DAS ZWEITE JAHR – 25

25

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Irgendeine Frau sagt irgendwo zu irgendeiner anderen Frau: Man muss doch nicht darauf verzichten, ein eigenes Leben zu führen, nur weil man ein Kind hat. Um ihr eigenes Leben will sie sich nun, da ihr Baby eineinhalb Jahre alt ist, verstärkt kümmern. Eigenes Leben – wie sie es ausspricht, klingt es wie eine Verheißung, wie das gelobte Land, das – vorrübergehend  – von den kriegerischen Truppen des Babys besetzt worden ist. Jetzt will sie es zurückerobern. Das eigene Leben: viel Schwärmerei liegt in diesem Ausdruck und ebensoviel Unklarheit. So, als könnte einen das eigene Baby dazu bringen, das eigene Leben zu verlieren und dazu zwingen, ein nicht eigenes Leben zu leben. Dieser Verlust schreit nach Erklärung. Wie kann man das Eigene, Eigenste, das man hat, das man selber ist, verlieren? Und wenn man es verloren hätte, was wäre man dann noch, was wäre man als nichteigenes Leben? Zugleich diese Sehnsucht, diese gewaltige, schwüle, leidenschaftliche Vorstellung, in das Eigene zurückzukehren, ins Paradies der Sichselbstgleichheit, wo alles in Ordnung ist, wo Glück und Eintracht herrschen, wo man sich sicher fühlt, wo es nichts zu verlieren gibt, wo der Hader ein Ende findet und der Zwiespalt sich schließt. (Man darf nicht unterschätzen, was irgendeine Frau irgendwo zu irgendeiner Frau sagt – es ist besser genauer als nur genau zuzuhören, denn was die eine Frau zur anderen sagt, das betrifft uns doch auch, oder hilft uns, zu überprüfen, was wir über das Eigene, das eigene Leben denken, wie entrückt, entfallen, gespalten wir uns vorkommen, du und ich.) Die Bemerkung der unbekannten Frau trifft uns zu einem Zeitpunkt im Sommer, da alle weg sind, verreist, ausgeflogen. Viele sind unterwegs mit ihrem Kind oder ihren Kindern. Auch die Babys verreisen schon. (Den Babys ist das Verreisen egal, solange das, was sie wollen und brauchen von ihren Eltern nicht übersehen wird, solange ihre Eltern nicht vergessen, dass sie, gleich wohin die Reise geht, Schüler ihres Babys sind und bleiben. Es ist die wundersame Möglichkeit des Babys, sich jeden Ort aneignen zu können, keine Fremde zu empfinden, auch dort, wohin wir verreisen, gleich wieder da zu sein – aber es ist schon nicht mehr ganz so vollkommen frei wie am Anfang, kleine Momente der Stille und des Zögerns verraten, dass die schnelle räumliche Veränderung unser Baby in rätselnden, staunenden Gedanken beschäftigt, dass die Bewegung selbst, hinten im Auto, auf dem Elternschoß im Zug, auf dem schwankenden Schiff ein bißchen fassbar geworden ist, dass der eine Raum, den das Baby so ganz und gar ausfüllte, sich gedehnt hat, größer wurde und weiter – aber sonderbar, – sich dadurch auch verkleinert hat; der Raum, der jetzt gleichsam mitreist, ist einer von vielen, ein kleiner, der uns umgibt, wo wir uns gerade befinden, der an uns klebt und im Laufe der Jahre immer mehr an uns klebt; vielleicht ist es so, dass unser Baby, anders als noch vor einem Jahr, vielmehr seinen eigenen Körper ausfüllt, ihn vielmehr bewohnt, dass ihm die Reise jetzt spürbar geworden ist, wie wir die Reise so deutlich spüren in der Wohnung unseres Körpers, die wir schon so lange unsere nennen.) Die Babys verreisen, die Kinder verreisen, die Familien verreisen – wir also auch. Wir wollen sehen, wie es ist, das eigene Leben irgendwo