DAS ZWEITE JAHR – 29

29

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Du Sohn, ich Vater! So beginnt Tradition (die längst begonnen hat, aber am liebsten im stillen Hintergrund ihre Kontinuität spinnt): ich bin einige Jahre länger da, meine Zeit geht der Zeit unseres Babys voran, der Augenblick meiner eigenen Geburt, ja, Auferstehung, Entstehung, meiner Selbstschöpfung, meines Geschöpftwerdens, meines Traumeintritts, meines Denkanfangs, meines ersten Gefühls – all das war da, bevor das Baby da war, bevor es selbst mit all dem daherkam, sich zeigte, sich zu uns neigte. Sohn, Vater, Vater, Sohn, so geht es fort und immer weiter (und es zeigt sich in dieser kleinen Relation Vater-Sohn oder Sohn-Vater, wie undenkbar das Leben und sein Fortgang sich erweisen. Wie soll man das verstehen, dass der Vater ein Sohn war, selbst bevatert von einem Vater, der selbst Sohn war? Eine so unmögliche Aufgabe für jedes Nachdenken, dass es doch naheliegt, in ihr etwas sanft Ironisches zu vermuten, das sich um so mehr verstärkt, wenn ich meinem Sohn in die Augen blicke, in die tiefe Vergangenheit seines Augenlichts, wie in sein weites zukünftiges Strahlen. Ich erkenne mich wieder in meinem Sohn und ich glaube behaupten zu dürfen, – wenn auch auf andere Weise – mein Sohn erkennt sich in mir, seinem Vater wieder. „Denn dem Menschen ist am Wiedererkennen gelegen; er möchte das Alte im Neuen wiederfinden und das Typische im Individuellen. Darauf beruht alle Traulichkeit des Lebens, welches als vollkommen neu, einmalig und individuell sich darstellend, ohne daß es die Möglichkeit böte, Altvertrautes darin wiederzufinden, nur erschrecken und verwirren könnte.“  schreibt Thomas Mann in seiner Rede zum 80sten Geburtstag Sigmund Freuds, betitelt Freud und die Zukunft. Eine ebenso kluge wie rührende Rede, die der eine Sohn dem anderen Sohn, da er an der Festveranstaltung zu seinem  eigenen Geburtstag nicht teilnehmen wollte, bald danach persönlich in (Wien-)Grinzing vorlas. Oder der eine Vater las dem anderen Vater seine Rede vor. Oder vielleicht so: Der eine liest als Sohn dem anderen, neunzehn Jahre älteren Vater seine Rede vor. Eine Rede, die eine tiefe Verneigung ist, so tief, wie sich nur liebende Söhne vor ihren Vätern verneigen können. Um dann in der folgenden – und innewohnenden – Aufrichtung sich als selbstbewußter Sohn zu zeigen und zu äußern: der Dichter spricht zum Analytiker und der hört – naturgemäß – zu. Diese Verneigung und Aufrichtung ist auch insofern naturgemäß, als der Analytiker der Ältere und der Dichter der Jüngere ist, obwohl zugleich zuerst der Dichter dagewesensein muß, bevor der Analytiker die Bühne betreten konnte. Unser seinem Babysein entwachsendes Baby ist beides in einem. Unermüdlicher Analytiker, der vor aller zu öffnender Metaphorik ersteinmal jede Art von Tür, Tor, Lade, Klappe, Clip etc. in ihren simplen oder komplizierten Mechanismen erkunden und ergründen will und diese Forschung mit ebenso unermüdlicher Dichtung, die