Das zweite Jahr

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Ein Bild in der Tageszeitung zeigt einen Vater und einen Sohn. Der Sohn trägt ein gelbes, ärmelloses Shirt und eine gelbe kurze Hose und sitzt auf den Schultern seines Vaters. Mehr auf der linken Schulter als auf der rechten, sein linkes Bein hängt fast bis zum Bauch des Vaters, das andere Bein ist angewinkelt, der Fuß liegt auf dem Schultergelenk. Das Kind ist vielleicht eineinhalb oder zwei Jahre alt. Es sitzt sicher, hält sich nicht mit den Händen fest. Sein Blick ist in die Ferne gerichtet, womöglich auf den Fotografen. Der Junge hat glatte schwarze Haare, kurz und ordentlich geschnitten, die gleiche Frisur wie der Vater, dessen Haare noch etwas schwärzer sind. Der Vater trägt ein dunkelgraues T-Shirt mit hellgrauem Kragen und eine blaue, vermutlich kurze Sporthose. Vermutlich, weil er bis zu den Oberschenkeln im Wasser steht. Die beiden sind auf einer überfluteten Straße in Sri Lankas Hauptstadt Colombo unterwegs. Der Vater hält in der rechten Hand einen Stock, dessen anderes Ende ins Wasser getaucht ist. Der Blick des Vaters ist nach unten gerichtet, sein Mund soweit offen, dass die weißen Zähne sichtbar sind, es könnte sein, dass er gerade etwas sagt oder eben gesagt hat. (Vater-Sohn-Bilder reden. Sprechen mich an. Auf eine ganz und gar andere Art, als die Tausende und Abertausende Mutter-Sohn-Bilder, Zentrum und Kern der christlichen Ikonographie, denen man nicht entkommen kann, wenn man Kirchen und Museen der bildenden Kunst besucht. Oder auf einem Spielplatz sitzt oder einer Wiese oder in einem Café, auf und in dem sich Mütter mit Kindern mit Müttern mit Kindern treffen. Das Mutter-Sohn-Bild ist ein gewohntes Bild, selbst wenn man die Kunst beiseite lässt, wird dieses Bild jeden berühren, taucht gleichsam in den Betrachtern von Mutter und Sohn zusätzlich selbst auf, als würde die Innigkeit zwischen Mutter und Sohn ursprünglicher und wahrer sein als die zwischen Vater und Sohn. Wenn diese Innigkeit überhaupt sichtbar wird. Manchmal lassen sich Sportler nach einem großen Sieg ihre kleinen Söhne in die Arena hinunterreichen, als hätten sie den Sieg auch ein wenig für diese errungen oder vielleicht sind sie auch erleichtert, nach der Schlacht lebendig und unverletzt ihren Nachkommen wiederzubegegnen. Die Innigkeit zwischen Vater und Sohn tritt spärlicher auf und weniger selbstverständlich. Man stelle sich nur Gott und seinen Sohn Arm in Arm vor, sichtbar, kaum, dass man eine Kirche betreten hat, in jeder Seitenkapelle, jedem Seitenschiff würde man dieses Bildnis finden und groß und mächtig in der Apsis über dem Altar oder gar das Gewölbe darüber vollständig schmückend. Gott aber lässt sich schwer umarmen, selbst von seinem eigenen Sohn nicht.) Der Sohn im gelben Dress auf den Schultern seines Vaters. Beide sind für sich und doch auf eine ungezwungene Weise zusammen. Sie kennen sich, sind vertraut miteinander, der Sohn sitzt nicht das erste Mal auf den Schultern seines Vaters. Die beiden wirken zufrieden, wie sie da die überflutete Straße entlangwaten, sie haben keine Eile, sie folgen niemanden und niemand folgt ihnen, womöglich haben sie kein Ziel oder wenn sie ein Ziel haben, dann verfolgen sie es nicht mit besonderer Dringlichkeit. Ein modernes Bild. Das Vater-Sohn-Bild ist moderner, aktueller, spannender als das Mutter-Sohn-Bild. Für einen Moment erscheint es mir sogar (auf diese watende Weise) revolutionär, gestatten sich diese beiden Männer (der große und der kleine Mann) doch eine Form selbstbewusster und respektvoller Nähe, die womöglich einem Ideal von Nähe nahe kommt, wie etwas überhaupt nur einem Ideal nahekommen kann (im Mutter-Sohn-Bild ist das Ideal wirklich geworden; jetzt, bei der Betrachtung dieses Fotos in der Zeitung, finde ich das ein wenig schal, gerade wegen diese Verwirklichung). Das Vater-Sohn-Bild spricht, der gelb gekleidete Junge und sein Vater sprechen zusammen, aber nicht mit einer Stimme. Bei längerer Betrachtung wächst die Schönheit des Bildes. Seine Deutlichkeit und Klarheit. Bei längerer Betrachtung spricht es immer weniger, leiser, bis es gar nicht mehr spricht. Oder man könnte sagen, das Bild spricht für sich. Zu dem Bild in der Zeitung gehört noch eine Bildunterschrift. In ihr heißt es: Die Einwohner von Sri Lankas Hauptstadt Colombo leiden unter der Flut. Es ist nicht ungewöhnlich, dass die Bildunterschrift in Zeitungen häufig wenig mit dem Bildinhalt zu tun hat, dass die Bildunterschrift viel mehr Interpretation als Beschreibung des Sichtbaren ist, aber hier ist die Differenz außergewöhnlich groß. Denn dieses Bild zeigt eines ganz gewiß nicht: Leiden. Die Bildunterschrift verkehrt den Inhalt des Bildes geradezu in sein Gegenteil (mutwillig, aus Gedankenlosigkeit, weil gerade kein anderes Bild verfügbar war? Aber Gedankenlosigkeit gibt es doch gar nicht! Wer wäre je einen Augenblick ohne Gedanken gewesen?). Gibt es, dort, wo man ist, eine Überflutung, so muss gelitten werden. Doppelt, denn der Vater hat ja noch seinen Sohn bei sich, trägt also auch die Sorge um dessen Zukunft auf den Schultern! So oder so ähnlich mag jemand gedacht haben, der die Bildunterschrift verfasst hat und er (oder sie) wird damit bei einem großen Teil der Bildbetrachter ins Schwarze getroffen haben (ins Schwarze der Seele, wo Angst und Not hausen). Und doch ist diese Verdrehung sehr seltsam, wenn man bedenkt, wie stark die beiden, Vater und Sohn, wirken, wie wenig verzagt, geradezu glücklich. Glücklich jetzt, da sie beisammen sind und durch die überflutete Straße waten, sich genügend, sorglos in ihrer möglichen Sorge, ob das Wasser wieder abfließen und über die Schäden, die es hinterlassen wird. Nein, die beiden leiden nicht und das ist so offensichtlich, dass es an ein Wunder (ein düsteres Wunder) grenzt, es zu übersehen oder nicht zu sehen. So kommt es mir vor: Das Glück ist unsichtbar (wie für den Vater der Sohn, den er auf den Schultern trägt fast unsichtbar ist), das Leid ist sichtbar, jederzeit, gleich, ob ausgedacht oder nicht, und das sichtbare Glück kann gegen das unsichtbare Leid wenig ausrichten. Nein, so kommt es mir vor: Das innige Vater-Sohn-Bild ist zu neu, zu modern, zu schön, um wahr zu sein. (Mein Sohn wartet, wir wollen jetzt durch die sonnigen Straßen der Stadt laufen, später Nachmittag, er wird auf meinen Schultern sitzen, wir haben es noch nicht oft ausprobiert, aber jetzt wollen wir es unbedingt so machen. Wir wollen etwas herausfinden. Ein paar Bilder anschauen, draußen im Freien.)

