raum für das Gelingen einer guten Beziehung zu unserem Sohn. Es gräbt Schneisen durch den Wald und das Gestrüpp ewiger Verwicklung. Hätten wir nicht unseren Körper, würden wir unsere Einzigartigkeit glatt vergessen. Was uns nicht alles kümmert und besorgt, wozu wir eine Meinung haben und ein Urteil fällen. Das wenigste nur geht uns etwas an und das vielleicht auch nichts. Wie wohltuend dieses kindliche, unverkrampfte, freimütige Nein, ein kühles Lüftchen in der Wüstenhitze des Allesineinem und Einerinallem und Eineinallem (du, ich – wir sind auf unterschiedlichen Gebieten empfänglich für das menschliche Durcheinander, aber das ist ein anders Thema). Unser Kind kühlt uns, indem es uns jeden Tag mit Neins bombardiert, ohne den Verlust unserer Liebe zu fürchten. Auf so eine Idee kommt es nicht, wenn das Nein sein Ich bildhauert. Es ist furchtlos, ohne Angst, mutiger als mutig, verwegen und unnachgiebig: sein Nein spricht aus ihm, aus seiner Tiefe, die keine Überlegung kennt, die reiner Dienst am Leben ist. Das Nein verschafft unserem Kind einen Raum, seinen Raum, seinen eigenen Raum, in dem und durch den es zur Erscheinung drängt. Oh, ja, unser Kind erscheint uns! Diese Epiphanie verdankt sich dieser unnachgiebig wirkenden Neinkraft, die nun durchaus uns gilt, die wir mehr als jede andere Kraft benötigen, denn letztlich sind wir doch Ungläubige oder einfach schwer von Begriff. Auf, werde licht denn es kommt dein Licht / und die Herrlichkeit des Herrn geht leuchtend auf über dir heißt es im Buch des Propheten Jesaja – und tatsächlich geht uns ein Licht auf, wenn wir in unserem dauerneinsagenden Sohn den (fast schon alten) Meister entdecken, wiederentdecken, der uns in Staunen versetzt, indem er sich vor uns hinstellt (vielleicht im Neinsagen einen Schritt zurück tritt, um uns mehr Platz zum Schauen und Erkennen zu geben, der schlaue Kerl) und sich in all seiner Pracht offenbart. Kein Wunder, dass wir erschrecken. Dass wir erschrecken und – eine Folge des Erschreckens – das Nein unseres Kindes mißverstehen. Und wenn wir mißverstehen, beginnen wir zu denken und zu reimen, als würde uns die Reife fehlen diese tägliche Epiphanie zu ertragen, zu spüren, zu erleben. Dann wird das Nein zum Konflikt und die schöne Erscheinung zur inneren Leere. Aber jetzt, fragen wir uns, jetzt haben wir es verstanden? Haben wir, sagts du, haben wir, sage ich. Und wir stimmen ein: Das ist unser geliebter Sohn, an dem wir Gefallen gefunden habe. Nun geschieht das Wunder: das Nein (das von uns in seiner Wahrheit erkannte Nein) verwandelt sich. Aus dem Mund unseres Kindes tönt ein volles Ja (und sein Mund bleibt offen). Das ist unser Lohn.