anders hinzutragen, in eine anderes Land und dabei zugleich unser Baby herumzuschleppen, gleich am ersten Tag, steile Steinstufen hinauf, weil es nicht selber laufen möchte, lieber in der Tragehilfe sitzt. Wir erinnern uns, wie es war, nur uns selbst im Urlaub steile Stufen nach oben geschleppt zu haben, nur uns getragen zu haben, einen kleinen Rucksack vielleicht noch. Und bald merken wir, jetzt, da wir drei (das Baby, du, ich) täglich ständig zusammen sind, den Schwund des eigenen Lebens mit plötzlicher Heftigkeit, dass wir einen Augenblick schon den Worten der unbekannten Frau, die sie irgendwo zu irgendeiner anderen unbekannten Frau gesprochen hat, glauben wollen. Aber glücklicherweise doch nur einen Augenblick. Erstens entdecken wir in unserer Unterkunft gute Bücher (überhaupt eine feine Sache, irgendwo in der Fremde unterzukommen, ohne eigene Bücher bei sich zu tragen, und dann dort in der uns überlassenen Wohnung die Bücher aus dem Regal zu ziehen und in ihnen zu blättern), zweitens rückt uns unser Baby gewissermaßen wieder zurecht, indem es mit einer neuen Geste der Umarmung seine kurzen Arme um unseren Nacken legt und uns zu sich zieht, als wollte es uns etwas ins Ohr flüstern (über das Eigene und Nichteigene). Also Witold Gombrowicz in seinen Tagebüchern über Camus: Camus nimmt, wie andere vor ihm, den Menschen aus der Masse, ja sogar aus dem Verkehr mit dem anderen Menschen heraus, um die einzelne Seele mit der Existenz zu konfrontieren – das sieht aus, als nähme er einen Fisch aus dem Wasser. Jetzt begreifen wir (während wir von oben auf den See blicken, auf ein tiefes Blau, das erstaunlich unkühl auf uns wirkt), dass die unbekannte Frau aus dem einfachen Grund irrt, weil sie das Eigene dort sucht, wo es kein Eigenes gibt, noch geben kann: in ihr selbst. Ein verführerischer Irrtum, denken wir (unser Baby wieder schulternd), dem wir fast erlegen wären, eine Irrtum, eine einfache Lösung auf dem durchaus beschwerlichen Familienweg. Wir sind im Urlaub – und jetzt gehen wir mit unserem Babyfisch hinunter zum großen See und schwimmen, wir alle drei, im sonnengewärmten Wasser, das jeden von uns gleichermaßen trägt als wären wir und hätten wir nichts Eigenes, auf das besonders geachtet werden müsste.

DAS ZWEITE JAHR – 24

24

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Draußen am See nach einer kleinen Wanderung, die unser Baby hauptsächlich auf dem Rücken seiner Eltern bestritt, genoß, sich nur zu gerne gefallen ließ (auf dem Rücken tragen ist weiterhin die schönste Art des Tragens. Die Kindertrage hat ein Sonnendach und Schlaufen für die Füße und ein Stirnpolster für die Müdigkeit. Bergauf lässt sich das Gewicht unseres Babys bald vergessen, während unsere Augen gierig nach reifen Himbeeren am Wegrand suchen, bergab aber macht das Baby sich extra schwer, lässt jedes seiner elf Kilo sich verdoppeln, verdreifachen, in unsere Kniee und Waden sinken, bis wir bald den Entschluß fassen, in Zukunft wollen wir mit unserem Baby nur bergauf laufen, nur noch bergauf). Die Wiesen am Seeufer sind gut belegt, es herrscht sommerliche Eintracht, man kommt sich nah, aber es wird nicht eng, nicht bedrängend. Wir finden einen Platz gleich am kiesigen Ufer (feiner Kies, der sich mit der roten Schaufel gut auf unseren Knien abladen lässt. Nur mit den Füßen steht unser Baby im Wasser, nackt und gut eingecremt, einen