sich von selbst in seiner Kehle und auf seiner Zunge zu erfinden scheint, begleitet. Eine Dichtung, die die Worte wiederholt und wiederholt, knetet und formt, damit sie deutliche Gestalt bekommen und so vielleicht behalten können. Eine Dichtung, die aber auch bereits erfindet, das ist nur zu sehen in der Beteiligung des ganzen Gesichts, des ganzen Körpers und dem Sternenfunkeln der Augen. Mein Sohn, denke ich, und augenblicklich kehrt Ruhe in mich ein. Sein kleiner Zeh dichtet nicht schlechter als seine Oberlippe, die er gerne ein wenig hochzieht, wenn er spricht und lacht. Unser Sohn sieht uns ganz, das heißt nicht nur, dass er uns ganz sieht, sondern uns nicht nur mit dem Auge, vielmehr mit seinem ganzen Körper betrachtet – vielleicht ist es das, seine stets zugleich körperhafte Geistigkeit, die erst die große Verbindung zwischen uns stiftet). Du Sohn, ich Vater! Kaum ausgesprochen, schon ist der Mythos lebendig. Mein Sohn: genauso geistige wie körperliche Verbundenheit, Reihung, Nachfolge. Wie aber nun, schreibt Thomas Mann, wenn der mythische Aspekt sich subjektivierte, ins agierende Ich selber einginge und darin wach wäre, so daß es mit freudigem oder düsterem Stolze sich seiner „Wiederkehr“, seiner Typik bewußt wäre, seine Rolle auf Erden zelebrierte und seine Würde ausschließlich in dem Wissen fände, das Gegründetet im Fleisch wieder vorzustellen, es wieder zu verkörpern? Und: Das Leben, jedenfalls das bedeutende Leben, war also in antiken Zeiten die Wiederherstellung des Mythus in Fleisch und Blut … Der Mytus ist die Legitimation des Lebens; erst durch ihn und in ihm findet es sein Selbstbewußtsein, seine Rechtfertigung und Weihe. Komm her Sohn, rufe ich, komm her, lass uns unser bedeutendes Leben betrachten! Lass uns den weiten Rückgriff wie den weiten Vorgriff spüren, wie uns beide an Anfang und Ende des Universums jagen, um uns im nächsten Augenblick hierher zurückzuholen. Wir zelebrieren das gemeinsam und jeder für sich und sei es nur, wenn du versuchst auf meine Rücken zu klettern, frühmorgens bei unseren gymnastischen Übungen und ich dich auf mir liegen lassen und meine Dehnung und Streckung unterbreche. Deine Körperwärme, meine Körperwärme. Die Grenzen unserer Körper sind nur undeutlich bestimmbar, als wäre die je eigene Körperoberfläche die je eigene Illusion. Mit Geist aufgeladener Körper sind wir und haben unseren Spaß dabei so zu tun, als wären wir zwei. Der Mythos also beginnt zum Beispiel, wenn wir so beisammen sind, mein Rücken dich trägt, dich, der stolz seine Rolle auf Erden zelebriert, ganz unfeierlich-feierlich im ganz und gar Gewöhnlichen eines beliebigen Morgens. (Tatsächlich kann ich den Stolz heranwachsen sehen im Heranwachsen unseres Babys. Er ist vielleicht entscheidend für die Überwindung des Babys und den Einstieg in den Mythos, in unsere kleine Tradition, die wir im Schatten dieser beiden großen Männer erfinden. Im Schatten: denn dort ist es kühl und die Gedanken überhitzen nicht so leicht.)