A picture in the newspaper shows a father with his son. The son is wearing a yellow, sleeveless shirt and short yellow pants and is sitting on his father’s shoulders. More on the left than the right shoulder, his left leg is hanging down almost to the father’s belly, the other leg is bent with its foot by the father’s shoulder joint. The child may be a year and a half or two years old. He is sitting securely, is not even holding on with his hands. He is gazing into the distance, possibly at the photographer. The boy has smooth black hair, short and well cut, the same barber as the father, whose hair is a little bit blacker. The father is wearing a dark gray T-shirt with a light gray collar and blue pants, presumably shorts. Presumably because he is standing in water up to his thighs. The two of them are moving along a flooded street in Sri Lanka’s capital, Colombo. The father is holding in his right hand a stick whose other end is dipped into the water. The father’s gaze is directed downward, his mouth is open, so that his white teeth are visible; possibly he is saying something or said something a moment ago. (Father-son images speak, and speak to me. In a very different way than the thousands upon thousands of mother-son images, the center and core of Cristian iconography, inescapable when one visits churches and art museums. Or when one sits in a playground or on a meadow or in a café where mothers with children meet with mothers and children. The mother-son image is a familiar image, and even when one sets art aside, this image will touch everyone, and will arise as a kind of additional mother-son image in the observers of mothers and sons, as if the closeness between mother and son were more primal and more true than the closeness between father and son. If such closeness even becomes visible. Sometimes athletes have their little sons handed down to them into the arena, as if they had won their victory in part for their sons, or perhaps they are relieved to be able to meet their offspring alive and uninjured after the battle. The intimacy between father and son is less frequently seen and is therefore not as unsurprising. Imagine God with his son on his arm, a visible presence the moment you enter a church, and seeing this image powerfully represented in every side chapel, every side aisle, in the apse above the altar or even gracing the entire vault above it. But God is difficult to embrace, even for his own son.) The son in his yellow clothes on his father’s shoulders. Each of them is on his own and yet they are at ease together. They know each other, are familiar with each other, it is not the first time the son has sat on his father’s shoulders. They both seem content, wading along the flooded street, they are not in a hurry, they are not following anyone, nor is anyone following them, conceivably they have no destination, or if they do have a destination, they are not approaching it with particular urgency. A modern image. The father-son image is more modern, more current, more exciting that the mother-son image. For a moment it even strikes me (in this wading sort of way) as revolutionary, for these two men (the big and the little man) are allowing themselves a form of self-confident and respectful closeness that perhaps comes close to an ideal of closeness, as of course anything can only come close to an ideal (in the mother-son image the ideal has become real; now, as I look at this photograph in the newspaper, I’m finding that a little shallow, precisely because of this realization). The father-son image speaks, the boy dressed in yellow and his father are talking to each other, but not with one voice. The longer one looks at this picture, the more its beauty grows. Its clarity and self-evidence. The longer one looks, the less it speaks, the less audible the speech becomes, until it no longer speaks at all. Or one could say the picture speaks for itself. The picture in the newspaper comes with a caption, it says: The residents of Sri Lanka’s capital Colombo are suffering from the flood. It is not unusual for the captions of pictures in newspapers to say things that have little to do with the pictures’ content, furnishing interpretation rather than a description of what can be seen, but here the difference is exceptionally great. For there is one thing this picture definitely does not show: suffering. The caption virtually turns the content of the picture into its opposite (deliberately, out of thoughtlessness, because no other picture was available at the moment? But there is no such thing as thoughtlessness! Who in the world has ever been without thoughts for so much as a moment?). If there is a flood in the place where one is, there must be suffering. Doubly, for the father has his son with him, so he is bearing concern for his son’s future on his shoulders as well! Some such thoughts may have crossed the mind of the person who wrote the caption, and he (or she) will have hit the bullseye among a large number of the people who looked at the picture (the blind eye of the soul where fear and affliction dwell). And yet this inversion is very strange if one considers how strong these two, father and son, appear, how undaunted, how downright happy. Happy now that they are together, wading through the flooded street, sufficient to themselves,

 