blauen Sonnenhut auf dem Kopf, dessen überbreite Krempe bis zu den Schultern reicht und schaufelt und schaufelt; manchmal auch nur Wasser mit einer auffälligen Verständnislosigkeit im Blick, immer dann, wenn das Wasser gleich wieder vom nur wenig gebogenen Schaufelblatt herunterrinnt und sich ununterscheidbar, unverfolgbar mit dem Blick im See verteilt. Dem Gleichwiedereinssein des geschaufelten Wassers in sein Element und dem dieses Phänomen begleitenden Blick unseres Baby können wir nicht anders als eine Erinnerung zuzuordnen, eine Erinnerung, über die unser Baby gleichsam stolpert: war, scheint es sich undeutlich zu fragen, ich nicht einst wie dieses Element, Element im Element, ununterscheidbar, unsichtbar eins mit dem, was mir ganz und gar glich? Die Liebe unseres Babys zum Wasser, aber nicht als etwas, das zum Schwimmen da ist, zum Tragen eines Bootes, oder auch bloß zum Trinken, diese Liebe zum Wasser, die Verständnis ist, sie berührt uns so sehr, dass wir gleich ganz aufgelöst, wässrig werden). Nach dem Spielen im Wasser kommen Hunger und Durst, unsere Vorräte sind fast aufgebraucht, also beschließt ihr beide (du, unser Baby) zum Kiosk unweit des Dampfersteges zu laufen, um Nachschub zu besorgen. Schläfrig lege ich mich auf unsere Decke und schließe die Augen. Aber ich schlafe nicht, ich wache und dann höre ich. Genaugenommen bin ich bald ganz Ohr, hellwaches Ohr trotz seines schläfrigen Besitzers, ein Ohr, das mittendrin im Hörbaren liegt, ein Rundumhören bin ich, von fern und ganz nah höre ich Stimmen, Geräusche, Wellenschlagen, Blätterrauschen, Kinderschreien, Kinderlachen, Wortbrei, einzelne Worte ganz deutlich, die folgenden aufgelöst in lose Tonfolgen, Motorengeräusch, eine Hupe, Rufen, Knacken, Schaben, Husten, Gluckern, Schmatzen … Ich höre von fern und nah, aber das Ferne ist nicht Fern wie das Nahe nicht nah ist. Mein Hören lässt irgendwann das Unterscheiden ziehen: nah, fern, laut, leise, hell, dunkel – ich finde eine immer gleiche Nähe zu den Geräuschen, eine gleiche Deutlichkeit, viel imposanter als alle Unterschiede. Ist mein Hören überhaupt noch Hören? frage ich mich in den tiefen Trichter meiner Schläfrigkeit hineinhorchend. Es ist eigenartig, wie wenig ich wirklich höre, so dass ich es identifizieren könnte als ein bestimmtes Geräusch mit einer sinnvollen Herkunft. Was die Sprache angeht, ist es am hörfälligsten: kaum ein Wort, ein Satz, obwohl ich weiß, es ist ein Wort, ein Satz, ergeben einen Sinn. Als würde das sinnvolle Hören abhängen von glücklichen Umständen, die vielleicht gar nichts zu tun haben mit der richtige Lage meines Ohr zum Sprecher oder meiner Aufmerksamkeit oder meinen Vorkenntnissen. Dennoch schenkt mir diese gehörte Undeutlichkeit und Unschärfe einen wohligen Zustand, warm betten mich die auftauchenden und versinkende Geräusche, ich spüre die Weite des Raums, doch keine haltlose Unendlichkeit. Dann, einem Impuls folgend, öffne ich die Augen und blicke in die Richtung, aus der ihr (du, unser Baby) vermutlich von eurem Kioskeinkauf zurückkommen werdet. Und wie beim Hören eben widerfährt mir das gleich beim Sehen. Im ersten Moment des Augenöffnens kann ich gar nichts erkennen, nur eine Reihe von Farben, Kleckse, viel Grün und Blau um die eher gelblichen Töne herum, bei erstem Betrachten alles flächig, dann langsam dehnt sich diese Fläche von mir weg und wird zum