DAS ZWEITE JAHR – 28

28

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Am Ende ist alles Traum. Ansatzloser Traum. Dem Traum geht nichts vorher (der Traum, über den man spricht, der nach einem reichen Tag im Schlaf den Träumer überrascht, ist höchstens ein kleiner Traum dagegen), besonders nicht eine traumlose Zeit. Dieser Traum ist vollständig und ihn als Traum zu erkennen, ist keine Kunst, kein logisches Problem, aber auch keine einfache Sache. Anfangs ist das Baby da und wir wundern uns, obwohl wir sein neunmonatiges Reifen begleitet haben (du so, ich so, wir so), woher es kommt. Diese merkwürdige Verborgenheit (in deinem Bauch), die sichtbarste Verborgenheit, mit der wir bekannt sind, sie erhält sich weit über die Geburt hinaus, aber sie ist später, jetzt viel verborgener als sie es damals war. Unser Baby öffnet Türen, spricht eine Sprache und ist jede Stunde, jede Minute, jede Sekunde des Tages da. Von seiner Herkunft will es uns nach wie vor nichts berichten, aber es lässt uns nicht absichtlich im Dunkeln darüber. Es lässt uns unabsichtlich darüber im Dunkeln, was uns heute, da wir fast schon erfahrene Schüler unseres Babys sind, gehörig zu denken gibt. Denn natürlich könnten wir sagen, es kann gar nicht anders, als uns im Dunkeln über seine Herkunft zu lassen, fehlt ihm doch alles in dieser Hinsicht Erhellende: seine unvollständige Sprache (aber nein, sie ist nicht weniger vollständig als unsere), sein Mangel an Verstand (aber nein, sein Mangel ist nicht größer als unserer), seine Abhängigkeit von uns (aber nein, wir sind abhängig von ihm) – nein, wir wiederholen es uns am besten noch einmal: unser Baby lässt uns unabsichtlich im Dunkeln über seine Herkunft, das ist sein Mysterium, seine Rafinesse, sein Glück (es gibt uns nichts zu diskutieren, es gibt uns alles zu spekulieren). Die Unabsichtlichkeit unseres Babys schmiegt sich der Ansatzlosigkeit dieses endgültigen Traums an. Niemals ist es uns möglich zu sagen, wann alles begann, da nichts irgendwann begann (deswegen diese vielen Mythen des Anfangs nichts als Verzweiflung sein können; quälende Versuche, sich ins Rückwärtige zu versichern; das Elend der Religion). Die Geburt unseres Babys: nichts als nur ein Schritt der Entbergung (es gibt unendlich viele Schritte). Wir könnten auch sagen: wir glauben, wenn an etwas, dann an diesen ansatzlosen Traum. Also wollen wir nun absichtlich träumen, uns absichtlich träumen lassen, einen kleinen Traum, kehren noch einmal in unseren Urlaub zurück und beginnen mit dem Mann aus dem Senegal. Es ist wieder diese schöne Stadt, citta murata, citta murata, ruft unser Baby voller Begeisterung, als hätte es gerade eben das Sprechen gelernt. Citta murata ruft es bereits im Auto, während wir noch einen Parkplatz außerhalb der Mauern suchen. Da winkt uns ein schwarzer Mann mit weit ausladendem Schwung seines Arms, winkt uns in eine freie Parkbucht, die wir selbst längst entdeckt haben, eine von vielen freien Parkbuchten, denn wir sind früh dran heute. Der Mann trägt in der rechten Hand eine gut gefüllte