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So im weit ausholenden Garten sitzend, auf Augenhöhe mit der Landschaft des Burgunds, der sanften, satten, grünen Hügelung, unter der gewölbten, blass blauen Kuppel des Himmels , der Arena des unaufhörlichen Gesangs der Vögel, durchsichtiger Klang in der durchsichtigen, frisch gewaschenen Luft (in der Nacht hat es geregnet, aber schon jetzt am Morgen haben Wind und Sonne die Wiesen wieder getrocknet): so befinden wir uns in unserem Element. Kinder sind gerne draußen, im Freien, wo alle Grenzen sich im unerreichbaren Horizont verlieren. Draußen: viel auf dem Boden herumliegen, klettern, krabbeln, rollen, und dann loslaufen, die gemütliche graue Decke verlassend, wieder zurückkehrend, verlassend, zurückkehrend. Draußen: Grashalme ausrupfen und zerreißen, keinem Menschen, keinem Baby würde sein Leben ausreichen, jeden Halm dieser Wiese auszureißen und zu zerkleinern. Gras wächst zu schnell für uns Menschen, daher wahrscheinlich seine Geduld und Schmerzlosigkeit. Und Gänseblümchen köpfen, das lernt man früh, ohne dass es einem jemand beigebracht hätte. Winzige Spiegeleier, kreisrund, die sich Zeit lassen mit dem Welken und Schrumpfen, als hätten sie noch nicht gemerkt, was ihnen angetan wurde. Dottergelb und Reinweiß, abgerissen oder nicht, die Köpfchen bleiben appetitlich, lebendig oder tot (aber Pflanzen sterben ja nie: die magere Clematis im Beet an der geziegelten Wand des westlichen Anbaus an unserem Haus, eingefasst von einem kleinen geflochtenen Weidenzaun, weiß, wovon wir reden. Sie selbst kümmert – wir haben immerhin schon Mitte Mai – dahin, aber ihre Einzäunung hat plötzlich einen starken Trieb entwickelt, der jetzt im stumpfen Winkel deutlich nach Osten zeigt und erste grüne Blätter entfaltet hat.) Das Baby und die Natur: ganz anders als wir kennt es keine Sorge um sie, noch Ehrfurcht. Es denkt nicht über sie nach. Es liegt an den Größenverhältnissen, alles liegt an den Größenverhältnissen. Im Freien verschieben sich die Dimensionen, alles wirkt größer und dann verschwindet der Eindruck als würde die Größe selbst ihn einsaugen und alles wird klein. Die Ferne ist groß und weit, und passt doch in ein, zwei Hände, ist zum Greifen nah. Eine Miniaturwelt, das ist die wahre Welt (die Welt der Geräusche ist eine andere: das Quietschen der Gartentür in ihren Angeln, was für ein unfassbar zeitloser Ton, der nur zwei, drei Höhen kennt und dessen Intervalle nie vorhersagbar sind. Immer, wenn man vermutet, jetzt gibt es wieder ein Quietschen zu hören, bleibt die Tür stumm. Um das Ohr sogleich neuerlich zu überraschen. Wundersame Verwandtschaft mit den Gelbbauchunken, die mit Beginn der Abenddämmerung ihren hohlen runden Ruf hören lassen, mit der gleichen Unvorhörbarkeit wie das Quietschen der Gartentür. Tags wie nachts gibt es keinen Rhythmus, keinen Takt, nichts Berechenbares, dem das Leben folgen würde, darin bestärken uns Gartentür und Unke einstimmig). Eine Miniaturwelt, gerade recht für Insekten, die bodennah über uns hinweg und durch uns hindurch fliegen, wie winzige Gedanken, zu klein für uns, um sie zu ergreifen (unser Baby deutet auf die hübschen Feuerwanzen, die sich auf der rissigen Beeteinfassung aus Stein versammelt haben, übereinander klettern, manchmal dabei abstürzen, aber für eine Feuerwanze ist ein Absturz kein Absturz. Es zeigt mit seinem leicht gebogenen Zeigefinger auf sie, ein dichtes Deuten kurz vor der Berührung, sieht fragend zu uns auf, aber wir wissen keine Antwort auf diese geblickte Antwort, als nickend zurückzublicken). Miniaturwelt: romanische Bildhauerei verstand sich gut darauf. Im Musée Rolin in Autun befindet sich die Eva des Meister Gislebertus. Sie ist viel schöner, viel zarter und zugleich viel größer als gedacht. Ausgestreckt käme die Figur fast auf die Maße einer zierlichen Frau. Sie besitzt also Dreiviertelsgröße, die Verkleinerungsform der Zärtlichkeit. (So steht es in Helmut Domkes Buch über das Burgund, 1963 erschienen, also vor unvordenklichen Zeiten, geschrieben im Stil kenntnisreicher Begeisterung, der an sich vielleicht schon eine Art Miniatur aus den Dingen macht, weil er sie so nah ans Auge holt, wie das Kind, das auf dem Bauch liegend durchs Gras blickt, jeden Grashalm einzeln erkennen kann, was dem Blick von oben nicht möglich ist; er sieht nur Wiese). Die Verkleinerung der Welt gebiert Zärtlichkeit! Daher also die Zärtlichkeit, die wir für unser Baby (und all die anderen Babys) empfinden, schießt es uns in den Sinn, eine Erkenntnis gegen die wir nicht den geringsten Widerstand verspüren, noch aufbringen könnten, die Erkenntnis des heutigen Tages, gerade richtig groß, uns nicht übermütig werden zu lassen. (Die Verkleinerung nicht zu beachten und zu achten – was für eine Barbarei. Begangen von den Banausen der französischen Revolution, die den ehemaligen Türsturz über dem Nordportal der Kathedrale von Autun ohne Bedenken fortgerissen haben. Das machen sie gern die Jüngeren: im Namen des Fortschritts das Alte ohne Ansehen und Respekt zu vernichten – mit einem Seitenblick auf unseren Sohn gedacht, wie viel Revolution mag in ihm stecken?) Und den ganzen Tag ruft der Kuckuck, eine Art Bassist im Vogelorchester, nicht die anspruchvollste Stimme, aber er spielt fast immer mit, so dass man seinen Beitrag gern vergisst, bis man plötzlich wieder an ihn erinnert wird, wenn für einen Augenblick die anderen Stimmen innehalten. Wir können in und über die Hecke am unteren Rand des Grundstück blicken, ein überwältigend schönes Geflecht aus Buche und Flieder und Röschen, Brennnesseln und hellviolett blühenden Ranken, ein bisschen Efeu, er sich dazugeschlichen hat und hohen eleganten Gräsern. Da drin wohnen die Vögel, in gemütlichen, kleinen Höhlen, die sie schützen und verbergen, von dort können sie herausblicken, hinüber auf den Hügel auf der anderen Seite der Senke, auf ein Haus mit neu gedecktem Dach, einem Bagger, einem Lastwagen und einem Betonmischer vor dem eingerüsteten Scheunentor, aber keinen Arbeitern. Als würde dieses niedliche Arrangement auf eine aus dem Himmel greifende Kinderhand warten, die Lust hat, Baustelle zu spielen. Miniatureffekt: eine Einstellung an unserer Kamera, ein Spezialeffekt, der aus dem gewählten Bildausschnitt eine Modelleisenbahnwelt erzeugt, übertrieben in den Farben und zu den Rändern hin in Unschärfe verschwimmend. Aber unser eigener Miniatureffekt, unser Blick und seine eigene Verkleinerungsform der Zärtlichkeit kommt uns stärker vor, weil absichtslos und unberechnet. In Autun fanden wir am frühen Vormittag unseres Besuchs direkt vor der Kathedrale einen Parkplatz auf dem kleinen ummauerten Geviert, mit viel Raum zum Öffnen der Türen nach links und rechts, dank der in ungeschicktem (oder geschicktem) Abstand gepflanzten Platanen, zu eng für zwei Autos nebeneinander. Ein fast unwirklich kleiner Parkplatz (für vielleicht dreißig Wagen) in der großen Autowelt, der uns glauben macht, man könnte aus der großen Welt bisweilen unmerklich in die kleine Welt überwechseln, hineinrutzschen, in der alles so einfach und beherrscht abläuft und sich fügt wie in den Miniaturwelten der Kinderzeit. Auf den Stufen der Freitreppe zur Kathedrale aber finden wir eine aus dem Nest gestürzte Taube, in der sich nur noch wenig Leben regt, das ihr Köpfchen nach vorne zucken lässt. Wieso das gerade beginnende, noch flaumige Leben schon wieder endet, ist rätselhaft und tief in uns gibt es eine Erschütterung, dort wo wir nichts kontrollieren können, dort an einem Ort, den wir normalerweise nicht spüren, wo nichts, was uns an Mitteln zur Verfügung steht (kein Gefühl, kein Verstand, keine Logik, auch nicht unser Herz), hinreicht. Nur unser eineinhalbjähriger Sohn ist nicht erschüttert. Er steht auf der selben Stufe wie der sterbende Vogel und streckt seinen leicht gebogenen Zeigefinger nach ihm aus. (Auf der Heimreise in einer Raststätte: Unser Baby steht leicht schwankend vor einem Drehständer mit Karabinern in durchsichtigen Plastikverpackungen und zieht langsam einen roten, danach einen blauen vom Haken. Eine Variante des Miniaturweltgedankens. Eine Umkehrung. Der Blick und Griff des Babys in die große Welt, die Welt der Karabiner in Raststätten, der Welt der Übertreibung.)