Raum. Ihr beide (du, unser Baby) seid zwei Flecken, die aus diesem Raum herausquellen, ich erkenne euch, aber nicht an euren Gesichtern. Das Gesicht ist wie ein verstandenes Wort oder ein verstandener Satz: alles muss gut zueinanderstehen, sich in idealer Relation befinden, dass etwas Sinnvolles entsteht. Marcel Proust schreibt in Auf der Suche nach der verlorenen Zeit über den Maler Renoir: Frauen gehen die Straße entlang, die völlig anders aussehen als die von ehedem, weil sie Renoirs sind, eben jene Renoirs, in denen wir früher überhaupt keine Frauen erkennen wollten. Auch die Wagen sind Renoirs, das Wasser und der Himmel; wir haben Lust, in dem Wald spazierenzugehen, der uns am ersten Tag wie alles andere als ein Wald vorkam, eher zum Beispiel wie eine Stickerei mit vielen Farbtönen, in denen aber gerade diejenigen fehlten, die einen Wald ausmachen. Das ist die neue, vergängliche Welt, die jetzt erschaffen wurde. Wie ich euch beide (meine Frau, mein Kind) so kommen sehe, sehe ich euch also wandeln in der Vergänglichkeit. Ihr entsteht direkt aus der Ununterscheidbarkeit (das Kind der Vergänglichkeit oder ihre Mutter?), werdet vor meinen Augen konkret (wie ich vor euren), wir begrüßen uns freudig, dass wir noch nicht vollständig in dieser unanzweifelbaren (wir bezweifeln sie trotzdem, ständig) Vergänglichkeit verschwunden sind (warum sonst begrüßen Menschen sich jeden Tag aufs Neue?), und jetzt stehen wir uns so nah, dass der Impressionismus der letzten Minuten eine reale Pause einlegen kann: ihr seid wieder da, stofflich, echt, greifbar (und habt Kaffee im Pappbecher mitgebracht, ein Stück Kuchen, eine Fanta, ein Wasser, zwei Käsesemmeln mit Gurke, Kekse). Später sitzen wir in der langsam sinkenden Sonne auf unserer grauen Decke, angeordnet im Dreieck, auf dessen Fläche zwischen uns nur noch die Kekse und die Wasserflasche liegen. Wir sind ein gleichseitiges Dreieck, dessen einen Eckpunkt unser Baby irgendwann verlässt, um mit einem Keks in der Hand auf deinen Schoß zu klettern. Das könnte jetzt Renoirs Mutter mit Kind sein oder auch Das Kind mit seinem Kindermädchen oder ein anderes seiner wunderbaren Kinderbilder, die deswegen stärker als das Verschwinden, unsere Vergänglichkeit sind, weil sie den Betrachter aus der Fixierung auf das gegenständlich Gegebene auf eine sehr milde Weise herauswerfen. Vielmehr noch üben sich Renoirs Bilder in diesem instabilen Gleichgewicht zwischen Sehen und Verschwinden, Erkennen und Auflösung. Mild weht mich eure Unfestigkeit an (oder es ist abendliche Thermik, eine plüschige Walze, die vom See herrollt), ich betrachte euch (dich, das Kind), erkenne das unsichtbare Wesentliche und das sichtbare Unwesentliche, bis ich beides nicht länger auseinander halten kann. Und dann fällt mir auf, dass es ein Drittes gibt. Unser Kind! Seine Deutlichkeit, sein schwankungsloses Dasein, das der Vergänglichkeit spottet, seine Kraft und sein unheiliger Blick, den Renoir vielleicht entdeckt hat, offenbar fasziniert von diesem Ausdruck, der gleichsam jede Renaissancedarstellung (einer Madonna mit Kind) korrigiert. Das ist die Offenbarung (bis zum nächsten Irrtum) von der Proust spricht: Sie wird bis zur nächsten erdgeschichtlichen Katastrophe dauern, die durch einen neuen, originelleren Maler oder Schriftsteller heraufgeführt werden wird. Nein, diese Offenbarung wird bleiben (mit oder ohne Keks)!

