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Das erste Jahr Babybuddha jetzt auf:
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Ein Bild in der Tageszeitung zeigt einen Vater und einen Sohn. Der Sohn trägt ein gelbes, ärmelloses Shirt und eine gelbe kurze Hose und sitzt auf den Schultern seines Vaters. Mehr auf der linken Schulter als auf der rechten, sein linkes Bein hängt fast bis zum Bauch des Vaters, das andere Bein ist angewinkelt, der Fuß liegt auf dem Schultergelenk. Das Kind ist vielleicht eineinhalb oder zwei Jahre alt. Es sitzt sicher, hält sich nicht mit den Händen fest. Sein Blick ist in die Ferne gerichtet, womöglich auf den Fotografen. Der Junge hat glatte schwarze Haare, kurz und ordentlich geschnitten, die gleiche Frisur wie der Vater, dessen Haare noch etwas schwärzer sind. Der Vater trägt ein dunkelgraues T-Shirt mit hellgrauem Kragen und eine blaue, vermutlich kurze Sporthose. Vermutlich, weil er bis zu den Oberschenkeln im Wasser steht. Die beiden sind auf einer überfluteten Straße in Sri Lankas Hauptstadt Colombo unterwegs. Der Vater hält in der rechten Hand einen Stock, dessen anderes Ende ins Wasser getaucht ist. Der Blick des Vaters ist nach unten gerichtet, sein Mund soweit offen, dass die weißen Zähne sichtbar sind, es könnte sein, dass er gerade etwas sagt oder eben gesagt hat. (Vater-Sohn-Bilder reden. Sprechen mich an. Auf eine ganz und gar andere Art, als die Tausende und Abertausende Mutter-Sohn-Bilder, Zentrum und Kern der christlichen Ikonographie, denen man nicht entkommen kann, wenn man Kirchen und Museen der bildenden Kunst besucht. Oder auf einem Spielplatz sitzt oder einer Wiese oder in einem Café, auf und in dem sich Mütter mit Kindern mit Müttern mit Kindern treffen. Das Mutter-Sohn-Bild ist ein gewohntes Bild, selbst wenn man die Kunst beiseite lässt, wird dieses Bild jeden berühren, taucht gleichsam in den Betrachtern von Mutter und Sohn zusätzlich selbst auf, als würde die Innigkeit zwischen Mutter und Sohn ursprünglicher und wahrer sein als die zwischen Vater und Sohn. Wenn diese Innigkeit überhaupt sichtbar wird. Manchmal lassen sich Sportler nach einem großen Sieg ihre kleinen Söhne in die Arena hinunterreichen, als hätten sie den Sieg auch ein wenig für diese errungen oder vielleicht sind sie auch erleichtert, nach der Schlacht lebendig und unverletzt ihren Nachkommen wiederzubegegnen. Die Innigkeit zwischen Vater und Sohn tritt spärlicher auf und weniger selbstverständlich. Man stelle sich nur Gott und seinen Sohn Arm in Arm vor, sichtbar, kaum, dass man eine Kirche betreten hat, in jeder Seitenkapelle, jedem Seitenschiff würde man dieses Bildnis finden und groß und mächtig in der Apsis über dem Altar oder gar das Gewölbe darüber vollständig schmückend. Gott aber lässt sich schwer umarmen, selbst von seinem eigenen Sohn nicht.) Der Sohn im gelben Dress auf den Schultern seines Vaters. Beide sind für sich und doch auf eine ungezwungene Weise zusammen. Sie kennen sich, sind vertraut miteinander, der Sohn sitzt nicht das erste Mal auf den Schultern seines Vaters. Die beiden wirken zufrieden, wie sie da die überflutete Straße entlangwaten, sie haben keine Eile, sie folgen niemanden und niemand folgt ihnen, womöglich haben sie kein Ziel oder wenn sie ein Ziel haben, dann