Sitting like this in an ample, far-stretched garden, at eye level with the landscape of Burgundy, with the mild, saturated green of the hills, beneath the pale blue vault of the sky, the arena of the birds’ ceaseless singing, transparent sound in the transparent, freshly washed air (it rained during the night, but already this morning wind and sun have dried the meadows): this is how we feel ourselves to be in our element. Children like to be outdoors, in a landscape where all limits are lost in the unreachable horizon. Outside: lying on the ground a lot, climbing, crawling, rolling, and then running off, leaving the comfortable gray blanket behind, coming back, leaving, coming back. Outside: pulling out and tearing blades of grass, no human being, no baby could live long enough to pull out and diminish each blade of grass on this meadow. Grass grows too fast for us humans, hence probably its patience and painlessness. And decapitating daisies, that is something one learns early without having to be taught. Tiny fried eggs, perfectly circular, taking their time to wither and shrink, as if they had not yet noticed what was done to them. Yolk-yellow and pure white, torn off or not, the little heads remain appetizing to look at, whether living or dead (but plants never die: the lean Clematis in the flower bed by the tiled wall of the western annex of our house, surrounded by a small wicker fence, knows what we are talking about. The flower itself is withering away – we’re in the middle of May, after all – but its fence has suddenly developed a strong shoot that is now clearly pointing East at an obtuse angle and has unfolded its first green leaves.) The baby, completely unlike us, knows neither fear nor awe of nature. He does not think about it. It’s all due to relative size; everything is due to relative size. Outdoors, dimensions shift, everything seems bigger and then that impression disappears as if bigness itself were sucking it in and everything becomes small. Distance is great and wide, and yet it fits into one or two hands, is palpably close, within reach. A miniature world, that is the true world (the world of sounds is different: the squeaking of the garden gate in its hinges, what an unfathomably timeless sound, which knows only two or three pitches and whose intervals are never predictable. Always when one expects to hear another squeak, the gate remains silent. Only to surprise the ear all over again. Wondrous relationship to the yellow-bellied toads, whose hollow, round call begins to sound out at the start of dusk, baffling one’s ears’ anticipation exactly like the squeaking of the garden gate. Neither by day nor by night is there any rhythm or beat or calculable pattern for life to follow: of this the toad and the garden gate assure us in unison). A miniature world, made to order for insects that fly close to the ground above us or through us, like minuscule thoughts, too small for us to grasp (our baby points at the pretty firebugs that have gathered on the cracked stone frame of the flower bed, climbing over each other, sometimes tumbling to the ground, no big comedown for a firebug. He points at them with a slightly curved index finger, a close pointing near the edge of touch, looks up at us with a questioning look, but we have no other answer to this ocular answer than to look back at him, nodding). A miniature world: Romanesque sculpture had a good grasp of this. In the Musée Rolin in Autun one can see Master Gislebertus’s Eve. She is much more beautiful, more delicate, and at the same time much bigger than we had thought. Stretched out, the figure would almost have the proportions of a petite woman. So she is three quarter size, the diminutive of tenderness. (That is what it says in Helmut Domke’s book about Burgundy, published in 1963, an immemoriably long time ago, written in the style of enthusiastic connoisseurship, which perhaps is inherently prone to make miniatures out of things, because it brings them as close to the eye as the child does when it lies on its belly peering through the grass, where it can see every individual leaf of grass, which is impossible for the view from above, which only sees meadow). The diminishment of the world gives birth to tenderness! Hence the tenderness we feel for our baby (and all the other babies), an insight that shoots through our mind without provoking the slightest resistance, nor could we bring ourselves voluntarily to object to this day’s insight, just the right size to prevent us from getting too cocky. (Not to show consideration and respect for the art of diminishment – what barbarism. Committed by the philistines of the French Revolution, who tore down the former lintel over the Northern portal of the Cathedral of Autun without compunction. This is something the younger ones like to do: tear down the old without credit or respect – a thought accompanied by a side glance at our son, wondering how much revolution may be lurking inside him.) And all day long the cuckoo calls, a sort of bassist in the birds’ orchestra, not the most sophisticated voice, but he toots along with the others, so that one is happy to forget his contribution until at some point one is reminded of it when the other voices fall silent. We can gaze into and over the hedgerow at the bottom end of the garden plot, an overwhelmingly beautiful network of beech and lilac and little roses, stinging nettles and mauve blooming vines, a little ivy that has sneaked in, and high elegant grasses. That is where the birds live, in comfortable little caves that protect and hide them, and from where they can look out at the hill on the other side of the incline, at a house with a newly shingled roof, a bagger, a truck, and a cement mixer in front of the scaffolded barn gate, but no workers. As if this sweet little arrangement were waiting for a child’s hand to reach down from the sky and play construction site. Miniature effect: a setting on our camera, a special effect that turns a selected detail into a model train world, with exaggerated colors that blur into haziness toward the edges. But our own miniature effect, our view and its own diminutive of tenderness, seems stronger to us, because it is unplanned and uncalculated. In Autun, in the early morning of our visit, directly in front of the Cathedral, we found a parking spot on the small walled-in square, with plenty of room for opening the doors right and left, thanks to the plane trees planted at an awkward (or clever) distance from each other, too close for two cars side by side. An almost surreally small parking area (for maybe thirty cars) in the great automobile world, which makes us believe that one could occasionally slip unnoticed from the big world into the small world, where everything unfolds and fits together as it did in the miniature worlds of childhood. But on the steps of the Cathedral’s main flight of stairs we find a pigeon that fell from its nest, with just a remnant of life still stirring, making its little head twitch toward the front. Why this life, still downy and barely begun, should already be ending, is mysterious, and deep inside us there is a shock and a tremor, there where we cannot control anything, there in a place we normally do not feel, where none of the means at our disposal (no feeling, no understanding, no logic, nor even our heart) can reach. Only our one-and-a-half-year-old son is not shaken. He stands on the same step as the dying bird and stretches his slightly bent index finger toward it. (On the trip home at a service station: our baby stands slightly swaying in front of a revolving stand with karabiner clips in transparent plastic wrappers and slowly pulls a red one and then a blue one of the hook. A variant of the miniature world idea. An inversion. The baby’s view of and grasping reach into the big world, the world of karabiners in service stations, the world of exaggeration.)