DAS ZWEITE JAHR – 23

23

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Da gibt es dieses Zögern, Zaudern, Innehalten unseres Babys am Eingang, am Tor, am Rand des Spielplatzes, vor der großen Kinderwiese beim Labyrinth, auf der letzten Stufe zum Turncafé, ein Zögern, Zaudern, Innehalten, das etwas zu tun hat mit der Größe der Menge, der anderen Menschen, Kinder, auf die wir treffen, denen wir uns nähern, es gibt eine Zurückhaltung der Masse gegenüber, eine ebenso natürliche wie automatische Zurückhaltung, die zuerst überwunden werden will, wenn wir mitmachen wollen, dabeisein wollen, eintauchen wollen (Masse und Macht von Elias Canetti ist ein Buch des Hintergrundes: einmal darin gelesen, wird es immer wieder erinnert, die letzte Lektüre kann Jahre her sein, plötzlich in der vollen U-Bahn, die zwischen zwei Stationen im Tunnel Halt macht, taucht es in meinem Bewußtsein auf, vielleicht nur der Titel. Masse und Macht das klingt nicht gerade vertrauenerweckend, das klingt nach Urzusammenhang, nach einer unauslöschbaren, mehr teuflisch als göttlichen Verbindung, jeden Menschen betreffend, jedem Menschen gleichsam mit in die Wiege gegeben. Der superindividuelle Moment der Geburt ist auch der Moment, der unweigerlich, als Grund, Ursache, Notwendigkeit zum Kontakt mit den Anderen, der Masse führen wird. – Mein altes Taschenbuchexemplar ist unbrauchbar geworden, die an den Rändern dunkelbraunen, sonst gelblich vergilbten Seiten fallen beim Öffnen zahlreich heraus wie die Blätter im Herbst von den Bäumen. Ein neues muß her. Mein Baby auf dem Arm, suche ich die Buchhandlung hinter der Universität auf. Der jungen Buchhändlerin ist der Name Canetti unbekannt. Sie versucht sich in der Suchmaske des Computers mit Kanetti. Den Titel Masse und Macht wiederhole ich ein paar Mal, bevor sie ihn versteht. Spreche ich so undeutlich? Ist der Buchhändlerin der Titel so ungewohnt, nach zu Fremdem klingend, stößt sie der Zusammenhang, den er ausspricht, womöglich ab? Jetzt bloß nicht hochmütig werden! denke ich. Wird mein Sohn, der von meinem Arm auf den Teppichboden und selbst ein bißchen um die Büchertische und an den Buchrampen herumstreichen will, eines Tages Ahnung haben oder Interesse finden an Elias Canetti? Mein altes verwelktes Buch kommt mir vor wie ein Symbol des Verwelkens der Kultur, der je eigenen, meiner Kultur, dem, was für mich Bedeutung hatte und hat und von dem ich immer, lange Zeit zumindest, den Eindruck hatte, es hätte diese Bedeutung für alle Menschen. Das war wahrscheinlich immer schon ein – lieb gewonnener – Irrtum, der heute aber deutlich aus dem beschützenden Schatten eines naiven Glaubens, einer nur allzu menschlichen Hoffnung heraustritt. So wie alle Dinge und Menschen kommen und gehen, so kommen und gehen auch die guten Bücher. Wird sich unser Sohn wundern über die Namen der Autoren in den Bücherregalen, falls wir einmal nicht mehr sind? Wird er Masse und Macht herausziehen, befremdet darin blättern, über Sprache und Inhalt rätseln und es gleich zur Seite legen, in eine Kiste mit den anderen Büchern, die bald von einem Trödler abgeholt werden, oder schlimmer von einem Entrümpler? Über den eigenen Tod hinaus werden Kränkungen kaum möglich sein, denn wir würden es als eine solche empfinden, dass das, was uns wichtig ist und dann war, nun als unwichtig und wertlos betrachtet und beurteilt wird. Jedenfalls wird mein Wunsch nach Masse und Macht durch das Unwissen der Buchhändlerin zu etwas Sonderbarem, Überholtem, fast zu einer Schrulle. Nur die ganz Eitlen wollen Bücher für sich haben und nicht teilen; doch womöglich ist es auch eine Form der Eitelkeit, dass ich glaube und möchte, jeder sollte Masse und Macht lesen. Andererseits, denke ich und