verfolgen sie es nicht mit besonderer Dringlichkeit. Ein modernes Bild. Das Vater-Sohn-Bild ist moderner, aktueller, spannender als das Mutter-Sohn-Bild. Für einen Moment erscheint es mir sogar (auf diese watende Weise) revolutionär, gestatten sich diese beiden Männer (der große und der kleine Mann) doch eine Form selbstbewusster und respektvoller Nähe, die womöglich einem Ideal von Nähe nahe kommt, wie etwas überhaupt nur einem Ideal nahekommen kann (im Mutter-Sohn-Bild ist das Ideal wirklich geworden; jetzt, bei der Betrachtung dieses Fotos in der Zeitung, finde ich das ein wenig schal, gerade wegen diese Verwirklichung). Das Vater-Sohn-Bild spricht, der gelb gekleidete Junge und sein Vater sprechen zusammen, aber nicht mit einer Stimme. Bei längerer Betrachtung wächst die Schönheit des Bildes. Seine Deutlichkeit und Klarheit. Bei längerer Betrachtung spricht es immer weniger, leiser, bis es gar nicht mehr spricht. Oder man könnte sagen, das Bild spricht für sich. Zu dem Bild in der Zeitung gehört noch eine Bildunterschrift. In ihr heißt es: Die Einwohner von Sri Lankas Hauptstadt Colombo leiden unter der Flut. Es ist nicht ungewöhnlich, dass die Bildunterschrift in Zeitungen häufig wenig mit dem Bildinhalt zu tun hat, dass die Bildunterschrift viel mehr Interpretation als Beschreibung des Sichtbaren ist, aber hier ist die Differenz außergewöhnlich groß. Denn dieses Bild zeigt eines ganz gewiß nicht: Leiden. Die Bildunterschrift verkehrt den Inhalt des Bildes geradezu in sein Gegenteil (mutwillig, aus Gedankenlosigkeit, weil gerade kein anderes Bild verfügbar war? Aber Gedankenlosigkeit gibt es doch gar nicht! Wer wäre je einen Augenblick ohne Gedanken gewesen?). Gibt es, dort, wo man ist, eine Überflutung, so muss gelitten werden. Doppelt, denn der Vater hat ja noch seinen Sohn bei sich, trägt also auch die Sorge um dessen Zukunft auf den Schultern! So oder so ähnlich mag jemand gedacht haben, der die Bildunterschrift verfasst hat und er (oder sie) wird damit bei einem großen Teil der Bildbetrachter ins Schwarze getroffen haben (ins Schwarze der Seele, wo Angst und Not hausen). Und doch ist diese Verdrehung sehr seltsam, wenn man bedenkt, wie stark die beiden, Vater und Sohn, wirken, wie wenig verzagt, geradezu glücklich. Glücklich jetzt, da sie beisammen sind und durch die überflutete Straße waten, sich genügend, sorglos in ihrer möglichen Sorge, ob das Wasser wieder abfließen und über die Schäden, die es hinterlassen wird. Nein, die beiden leiden nicht und das ist so offensichtlich, dass es an ein Wunder (ein düsteres Wunder) grenzt, es zu übersehen oder nicht zu sehen. So kommt es mir vor: Das Glück ist unsichtbar (wie für den Vater der Sohn, den er auf den Schultern trägt fast unsichtbar ist), das Leid ist sichtbar, jederzeit, gleich, ob ausgedacht oder nicht, und das sichtbare Glück kann gegen das unsichtbare Leid wenig ausrichten. Nein, so kommt es mir vor: Das innige Vater-Sohn-Bild ist zu neu, zu modern, zu schön, um wahr zu sein. (Mein Sohn wartet, wir wollen jetzt durch die sonnigen Straßen der Stadt laufen, später Nachmittag, er wird auf meinen Schultern sitzen, wir haben es noch nicht oft ausprobiert, aber jetzt wollen wir es unbedingt so machen. Wir wollen etwas herausfinden. Ein paar Bilder anschauen, draußen im Freien.)