Das zweite Jahr – 10

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Du hast einen Sohn! Das kann nicht ohne Folgen bleiben. Du als Vater, Mann hast ein Kind, einen Sohn, einen kleinen Mann auf dem Weg zum größeren, eines Tages großen Mann. Dass wir beide Männer sind, ist unfragwürdig. Zu offensichtlich ist es, es bedarf keines Nachdenkens, die Evidenz unseres Mannseins (wenn der Sohn mit dem Rücken am Knie des Vaters lehnt, sanft schaukelnd: eine fast lässige Haltung) ist tatsächlich eine Art Licht, das unmöglich schwinden, gar verschwinden könnte. Wenig zeigt sich mit dieser Sicherheit, wenig so ungetrübt von Ressentiments und Zweifeln: einmal empfunden wird zum immer empfunden und immer empfinden. Kontinuität eines schwankungslosen, innigen Gefühls: wir beide sind Männer. Aus dieser Übereinstimmung lässt sich ein Glück gewinnen, das nur auf den ersten Blick verblüfft. Dann aber offenbart sich die Teilhabe an einem Prinzip, dem Männlichen, das wie eine Verheißung klingt: werde tätig aus ihm heraus und gestalte es! Aus deiner prinzipiellen Klarheit fließt Tatendrang, denn jedes Prinzip möchte handeln und sich zur Anwendung bringen! Wende dich also an, Babymann! Dazu muss das Prinzip erst einmal bekannt mit sich werden. Diese Bekanntschaft kann ihre Grundlage nur auf der Gemeinsamkeit zwischen Vater und Sohn bilden. Fließt es, darf es fließen, ungehemmt vom Vater zum Sohn und darf der Rückfluss vom Sohn zum Vater ebenso hemmungslos sein, dann mündet das Prinzip ins Ideal. (Das ist Schwärmerei, natürlich. Dagegen will die enge Stirn der Gegenwart augenblicklich sprechen. Dies soll also unsere erste männliche Tat sein, der Schwärmerei das Wort zu geben und wenn nötig, freizukämpfen. Das Leben ist eine glückliche Veranstaltung, oder besser, es hat das Zeug zu allem Glück. Und das Tätigsein des Anfangs ist die Zuwendung des Vaters zum Sohn. Die Zuwendung des Sohns zum Vater ist die natürliche, die der Vater durch seine eigene Zuwendung so sein lässt. Noch einmal: das Leben ist ein Glücksfall. Und ein besonderer Glücksfall ist es, Vater zu sein, jetzt Vater eines Sohnes. Auch das ist ein Prinzip, das vom Vater auf den Sohn übergehen und vom Sohn in den Vater fließen kann: Die Betrachtung des Lebens nicht von der Problemwarte aus, stattdessen jedes Mal wieder aufs Neue in der Schwärmerei zu verbleiben – die ruhig und still sein kann -, eine Art gemeinsamer Versenkung, die sich greifen, aber nicht angreifen lässt. Und das: nicht ich werde es der Welt zeigen, wir werden es ihr zeigen. Männerschwärmerei!) Du hast einen Sohn! Das kann nicht ohne Folgen bleiben! Natürlich meldet sich irgendwann Sigmund Freud zu Wort (vor Moses noch, vor dem Gottvater selbst). Freud spricht als Sohn und Vater, mehr möglicherweise als ein Sohn, der sich an die Stelle des Vaters gerückt hat. Ödipus ist seit Freud allgegenwärtig, manchmal laut, meist leise (Freud: ein wahrhaft großer Schriftsteller. So kann ich ihn am besten sehen: als schreibenden Mann. Der mit Lust und Stil Unverwechselbares zu Papier bringt. Der seinem Eigensinn vertraut, seine Beschränktheit aber nie abstreitet. Der in kosmische Zusammenhänge eindringt, aber dabei mit den Füßen auf dem Boden bleibt, auf Mutter Erde. Unbeirrbar wie ein Religionsstifter ist er, und bis heute löst sein Denken Rivalität und Widerständigkeit aus, die kaum je einem Mann mit dieser Gewalt entgegengeschlagen sind. Jeder hat eine Meinung zu Freud. Wie viele haben ihn gelesen, wie viele haben über ihn und über ihn hinweg gelesen? Im Gespräch mit anderen springt reflexartig Skepsis hervor, ein grundsätzlicher Zweifel, Misstrauen und Kopfschütteln zeigen sich. Die Äußerungen über Freud sind oft abfällig und hochmütig. Manch einer hat ihn durchschaut und überwunden. Nicht selten begegnet man einer Furcht, die dazu anregt, schnell das Thema zu wechseln. Freud scheint irgendwie gefährlich zu sein, man könnte betroffen sein, wo man doch schon genug mit der Selbstbestimmung des eigenen Ich zu tun hat. Aber er ist doch nur ein Schriftsteller! Ein Mann, der schreibt, unter anderem über Väter und Söhne. So kann ich ihn am besten sehen: der über Männer schreibende Mann. Einer, der schreibt, lebt die Fiktion. Die Fiktion ist groß und großartig, wenn der, der sie in die Welt bringt, ein großer Schriftsteller ist. Freud ist groß, hinreißend, spannend, fordernd, ein bisschen unheimlich. Er berührt Verstand und Herz gleichermaßen wie Shakespeare und Goethe. Freud ist ein schreibender Vater, dessen Geschichten berühren wie die Märchen der Kindheit. Das große, schöne Märchen von Vater und Sohn, das ist Freuds Märchen mit Fortsetzung. Es zieht sich durch viele Texte hin und hindurch, wandelt sich, dehnt sich aus über die Jahrhunderte, schrumpft und wird klein im Augenblick, da es gehört wird. Hier im Zimmer erzählt es sich, dieses Märchen. Im Gespräch mit anderen gibt es ebenso Bewunderung und Respekt, fast Ehrfurcht. Der gute Vater, der nur vom Leben erzählt und nie aufhört vom Leben zu erzählen, der vom Vorbild spricht, selbst aber ein viel zu guter, bewanderter Erzähler ist, als dass er selbst Vorbild sein könnte. Seine Fiktion ist vielleicht Sprengmeisterei, seine Geschichten flüssiger Sprengstoff, erst bitter, dann süß, der eigene Gedanken und Gefühle in seinen Zuhörern hervorsprengt, weil er in die feinsten Ritzen sickert, ins Unterirdische wie ins Unirdische.) Freud also: es, er kann jeden treffen. Könnte es nicht sein, dass Freud recht hat? Was bedeutet das für mich, den Vater? Am besten wird sein, ich stelle ein Stück Freud gleichsam neben meinen Sohn (der sich – so fühlt sich sein Biss in meinen Daumen an – gerade in der oral-kannibalistischen Phase befindet. Ich muss ihn ein wenig bremsen in seinem Verschlingungsbegehren meiner väterlichen Person gegenüber, da seine kleinen, ja fast immer noch neuen Schneidezähne tatsächlich von einer Schärfe sind, die deutlich schmerzhaft ist. Du könntest dich doch auch anders mit mir identifizieren, versuche ich ihn abzulenken, was aber nur kurz hilft, vielleicht auch deshalb, weil mir selbst nicht klar ist, wie anders er sich mit mir identifizieren könnte. Zudem ist mein Wunsch, nicht gebissen zu werden, ein halbherzig geäußerter, denn sein Biss fühlt sich faszinierend angenehm an. Und dazu diese kleine Fantasie: wie wäre es, wenn mein Sohn mich ganz und gar verschlingen würde? Wo würde ich landen?). Freud also: Der vereinfachte Fall gestaltet sich für das männliche Kind in folgender Weise: Ganz frühzeitig entwickelt es für die Mutter eine Objektbesetzung, die von der Mutterbrust ihren Ausgang nimmt und das vorbildliche Beispiel einer Objektwahl nach dem Anlehnungstypus zeigt; des Vaters bemächtigt sich der Knabe durch Identifizierung. Die beiden Beziehungen gehen eine Weile nebeneinander her, bis durch die Verstärkung der sexuellen Wünsche nach der Mutter und die Wahrnehmung, daß der Vater diesen Wünschen ein Hindernis ist, der Ödipuskomplex entsteht. Die Vateridentifizierung nimmt nun eine feindselige Tönung an, sie wendet sich zum Wunsch, den Vater zu beseitigen, um ihn bei der Mutter zu ersetzen. Von da an ist das Verhältnis zum Vater ambivalent; es scheint, als ob die in der Identifizierung von Anfang an enthaltene Ambivalenz manifest geworden wäre. Die ambivalente Einstel­lung zum Vater und die nur zärtliche Objektstrebung nach der Mutter beschreiben für den Knaben den Inhalt des einfachen, positiven Ödipus­komplexes. Ich also: Sehe meinen Sohn an, spüre die Wärme von seinem Kopf her aufsteigen, eine duftende Wärme, immer noch Babywärme – und suche im sichtbaren Kind das unsichtbare Begehren. Ich finde Einvernehmen mit meinem Sohn, das aber mit einer deutlichen Warnung versehen ist: wir werden darin nicht zu weit gehen. In der äußeren Welt. In der inneren Welt füllen wir es ganz und gar aus: wir beiden Boten des Männlichen. Der Wunsch, mich beseitigen zu wollen, ist offensichtlich, aber ebenso schnell verflogen, wie er aufgetaucht ist. Manchmal werde ich zur Seite geschoben, rüde verlassen, wenn du, die Mutter, dich näherst, aber nicht immer. Es persönlich zu nehmen, würde den Ödipusgedanken verstärken, es nicht persönlich zu nehmen, ihn gewissermaßen gläsern machen, luftig, substanzlos, doch ohne ihn gänzlich aufzulösen. Den Wunsch den anderen zu beseitigen, teilen wir übrigens miteinander, wie ein krasser Scherz kommt er uns dann vor, den wir ab und zu reißen, der ein merkwürdiges Einvernehmen schafft, so merkwürdig wie Babyhumor sich eben manchmal zeigt. Dramatik im Ödipalen aber wird sich zwischen uns nicht einstellen, nicht etwa, weil der Ödipuskomplex falsch wäre, sondern weil Freud das elterliche Leben in Umständen betrachtet hat, die ihn etwas haben übersehen lassen, haben übersehen lassen müssen. Die Ausprägung des Ödipuskomplexes kann nicht unabhängig betrachtet werden von der väterlichen Anwesenheit und Nähe. (Ja, wir spekulieren gerade, womöglich wird uns die Zukunft widerlegen. Neben der Schwärmerei ist die Spekulation aber nun mal eine Leidenschaft von uns.) Es ist ein großer Unterschied, ob der Vater von Beginn an vorhanden ist, in wenn nicht gleicher Nähe, so doch ähnlich großer wie die Mutter, oder ob er nicht vorhanden ist, ein Vater, dessen zeitliche Anwesenheitsschwankungen dem Baby nicht verborgen bleiben können. Wie das Baby noch mehr seine Abwesenheit spürt. Nur wer da ist, ist da. Die weibliche, nährende Brust noch mächtiger zu machen, als sie es von Natur aus schon ist, ist eine sonderbare Entschuldigung für die Väterferne. Wir glauben, die Nähe des Vaters von Beginn an wird den Ödipuskomplex verwandeln, sie wird ihm den tragischen und dramatischen Boden entziehen, der durch die väterliche Diskontinuität ins Unsichere umgepflügt wird. Nur wer da ist, wird akzeptiert und nicht als Störer, Eindringling, Feind betrachtet. Da sein heißt: nur da sein und tun, was nötig ist. Die väterlichen Möglichkeiten sind groß, der Mann verändert sich, sehr langsam, aber wir beide arbeiten hart und weich daran. Wir beißen uns gegenseitig in die Finger (nein, ich weniger, einmal ist es mir versehentlich geschehen, der Schmerzensschrei des Sohnes war groß. Unsere äußeren Kräfte sind zu unterschiedlich. Ganz anders unsere inneren. Wir knabbern an den gleichen Komplexen mit gleicher Kraft). Ist der Vater da, kann der Sohn solange er will, an dessen Bein lehnen, ein Arm über sein Knie gelegt, als würde er in einem Cabrio sitzen. Die Zeit, die die beiden miteinander verbringen, die wichtige Anfangszeit, die wichtigste Zeit, entschärft diesen gewaltigen Komplex. Ödipus kann seinem Vater in die Augen sehen, ihn lächelnd erkennen und zum Teufel wünschen. Der Vater wird seinem Ödipus in die Augen sehen, ihn lächelnd erkennen und gewähren lassen. Dann werden sie sich auf eine Bank setzen mit Blick in die untergehende (oder die aufgehende) Sonne und über Freud reden. Der Vater wird alt sein und die Hand aufs Knie seines Sohnes legen. Die schrecklichen alten Zeiten sind vorbei.