sehe unseren Sohn sich vom Kinderbuchtisch in die Tiefen des Buchladens entfernen, Richtung Leseinsel, andererseits, ist es nicht ein Glück, das alles, selbst das Wertvollste nicht vom Verschwinden ausgenommen ist und dass man, in welch fernen Zeitabständen auch immer, mit seinem Wiederauftauchen rechnen kann? Oder auch nicht damit rechnen kann oder nur mit einem Wiederauftauchen Äonen von der eigenen restlos verblassten Existenz entfernt? Was bleibt von uns, wenn wir nicht mehr sind? Diese sonderbare Frage, die so einfach zu beantworten ist: unser Baby, unser Kind, täuscht uns nicht. Alles sonst, was bleibt, hat nichts zu tun mit uns und unserem Willen. Kein Glück oder Unglück geschieht, wenn unser Junge niemals Masse und Macht lesen würde. Trotzdem: wir hätten es gern, wünschen es uns. Besonders um des nicht geschriebenen Kapitels willen, um das Ergänzungskapitel, das heißen könnte: Das Zögern. Zaudern. Innehalten. Oder, widersprüchlich: Die Verweigerungsmasse.) Da gibt es die anderen Kinder. Manchmal sind es nur wenige (an einem Schlechtwettertag auf dem Spielplatz), dann wieder sind es viele, sehr viele (am guten Babybadeplatz am See). Sind es die Wenigen, ist der Kontakt leicht, auch, weil er sich vermeiden lässt, auch, weil genug Raum für alle vorhanden ist. Die Wenigen nehmen sich nichts, und wenn sie sich etwas geben, hat es fast etwas Feierliches. Sind es die Vielen, wird der Raum eng (auch der akkustische; Lärm ist keineswegs etwas den Babys Angenehmes). Der Kontakt unter Vielen ist nah am Zwang. Kaum ein Ausweichen ist möglich, selbst wenn unser Baby nicht in Stimmung für Begegnung ist. Die Begegnung in der Masse ist im Grunde keine Begegnung, ihr fehlt eben der Raum und damit die Freiheit. Groß ist die mitgebrachte Offenheit des Babys allen anderen gegenüber. Sie schrumpft schnell, wenn alle anderen gleichsam zugleich dort sind, wo das Baby ist. Es gibt ein Zuviel, und dabei scheint es nicht um persönliche Vorlieben und Neigungen zu gehen. Die Masse hat etwas Abstoßendes, Räuberisches, Hartes und diese Eigenschaften besitzt sie bereits bei den Kleinen und Kleinsten. Bei Canetti heißt es: Die Genugtuung, in der Rangordnung höher als andere zu stehen, entschädigt nicht für den Verlust an Bewegungsfreiheit. In seinen Distanzen erstarrt und verdüstert der Mensch. Er schleppt an diesen Lasten und kommt nicht vom Fleck. Er vergißt, daß er sie sich selber auferlegt hat, und sehnt sich nach einer Befreiung von ihnen. Die Befreiung geschieht in der Masse, in der Entladung mit der alle Trennungen, Unterschiede abgeworfen werden. Die Babys aber kommen schon entladen zur Welt. Trennungen sind ihnen fremd, Unterschiede bloß interessant. Erst in der Masse scheinen die Rangordnungen zu entstehen, in der frühen Masse, der Kindermasse. Dieselben Rangordnungen, die später wieder in der Masse, der Erwachsenenmasse aufgehoben werden sollen. Ein Kreislauf, der fatal ist und auf eine Weise nutzlos, kann doch kein Wesen sich je wieder loswerden. Zögert unser Baby deshalb? Als würde es ahnen, was mit dem Eintritt in die Masse auf es zukommt. Andererseits, es hat nichts gegen die Masse, wenn sie nur klein ist und klein bleibt. Eine gemäßigte Masse, in die sich gefahrlos eintreten und eintauchen lässt und die doch selber sein ermöglicht. Eine Wunschmasse? Unser Baby hält inne. Der Ort, zu dem, in den es will ist voll. Es hält inne und geht dann doch los. Mittenhinein. Betritt die Gefahr. Vielleicht hat es Lust seine Weisheit zu verlieren. Vielleicht ist die Masse der Ort und ihr Betreten der Beginn des Verlustes. Des Babyverlustes. Warum nur wirkt unser Baby, nach dem es sich nun entschieden hat aufs Ganze zu gehen, im großen Heer der Kinder zu verschwinden, so vergnügt?