Plastiktüte, die linke Hand hat er jetzt, da wir eingeparkt haben und ausgestiegen sind, in die Hosentasche gesteckt. Er bleibt auf dem Fußweg stehen und redet in unsere Richtung. Er lacht ein wenig verkrampft und schaukelt den Kopf dabei. Wir drücken unserem Baby eine Münze in die Hand, die er dem Mann geben soll. Aber es will nicht. Es deutet auf die Plastiktüte des Mannes, eine gelbe Tüte, deren Farbe und Schrift verblichen ist. Wir gehen hinüber zu dem Mann und fragen ihn, woher er kommt. Senegal, sagt er und nickt. Er lebt im Zeltlager in der Stadt mit dreihundert anderen Verdammten. Er sagt Verdammte in unserer Sprache und hebt die Schultern dabei. Wie heißen Sie, fragen wir und im gleichen Moment schämen wir uns für diese Frage. Der Mann schüttelt den Kopf. No name, sagt er, no name is a good name. Er blickt ein bißchen unfreundlich dabei, aber da ruft unser Baby: idrissa, idrissa, idrissa, idrissa. Kurz blitzt eine Wut in den Augen des Mannes auf und als er zwei Schritte auf unser Kind zugeht, denken wir schon, er würde ihm etwas antun, aber dann lacht er anerkennend und hebt unser Kind in die Luft, küsst es auf den Kopf und reicht es uns wie ein Geschenk, das er uns macht. Idrissa sagt er in der gleichen Betonung unseres Babys und dann sagen auch wir unsere Namen, nur den Namen unseres Babys sagen wir nicht. Der Mann überlegt, tritt von einem Fuß auf den anderen, aber er kommt nicht drauf. Dann sagt in unserer Sprache: ich werde eine Nacht darüber schlafen, nachdenken im Schlaf, wenn er mir nicht einfällt, werde ich … Er spricht nicht weiter und da auch wir nichts sagen, schweigen wir erst zusammen, dann beginnt er wieder Parkplätze den ankommenden Autos zuzuweisen. Wir geben ihm die Münze, die unser Baby immer noch in der Hand hält, und die sich heiß anfühlt. Er nimmt sie, bläst zur Abkühlung über sie hin,  und gibt uns, ohne uns anzusehen, seine Plastiktüte. Wir klappen den Buggy auf, hängen die Plastiktüte an den Griff und laufen in die citta murata. Später, als wir auf dem Linienschiff wieder zurück in unsere Unterkunft fahren, quer über den See, der sich im Abendlicht mit Gold überzogen hat, sehen wir uns die Plastiktüte näher an. Als Club of Rome, entziffern wir die Schrift auf der Tüte und tatsächlich befindet sich in ihr eine Mappe mit einigen Seiten, von denen wir manche lesen können, andere in einer unbekannten Sprache verfasst sind. Wir lesen: Alles Elend der Welt, die drohende Vernichtung unseres Planeten … Schuld ist die Überbevölkerung … Ich, Idrissa bin die Überbevölkerung … Kein Friede meiner Seele … Bald verlieren wir die Lust, weiterzulesen, wir wollen die Tüte über Bord werfen, schon ist sie in der Luft, aber erst jetzt bemerken wir, dass sie am Handgelenk unseres Babys hängt. Erschrocken springen wir auf, da fällt uns ein, dass wir unser Auto in der Stadt vergessen haben, dass wir gar nicht mit dem Schiff unterwegs waren und plötzlich verschwindet der Goldglanz des Sees und alles wird schwarz, nur unser fliegendes Baby leuchtet hell. Wir erwachen zu dritt. Das erste Mal zu dritt.