You have a son! You have a son! This cannot fail to have consequences. You as a father, a man, have a child, a son, a little man on the way to becoming a big man one day. That we are both men is unquestionable. It’s all too obvious, requires no reflection, this evidence of our manhood (when the son leans his back against his father’s knee, gently swaying: an almost nonchalant position) is actually a kind of light that cannot possibly fade, let alone vanish. There are few things that show themselves with such self-evidence, few that are so unclouded by resentment and doubt: once felt, it becomes what was and is always felt. Continuity of a deep and unvarying feeling: we are both men. This concordance entails a good fortune, which is baffling only at first glance. But then something is revealed, one’s portion in, and partaking of, a principle, the masculine principle, which sounds like a prophesy: Go forth and act from this principle and thereby give it shape! From the clarity you possess by virtue of this principle, there flows a zest for action, for every principle wants to act and make itself useful! Make use of yourself, then, baby man! In order for this to happen, the principle must first become acquainted with itself. This acquaintance can only find its foundation in the commonality of father and son. If there is a flow, if the current from father to son is allowed to flow without hindrance, and if the reciprocal current from son to father is permitted to flow at liberty as well, then the principle flows directly into the ideal. (This is a rhapsody, of course. The narrow mind of the our present day immediately objects to such enthusiasm. So let this be our first manly deed, to declare the rights of enthusiasm and, if necessary, free it from restraint by those who deny it the right of speech. Life is a happy performance, or rather, it has the wherewithal for every kind of happiness. And the activity of the beginning is the father’s attention to the son. The son’s attention to the father is natural attention, which the father allows to be as it is by the act of his own attention. Once again: life is a fortunate accident. And it is an especially fortunate chance to be a father, now the father of a son. That too is a principle, which can be transmitted from the father to the son and flow from the son to the father: to contemplate life, not from the position of a problematic, but instead to remain, each time all over again, in the view of enthusiasm – which can be calm and still –, a kind of absorption in joint contemplation that is palpable but unassailable. And this: It is not I who will show it to the world, but we who will show it together – rhapsodically, we men!) You have a son! This cannot fail to have consequences! Of course sooner or later Sigmund Freud will have something to say about this (before Moses, before God the Father Himself). Freud speaks as son and father, possibly more as a son who has taken the place of the father. Ever since Freud, Oedipus is omnipresent, sometimes loudly, sometimes quietly (Freud: a truly great writer. This is how I see him most clearly: as a writing man. Who with joy and with style brings unique, unmistakable thoughts to the page. Who trusts his own wayward, stubborn mind, yet never denies his limitations. Who delves into cosmic interconnectios, yet always keeps his feet on the ground, on Mother Earth. Unwavering as any founder of a religion, and unto this day his thought provokes rivalry and opposition of a virulence that has hardly ever been launched at any man’s reputation. Everyone has an opinion about Freud. How many have read him, how many have read about him or read him in such a way as to sidestep him altogether? In conversation with others, a reflexive skepticism springs up, fundamental doubt and mistrust arises, there is much shaking of heads. Comments on Freud are often dismissive and haughty. The numbers of people who have seen through and gone beyond him appear to be many. Quite often one encounters a fear that seems to recommend a change of subject. Freud appears to be dangerous somehow, one could be implicated, when it’s already hard enough to arrive at a modicum of self-determination. But he is just a writer! A man who writes, about fathers and sons among other subjects. That is how I see him most clearly: the man who writes about men. A person who writes is living a fiction. The fiction is great, even grand, when the one who brings it into the world is a great writer. Freud is great, enthralling, exciting, demanding, a little uncanny. He touches the mind and the heart to the same degree that Shakespeare and Goethe do. Freud is a writing father whose stories touch his readers like the fairytales of our childhood. The great and beautiful fairytale of the father and the son, that is Freud’s fairytale, with instalments. It runs through many texts, transforms itself, expands through the centuries, shrinks and becomes small at the moment when it is heard. Here in this room it is telling itself, this fairytale. In conversation with others there is also admiration and respect, almost awe. The good father, who only tells stories about life and never ceases to tell stories about life, who speaks of the role model, but who is much too good and skilled a storyteller to be that role model himself. Perhaps his fiction is a form of demolition work, his stories are a kind of liquid dynamite, fist bitter, then sweet, that blasts into light from the depths of his listeners’ minds their own thoughts and feelings, because it trickles into the finest crevices, the subterranean ones and the unearthly ones as well.) Freud, then: it, he, can strike anyone. Is it not possible that Freud is right? What does this mean for me, the father? It will be best if I put a piece of Freud next to my son (who – as his bite on my thumb suggests – is presently at the oral-cannibalistic stage. I need to put brakes on his wish to devour this fatherly personage that I am, as his small, still almost new incisors are of a sharpness that is noticeably painful. You could identify with me in a different way, I try to distract him, but this only helps briefly, perhaps in part because it is not clear to me either how else he might identify with me. Furthermore, my wish not to be bitten is only halfheartedly expressed, for his bite feels fascinatingly pleasant. And then, in addition, there is this little fantasy: What if my son were to devour me completely? Where would I end up?). Freud, then: In its simplified form the case of a male child may be described as follows. At a very early age the boy develops an object-cathexis for his mother, which originally related to the mother’s breast and is the prototype of an object-choice on the anaclitic model; the boy deals with his father by identifying with him. For a time these two relationships proceed side by side, until the boys wishes in regard to his mother become more intense and his father is perceived as an obstacle to them; from this the Oedipus complex originates. His identification with his father then takes on a hostile coloring and changes into a wish to get rid of his father in order to take his place with his mother. Henceforward his relation to his father is ambivalent; it seems as if the ambivalence inherent in the identification from the beginning had become manifest. An ambivalent attitude to his father and an object-relation of a solely affectionate kind to his mother make up the content of the simple Oedipus complex in a boy. I, then: I look at my son, feel the warmth rising from his head, a fragrant warmth, still baby warmth – and seek in the visible child the invisible desire. I find agreement with my son, but this agreement is furnished with a clear warning: we will not go too far with this. In the outer world. In the inner world we fill it out completely: we two messengers of manhood. The desire to get rid me is obvious, but it vanishes as quickly as it arises. Sometimes I am pushed aside, rudely abandoned, when you, his mother, approach, but not always. To take it personally would strengthen the Oedipus Complex; not to take it personally would render it glassy, as it were, or airy, insubstantial, but without dissolving it entirely. The wish to get rid of the other is something we share, incidentally; when it shows up it seems like a rather crass joke we play once in a while, and it produces an odd mutual understanding, odd in the way baby humor can be odd at times. However, dramatic Oedipal developments will not take place between us, and this is not because the Oedipus Complex is wrong, but because Freud observed parental life under circumstances that must have led him to overlook something. The manifestations of the Oedipus Complex cannot be observed independently of the father’s presence or proximity. (Indeed, we are speculating now, conceivably the future will refute us. After all, along with idealistic enthusiasm, speculation is one of our passions.) It makes a great difference whether the father is present from the beginning, in a proximity that is comparable if not equal to that of the mother, or whether he is not there, a father whose presence is subject to temporal variations which the baby cannot fail to register. And of course the baby will feel his absence even more. Only someone who is there is there. Making the female, nourishing breast more powerful than nature has already made it is a strange excuse for paternal distance. We believe that the father’s nearness from the beginning will transform the Oedipus Complex, will deprive it of its tragic and dramatic soil, that fertile ground of uncertainty, continually ploughed by the discontinuity of the father principle. Only someone who is there is accepted and not regarded as a disturber, an intruder, an enemy. To be there means: only to be there and to do what is needed. The paternal possibilities are great, the male is changing, very slowly, but we are both working at it in ways that are hard and soft. We bite each other’s finger (no, I less so, it happened once accidentally, my son’s scream of pain was great. Our comparative outer strength is too different. It is quite different with our inner strengths. We are gnawing with equal strength on the same complexes). If the father is there, the son can lean on his leg for as long as he wants, one arm laid over his knee, as if sitting in a cabriolet. The time the two of them spend together, the important time of the beginning, the most important time, defuses this powerful complex. Oedipus can look his father in the eye, recognize him, smiling, and wish he would go to hell. The father will look his Oedipus in the eye, recognize him, smiling, and allow him a free hand. Then they will sit down on a bench to gaze at the setting (or rising) sun and talk about Freud. The father will be old and will place a hand on his son’s knee. The terrible old days are over.