DAS ZWEITE JAHR – 22

22

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Auch im Babyspinat schlummern die Zusammenhänge, Verbindungen, Belehrungen und haben nichts dagegen, gehoben zu werden. Beim Zubereiten eines Salates (unser Baby will mitmachen, alles, was wir tun, will es auch tun. Es will uns nah sein, wenn wir die Roten Beete waschen, es möchte eine unserer Hände sein, ja, es glaubt, es sei eine unserer Hände, ja, es glaubt, unsere Hände sind seine Hände. Es ist eine entzückende, unschuldige Nähe und wieder kommt uns unser Baby wie ein guter Geist vor, der all unsere Taten all unser Tun seit einiger Zeit begleitet. Seine Ungeschicklichkeit dabei – schnell ufert das Waschen der Roten Beete zu einer großen Plantscherei am Waschbecken aus – steht dem guten Geist nicht entgegen: seine Ungeschicklichkeit macht uns froh, weil sie unserem Arbeiten nichts nimmt, noch etwas gibt. Für einen Moment sind auch unsere Hände die Hände unseres Babys, die über die holprige Rundung der Roten Beete streichen, beflissen, ernst, auch herrisch. Wasser, Rote Beete, Spritzerei. Doch, das Mittun unseres Baby lässt uns leichter bei der Sache, die wir gerade tun, sein, nur bei dieser einen Sache): Rote Beete, Babyspinat, Kürbiskerne, Knoblauch, Ahornsirup, Olivenöl, Sherryessig, Kerbel, Salz, Pfeffer (unser Baby schwankt auf seinem Treppenstuhl, während es jetzt hilft, die Erde von den Spinatblättern abzuwaschen. Dieses schwankende Stehen ist irritierend, nicht, weil wir immer denken, unser Baby würde jeden Augenblick herunterstürzen, sondern vielmehr, weil es in diesem Schwanken, diesem leichten Wiegen eines Schilfrohrs im Sommerwind, so ungemein sicher steht, so ungemein selbstverständlich, dass uns unser eigenes Stehen mehr und mehr vorkommt wie ein Erstarrtsein, eine übertriebene Unbewegtheit, ein Bann). Salat ist jung, frisch, gerade gewachsen, Babyspinat, denken wir, kleine zarte Blätter, weich, aber kräftig genug, Form zu bewahren, so zu essen: direkt aus der Erde, von der Ernte fertig für unseren Mund, kein Blanchieren, keine Hitze, die das Gewachsene erst essbar machen würde ist notwendig. So sind wir als Esser überhaupt: das Jüngste, Frische, Neue schmeckt uns besonders, das Kurzgelebte, nicht lang Entwickelte, nicht ewig Gewachsene. Wir essen Babyspinat oder zartes Kalbsfilet, Lammkotelett, wir lieben Kräuter, die hauchdünnen, eine, zwei Wochen alten Blättchen von Petersilie oder Koriander, die Spitzen des Dillkrautes, weich wie Kükenflaum; Kräuter dürfen nicht zur Blüte gelangen, nicht fest werden, sich nicht auswachsen; wir bevorzugen das gerade Entstandene, Spargel und am liebsten das Zarteste an ihm, die Spitzen; Beeren mögen wir, gerade gereift, gerade, wenn sie sich gerötet haben, wie Pilze, die eben erst durch den Waldboden gestoßen sind, deren Fleisch makellos ist, unberührt von Insekten oder Schnecken oder achtlos vorbeitrampelndem Getier, herabfallendem Ästen oder Zapfen, quasi noch in einer heiligen Aura, idealen