A picture in the newspaper shows a father with his son. The son is wearing a yellow, sleeveless shirt and short yellow pants and is sitting on his father’s shoulders. More on the left than the right shoulder, his left leg is hanging down almost to the father’s belly, the other leg is bent with its foot by the father’s shoulder joint. The child may be a year and a half or two years old. He is sitting securely, is not even holding on with his hands. He is gazing into the distance, possibly at the photographer. The boy has smooth black hair, short and well cut, the same barber as the father, whose hair is a little bit blacker. The father is wearing a dark gray T-shirt with a light gray collar and blue pants, presumably shorts. Presumably because he is standing in water up to his thighs. The two of them are moving along a flooded street in Sri Lanka’s capital, Colombo. The father is holding in his right hand a stick whose other end is dipped into the water. The father’s gaze is directed downward, his mouth is open, so that his white teeth are visible; possibly he is saying something or said something a moment ago. (Father-son images speak, and speak to me. In a very different way than the thousands upon thousands of mother-son images, the center and core of Cristian iconography, inescapable when one visits churches and art museums. Or when one sits in a playground or on a meadow or in a café where mothers with children meet with mothers and children. The mother-son image is a familiar image, and even when one sets art aside, this image will touch everyone, and will arise as a kind of additional mother-son image in the observers of mothers and sons, as if the closeness between mother and son were more primal and more true than the closeness between father and son. If such closeness even becomes visible. Sometimes athletes have their little sons handed down to them into the arena, as if they had won their victory in part for their sons, or perhaps they are relieved to be able to meet their offspring alive and uninjured after the battle. The intimacy between father and son is less frequently seen and is therefore not as unsurprising. Imagine God with his son on his arm, a visible presence the moment you enter a church, and seeing this image powerfully represented in every side chapel, every side aisle, in the apse above the altar or even gracing the entire vault above it. But God is difficult to embrace, even for his own son.) The son in his yellow clothes on his father’s shoulders. Each of them is on his own and yet they are at ease together. They know each other, are familiar with each other, it is not the first time the son has sat on his father’s shoulders. They both seem content, wading along the flooded street, they are not in a hurry, they are not following anyone, nor is anyone following them, conceivably they have no destination, or if they do have a destination, they are not approaching it with particular urgency. A modern image. The father-son image is more modern, more current, more exciting that the mother-son image. For a moment it even strikes me (in this wading sort of way) as revolutionary, for these two men (the big and the little man) are allowing themselves a form of self-confident and respectful closeness that perhaps comes close to an ideal of closeness, as of course anything can only come close to an ideal (in the mother-son image the ideal has become real; now, as I look at this photograph in the newspaper, I’m finding that a little shallow, precisely because of this realization). The father-son image speaks, the boy dressed in yellow and his father are talking to each other, but not with one voice. The longer one looks at this picture, the more its beauty grows. Its clarity and self-evidence. The longer one looks, the less it speaks, the less audible the speech becomes, until it no longer speaks at all. Or one could say the picture speaks for itself. The picture in the newspaper comes with a caption, it says: The residents of Sri Lanka’s capital Colombo are suffering from the flood. It is not unusual for the captions of pictures in newspapers to say things that have little to do with the pictures’ content, furnishing interpretation rather than a description of what can be seen, but here the difference is exceptionally great. For there is one thing this picture definitely does not show: suffering. The caption virtually turns the content of the picture into its opposite (deliberately, out of thoughtlessness, because no other picture was available at the moment? But there is no such thing as thoughtlessness! Who in the world has ever been without thoughts for so much as a moment?). If there is a flood in the place where one is, there must be suffering. Doubly, for the father has his son with him, so he is bearing concern for his son’s future on his shoulders as well! Some such thoughts may have crossed the mind of the person who wrote the caption, and he (or she) will have hit the bullseye among a large number of the people who looked at the picture (the blind eye of the soul where fear and affliction dwell). And yet this inversion is very strange if one considers how strong these two, father and son, appear, how undaunted, how downright happy. Happy now that they are together, wading through the flooded street, sufficient to themselves,