 

 

 

 

 

 

Das zweite Jahr

9

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Einer der großen Meister, der größte vielleicht, ein wahrer Meister in jedem Fall (und nicht so ein kleiner betrügerischer Meister wie unser Baby, der gerade dabei ist, seiner eigenen Meisterschaft zu entwachsen oder aus der Einfachheit seiner anfänglichen Existenz hinüberzutreten ins komplexe Dasein aus Vorlieben und Abneigungen, das wir schon seit sovielen Jahren unsere Heimat nennen), dieser Meister also (aber das ist ungerecht unserem Baby gegenüber, denn ihm ist doch jede Form des Betrugs fremd, und wenn wir glauben, es täuscht uns, dann geht es dabei weniger um ein Kommunikationsproblem als um unsere großen Schwierigkeiten, das Wahre zu erkennen, ja, dabei fehlt es uns ebenso am Willen wie an der Fähigkeit, unseren Mund an die Wand zu hängen, wir können das ruhig gestehen, außer unserem Baby kann uns ja niemand hören), Meister Dogen also (der unserem Baby nur sehr entfernt ähnlich sieht, doch ein bißchen: die vollen Lippen, die alle möglichen Frauen in Kusslaune versetzen und das wenige, dünne Haupthaar, das die Schönheit des Schädels zur Geltung bringt und die Augen, die Augen, die sich nicht so leicht vom einmal Erfassten ablenken lassen, mondtreue Augen), dieser große Meister, der kein Thema nicht sein Thema werden lässt, sich also  auch der Familie zuwendet (Familie!: kein erschütterndes, aber ein erschüttertes Wort. Ein Beben ist durch dieses Wort gerollt, nicht einmal, nicht zweimal, hunderte Male, besonders in jüngerer Zeit, und mancher unterirdische Hohlraum, der plötzlich sichtbar wurde und schon drohte, das ganze Gebilde zum Einsturz zu bringen, schien berechtigte Gründe zu liefern, die Familie in ein schlechtes Licht zu rücken. Nun aber zeigte und zeigt die Familie ihre Stärke, zeigt sich getragen von einer besonderen Kraft, gleichsam immun gegen Hohlräume oder vielmehr gestärkt durch die Entdeckung eigener Tiefe und Hintergründigkeit, dass man aus dem Staunen nicht wieder herausfindet. So geht es uns: wir staunen über die Energie, die der Familiengeist aus sich herausfördert mit nicht absehbarem Ende, wundersames Sprudeln!), Meister Dogen, was spricht er von der Familie? (Meister Dogen: schon mit zwölf Jahren ist er in ein Kloster eingetreten, ein Kind, das Mönch wird, regt unsere Spekulation an. Müsste nicht eigentlich jedes Kloster nicht nur von einem Kind, vielmehr von einem Baby geführt werden? Kann uns nicht ein Zwölfjähriger und erst ein Baby viel besser belehren, als ein Erwachsener es je könnte? Steht nicht das Kind, das Baby an der Spitze der Familie, läuft es – selbst, wenn es noch nicht laufen kann – gewissermaßen vorneweg, dorthin, wo wir alle hin wollen, müssen, sollen?) Meister Dogen (wir wollen uns erinnern, wer Meister Dogen war, ist. Ein Mann des Zazen, der Mann des Zazen, ein Ursprungsmann, dessen Erläuterungen des Dharma, der juwelischen buddhistischen Lehre, höchst komplex und schillernd sind, niemals ins Leere laufen und dessen Worte sich gleichsam in unseren Körper versenken, in dem Sinne, wie wir die Laute unseres Babys nicht bloß hören, sondern spüren, wie sie in uns schwingen und Schwung in uns bringen). Meister Dogen über Buddhas Lehre, den achtfachen edlen Pfad, Nummer vier, rechtes Handeln (um Eines klar zu stellen: wir befinden uns alle auf einem Weg, dem Weg, egal, ob wir von uns glauben, die radikalsten Atheisten zu sein oder die fanatischten Gotteskrieger, ob wir gewissenhafte Wissenschaftler sind oder lustvolle Schwätzer, skeptische Künstler oder gierige Finanzjongleure, ob unglückliche Mörder oder glückliche Stars, Tierpfleger, Marathonläufer – wir alle sind auf dem Weg, wir alle hören Meister Dogen, auch, wenn wir etwas ganz Anderes hören und etwas ganz Anderes hören wollen. Natürlicherweise befinden wir uns auf dem Weg zur Wahrheit, ob wir dabei vor Anstrengung schwitzen, in Gold baden oder den Kopf gegen die Wand schlagen, wohin sonst sollten wir unterwegs sein? Es ist eine Frage herzlicher Logik, deren Existenz man abstreiten kann und nicht abstreiten kann. Wir bezweifeln das Tun, unser Tun, unser tägliches Tun. Wir bezweifeln die Tat nicht nur, wir glauben nicht an die Tat. An unsere Tat. (Wahrscheinlich gab es nie eine Zeit, in der das Handeln, das eigene Handeln so sehr in den Mittelpunkt des Lebens gerückt ist wie in unserer Gegenwart, die aus dem eigenen Tun einen Fetisch der Anbetung gemacht hat und weiterhin macht. Sehen wir dabei ruhig auf unser Baby, auf seinen herrlichen Aktionismus, seinem Puls, der in der ganzen Welt schlagen will.) So spricht Meister Dogen: „Rechtes Handeln“ als ein Glied des achtfachen Pfades ist, Haus und Familie zu verlassen, um die Wahrheit zu erlernen … Wollen wir zur Wahrheit kommen, sollen wir unsere Familie verlassen? Was?! Die Familie als ein Hindernis auf unserem Weg der Erkenntnis und Selbsterkenntnis betrachtet, verurteilt, verachtet? Meister Dogen schränkt ein: nur die, die Nachfolger im Rang eines Buddhas werden wollen, müssen fähig sein, ihre Familien zu verlassen. Und wir wollen doch keine Buddhas werden! Und wir wollen doch Buddhas werden!! Warum sonst folgen wir unserem kleinen Babybuddha (sandverklebter Nasenrotz hängt auf seiner Oberlippe, wir brauchen ein Tempo), warum sonst unsere tägliche Übung, wenn wir nichts damit erreichen wollten? Meister Dogen spricht uns Laien die Fähigkeit, die Wahrheit zu erforschen, ab, nur der, der seine Familie verlässt und Mönch wird oder Eremit, ihm allein soll vorbehalten und möglich sein, was doch nichts anderes ist als innerste, oberste Ziel eines jeden Menschen. Kein Wunder, dass die Wahrheit sich das irgendwann nicht mehr hat gefallen lassen und ihre familiäre Seite wenn auch noch nicht offenbart, so doch mehr und mehr offenlegt. (Da juckt uns eine Polemik, all die Kinder, oft noch Babys, fallen uns ein, die, in verschiedenen Einrichtungen früh verbracht, ja, von früh bis spät, weil die Eltern ihren Dienst an der Arbeit verrichten müssen und wollen – elterliches Verlassen der Familie, das eigenartig rührt und aufrührt, verkehrt herum angewandter Meister Dogen?) Stelle dir nur vor, sage ich zu dir, sagst du zu mir, du verlässt deine Familie. Stelle es dir vor, du gehts, von heute auf morgen, weil du dich auf die Suche machen willst nach etwas Größerem, etwas, das so groß ist, dass selbst deine kleine Familie bei der Suche danach nur stören würde. Wir stellen es uns vor, du stellst es dir vor, ich stelle es mir vor: wir verlassen die Familie, um die Wahrheit zu finden (oder das Glück, den Reichtum, den Erfolg – sind nicht alle drei ihre irdischen Stellvertreter?). Es fällt nicht leicht, einem großem Meister zu widersprechen, Meister Dogens gelehrter Reichtum ist so beeindruckend, dass uns unser Widerspruch wie Frevel erscheint, nicht, weil wir uns dadurch kleiner machen, als wir sind, nicht, weil wir uns dadurch größer machen, als wir sind, nein, weil wir dadurch ganz genau sind, wer wir sind. Also, ehrwürdiger Meister Dogen, wir glauben, wissen, denken, fühlen, dass sich uns die Wahrheit nur nähert und wir uns unsererseits der Wahrheit nur nähern, wenn wir nicht nur in der Familie bleiben, sondern tiefer und weiter in sie hineinwachsen, wir glauben, dass der wahre Mensch nur der Familienmensch sein kann (aber wir glauben nicht, müssen wir hinzufügen, dass der, der kein Familienmensch ist etwa der unwahre Mensch wäre), aus dem einfachen Grund, dass unser kleiner großer Meister, unser Baby nur in der Familie wirkt und wirken kann, dass er uns täglich zeigt, was du in der heiligen Zazenhalle mit vielleicht der gleichen Mühe zu üben lehrst, ja auch wir leben in einer Halle der Stille, auch wenn es sich oft anhört, als würden wir in einer Halle des Lärms leben. Rechtes Denken, sagst du, ist nichts anderes als ein verschlissenes Zazenkissen. Rechtes Denken, sagen wir, ist nichts anderes als ein zerschlissener Body (oder eine verschissene Windel). Übrigens ist die Familie nichts, das wir besitzen und umgekehrt sind wir auch nicht Besitz der Familie. Die Struktur, die sie unserem Leben gibt, kann sie ihm noch mit dem gleichen Atemzug wieder nehmen. Das Band, das uns verbindet, bindet uns nicht etwa, wie man glauben könnte, sondern seine Verbindung löst die Lebensknoten – ein bißchen paradox denken auch wir. Du merkst, wir geraten gerade in die reinste Familienschwärmerei, die wir leichtsinnig zu dir hin, über die achthundert Jahre, die uns trennen, hinüberschicken, weil es uns eine Freude ist, uns den alten Meistern zuzuwenden, wie es uns eine Freude ist, uns den jungen Meistern zuzuwenden: hörst du ihn rufen? Unser Baby ruft. Es ruft nach dir: Do-gen, Do-gen, Do-gen.