Gestalt im Halbdunkel des Waldes verbleibend. Babycalamari wollen wir, unzäh, Lauchzwiebeln, deren Knolle noch gar nicht zur Knolle ausgebildet ist, schlank mit hübschem Bauchansatz höchstens, wir begeistern uns für das elfenbeinfarbene Fleisch der vor einer Minute vom Baum geschüttelten Walnuss, von dem sich leicht die fensterledrige Haut abziehen lässt, natürlich lässt uns Babymais nicht kalt, der so ganz anders als erwachsener Mais gar nicht plump und übertrieben nahrhaft schmeckt und groß ist unsere Begeisterung über Johannisbeerbaiserkuchen, der gleich nach dem Abkühlen gegessen werden muss, bevor seine mittelgebirgige Oberfläche, aus der einzelne Beeren linsen wie durch ein ausgeapertes Schneefeld, von harzige Tröpfchen verunstaltet wird … Es ist, als würde der Höhepunkt des Lebens zu Beginn erreicht sein, was ihm folgt ist Abstieg, Verfall, Verkrampfung, Häßlich- und Geschmacklosigkeit (alles in Maßen freilich; der Abstieg dürfte uns außerdem ja kaum auffallen, denn wer könnte diesen frühen Höhepunkt schon erinnern?). Jedenfalls sieht unser Baby wie es in Windel und nassem T-Shirt am Wasserhahn steht (schwankt) und die Salatblättchen aus den Bündel reißt zum Anbeißen aus. Ganz und gar zum Anbeißen! Wären wir Kannibalen, hätten wir es längst verschlungen. Indem man Teile vom Leib einer Person durch den Akt des Verzehrens in sich aufnimmt, eignet man sich auch die Eigenschaften an, welche dieser Person angehört haben, heißt es bei Freud in Totem und Tabu. Im Fall des Babys gilt freilich die übliche Einschränkung nicht. Hier greifen keine Vorschriften und Beschränkungen der Diät unter besonderen Umständen, denn im Falle unseres Babys gäbe es keinerlei Eigenschaften, die wir nicht mit verspeisen wollten. Keine negative oder unerwünschte Eigenschaft könnte auf uns übergehen, wir würden das Baby komplett verschlingen mit allen Konsequenzen, unser Meister würde ganz und gar in uns übergehen, und wir dadurch ganz und gar in unseren Meister. Sieht man nicht überall Eltern an ihren Kindern herumknuspern und Knurrlaute dabei von sich geben? Zum Entzücken der Kinder, zum Entzücken der Eltern (Entzücken in Grimms Deutschem Wörterbuch: geistiges entrücken und hinreiszen, wodurch die seele geleichsam auszer sich an eine andere, übersinnliche stelle geführt wird … kein größeres Entzücken als durchs Essen, nein, Fressen). Also werfen auch wir uns an die Kehle unseres Babys, das gleich einen schrillen Schrei ausstößt, sich zurückbeugt, um die Kehle noch weiter frei zu geben und dann zu gackern beginnt, während wir knurren und grunzen und so tun als ob, wir unser Baby fressen würden. Nach einiger Zeit (und weil wir nur so getan haben, als würden unser Baby fressen wollen) bringen wir die Zubereitung des Salates zu Ende: Rote Beete mit Babyspinat. Dann essen wir ihn (unser Baby ißt nur ein paar der gewürfelten Roten Beete): unser Entzücken ist groß. Wir fühlen uns erfrischt und jung und kommen uns vor wie glückliche Kannibalen.