One of the great Masters, the greatest perhaps, a true Master in any case (and not a little fraud of a Master like our baby who is right now in the process of outgrowing his mastery or stepping out of the simplicity of his original being into that complex existence made of likes and dislikes which we have been calling home for so many years); this Master, then (but that is unfair to our baby, for he does not know any kind of deceit, and when we think he is misleading us, it’s usually not due to miscommunication so much as it is to our own great difficulties in recognizing what is true: this is something for which we lack the will and also the ability to hang our mouth on the wall, we might as well admit it, no one can hear us except for our baby); Master Dogen, then (who bears only a very remote resemblance to our baby, but still a resemblance: the full lips that put all sorts of women in a kissing mood, and the sparse hair on his head, which enhances the beauty of the skull, and the eyes, the eyes, which are not so easy to distract from whatever they may have settled on, moon-drawn eyes), this great master who permits no subject not to become his subject, and who consequently also gave thought to the family (family!: not a shocking word, but a shocked one, shaken. A rumbling quake has rolled through this word, not once, not twice, hundreds of times, especially in recent times, and many a subterranean hollow space that suddenly became visible and was already threatening to cause the whole edifice to collapse seemed to offer sound reasons for moving the family into an unfavorable light. But now the family showed and shows its vigor, shows itself to be sustained by a very special strength, immune, as it were, to hollow spaces, or rather, fortified by its own newly realized depth and subtleness, and this is so astonishing that one never ceases to be amazed. That is how it is with us: we are amazed by the energy that the family spirit manages to produce from itself, with no end in sight, this wondrous bubbling effervescence!); Master Dogen, what does he say about the family? (Master Dogen: he joined a monastery at the age of twelve; a child who becomes a monk – here is something to speculate about. Should not every monastery be led by a child, or rather by a baby? Can a twelve-year-old, and even more so a baby, not teach us much better than any adult possibly could? Is the child, the baby, not at the head of the family, is this infant not walking – even if it cannot walk yet – ahead, so to speak, going where we all want to, must, should go?) Master Dogen (let us remember who Master Dogen was, is. A man of Zazen, the man of Zazen, a man of origin, whose explanations of the Dharma, the jewel-like teaching of Buddhism, are highly complex and dazzling and never strike a dead note, whose words take root in our body, as it were, just as we not only hear our baby’s sounds but feel them vibrating within us and enlivening us). Master Dogen about Buddha’s teaching, the noble eightfold path, Number Four, right action (to clarify one thing: we are all on a path, the path, no matter whether we consider ourselves to be the most radical atheists or the most fanatical holy warriors, whether we are conscientious scientists or sensuous gasbags, skeptical artists or greedy finance jugglers, unhappy murderers or happy stars, animal caretakers, marathon runners – we are all on the path, we are all hearing Master Dogen, even when we are hearing and wanting to hear something quite different. Naturally we are on the path to truth, no matter if we are sweating from the exertion of being on our path, or if we are bathing in gold or knocking our head against the wall, where else would we be going? It is a matter of heartfelt logic, whose existence can be denied and not denied. We have doubts about action, our own action, our daily activities. We not only doubt action, we don’t believe in it. In our action. (Probably there has never been a time when action, one’s own action, has played such a central part in life as it does in our time, which has made and continues to make one’s own act a fetish-like object of blind adoration. Let us consider our baby, his glorious actionism, his pulse that wants to beat in the whole world.) Thus speaks Master Dogen: “RIght action” as part of the eightfold path means to leave home and family in order to learn the truth . . . Do we want to arrive at truth? Should we leave ur family? What?! The family regarded, judged, despised as an obstacle on the path of realization and self-realization? Master Dogen qualifies: only those who want to be followers of a Buddha’s rank must be capable of leaving their families. And we don’t want to become Buddhas! And yet we do want to become Buddhas!! Why else would we follow our little Babybuddha (a mix of snot and sand hanging off his upper lip, we need a tissue), why else our daily practice, if we don’t want to achieve anything with it? Master Dogen disputes the capacity of us lay people to study the Truth, only one who leaves his family and becomes a monk or a hermit, only such a person is granted the possibility of attaining what surely cannot be anything but the inmost and supreme goal of every human being. No wonder the Truth at some point took objection and is now, if not revealing its familial side, at least laying it open to view. (And here a tempting polemic occurs to us, we’re thinking of all those children, often still babies, who are taken to various institutions early in the day, indeed from the early to the late hours, because their parents have to and want to work – parents leaving the family, a strangely touching and upsetting thought, Master Dogen applied the wrong way around?) Just imagine, I say to you, you say to me, imagine leaving your family. Imagine leaving, from one day to the next, because you want to set out in search of something greater, something that is so great that even your little family would only get in the way of your search. We imagine it, you imagine it, I imagine it: we leave the family in order to find the Truth (or happiness, wealth, success – are not all three of them Truth’s representatives on earth?). It is not easy to contradict  a great Master, Master Dogen’s wealth of erudition is so impressive that our contradicting him seems like  sacrilege, not because the act makes us smaller than we are, not because it makes us bigger than we are, no, because, in doing so, we are precisely who we are. So, honorable Master Dogen, we believe, know, think, feel that Truth is only approaching us and that we for our part are only approaching Truth when we not only remain in the family but grow deeper and further into the family; we believe that the true human being can only be a family man or woman (but we do not believe, we must add, that one who is not a family man or woman is for that reason not the true human being), for the simple reason that our little great Master, our baby, is only active and can only be active within the family, that he shows us each day what you in the holy Zazen hall are trying to teach with a zeal that is no doubt equal to his; yes, we too live in a hall of silence, even though it often sounds as if we were living in a hall of noise. Right thought, you say, is nothing other than a frayed Zazen cushion. Right thought, we say, is nothing other than a frayed bodysuit (or a shit-covered diaper). By the way, the family is not something we own, and inversely, we are not in the family’s possession. The structure that the family gives to our life, it can also take way from us with the same breath. The ties that bind us are not ties of bondage, as one might think, but rather, these bonds loosen the knots of life – a bit paradoxical, in our view as well. You notice us going into raptures about the family and thoughtlessly sending them over to you, across the eight hundred years that separate us, because it is a joy for us to turn to the ancient Masters, just as it is a joy to turn to the young Masters: do you hear him calling? Our baby is calling. He’s calling you: Do-gen, Do-gen, Do-gen.