 

 

 

 

 

DAS ZWEITE JAHR – 27

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Dann verlassen wir den See und seine Betriebsamkeit, seine für unsere Fähigkeiten unendliche Tiefe und ebenso verlassen wir die ihn steil umgeben Berge, ihre Höhe, die uns viel vertrauter und verwandter und bewältigbarer ist (zweifellos: die Tiefe macht uns Schwierigkeiten, wir übersehen sie nicht, die Höhe ist uns ein Leichtes, auch wenn wir dabei schwitzen müssen, sie lässt sich nicht übersehen. Unserem Baby ist beides einerlei: die Tiefe quietscht es hinweg, wenn es schwimmflügelbewehrt die Oberfläche des Sees aufrührt; die Höhe verweigert es als unnütz. Bergauf läuft es ungern, hierbei kommt nur das von uns Getragenwerden in Betracht). Der für uns so selbstverständliche Unterschied zwischen Tiefe und Höhe, notwendig für jedes ästhetische oder moralische Urteil, das wir fällen, hat sich unserem Baby noch nicht offenbart (wenn er denn eine Offenbarung ist; vielleicht ist er eine negative Offenbarung, vielleicht geradewegs das Gegenteil einer Offenbarung). Liegt es an der Kleinheit unseres Babys? Es läuft zwar gerne, aber ein grundsätzliche Entscheidung den Kopf oben zu tragen, ist noch nicht gefallen: den halben Tag und länger, liegt und rollt und kugelt es sich über die Erde, die Welt; Kopf und Füße oft auf gleicher Höhe. Der Wunsch, sich aufzurichten, greift zwar deutlich nach ihm, aber es gibt noch ganz andere, gewissermaßen horizontalere Wünsche, die mindestens gleich stark die Hand nach ihm ausstrecken. Klein sein ist so gesehen ein großes Privileg, wer gleichermaßen mit Fuß und Kopf (und natürlich Bauch und Po) auf der Erde, der Welt zuhause ist, wird naturgemäß in seinem Urteilen sehr zurückhaltend sein. Das Privileg, klein zu sein, geht aber mit der Gefahr einher, übersehen zu werden. Auch deswegen müssen wir uns immer vergewissern, dass unser Baby noch da ist. Ist es noch da? fragen wir uns immer öfter oder, wo ist es? Wir blicken wenig nach unten (auch nicht sehr viel nach oben; unser alltäglicher Blickwinkel ist recht spitz, trichterartig, parallel zu Himmel und Erde, ein Zwischenreichblick, fest und ungeduldig, in erster Linie praktisch), erst unser Baby, unser Meister, hat uns im Nachuntenblicken geschult und ist immer noch dabei, uns darin zu schulen. Wo ist unser Baby, rufen wir, wir rufen seinen Namen und wundern uns jedesmal wieder, dass seine Antwort von soweit unten kommt, – wenn eine Antwort kommt und wir nicht längst unser Baby aus den Augen verloren haben, weil es weit unterhalb unseres Blicks ins Nebenzimmer gewandert ist oder hinüber zum Geländer am Seeufer, durch das es – ein falscher Schritt nur – sofort durchfallen würde und hinein in das dunkle Wasser jenseits und ganz gewiss hinaus aus unserem Blick, wollten wir ihn auch so tief nach unten senken, wie wir könnten. Vorbei! Diese Gefahr ist vorbei, denn wir sind die Berge hoch gefahren und wieder weiter nach Norden, wo plötzlich Ruhe einkehrt, die Menge der Menschen sich ausdünnt, wo es bald nur noch Einzelne gibt, Einzelne vor einem großartigen Panorama (es gibt sogar einen Raum, den wir bewohnen können, der sich das Panoramazimmer nennt) der gegenüberliegenden Berge, deren Gipfel und Täler sich in einer einzigen Linie verbinden, die unser gesamtes Blickfeld umspannt. Besonders gegen Abend wird diese Linie so deutlich, als wollte sie mit ihrem Zickzack, Hoch und Runter, Waagrecht und Senkrecht und den plötzlichen Ausschlägen nach oben und unten uns weniger etwas über unser Leben, unsere Lebenslinie verdeutlichen, als uns beruhigen: Ihr, sagt sie, könnt diese Linie nicht verstehen, aber seht her, ist sie nicht wunderschön!? So wird es Nacht. Und wieder gibt es, wie in allen Ferienwohnungen, Freundeswohnungen, Hotels, Pensionen, Fremdenzimmern etwas zu blättern (etwas, das daliegt, ein Zeug, das sich anbietet, manchmal völlig veraltet, dann wieder ganz neu, Übriggebliebenes, Ausgelesenes, Überflüssiges): In einem Artikel über das neue Buch des Schriftstellers Christian Kracht bezeichnet der Verfasser diesen Autor als das große, verrückte 49-jährige Kind. Einen erwachsenen Autor als Kind zu bezeichnen, ist merkwürdig (wie es überhaupt merkwürdig ist, Erwachsene als Kinder zu bezeichnen). Kind ist ein so weiter Begriff, der mindestens zwölf, dreizehn, vierzehn Jahre umfasst, aber das zweijährige Kind ist doch ein ganz anderes Kind als etwa das zehnjährige. So wird das Kindsein zu einer gewaltig aufgedampften Metapher für etwas ganz Besonderes, Seltenes. Das Kind besitzt Fähigkeiten und Eigenschaften (und damit auch der Autor, der ein Kind sein soll), denen der Verfasser höchste Bewunderung zu zollen scheint. Jetzt zu dieser vorgerückten Stunde (es ist unglaublich still auf dem Berg, es gibt nichts zu hören, selbst das eigene Blut rauscht leiser) glauben wir, dass der Verfasser des Artikels womöglich nicht nur das Kind, sondern vielmehr noch das Baby im Autor Christian Kracht entdeckt haben muss. Es wäre wohl diffamierend aufgenommen worden vom großen, verrückten 49-jährigem Baby zu schreiben, denn anders als dem Kind werden dem Baby selten besondere Fähigkeiten zugeschrieben, die etwas mit großer Kreativität und Fantasie zu tun haben. Aber da es unsinnig ist, einen Autor als Kind zu bezeichnen, es also auch unsinnig ist, das Kind in einem Schriftsteller zu bewundern, muss die Bewunderung ein anderes Objekt erfassen. Wir glauben es umso mehr, da das sonst so gottlose Feuilleton Christian Kracht wie kaum einen zweiten Autor (seit vielen Jahren) anbetet und da Anbetung nie nur mit dessen schriftstellerischen Fähigkeiten zu tun haben kann, weil Anbetung das Profane (und Schriftstellerei gehört ganz und gar dazu) immer überschreitet. So denken wir mitten in der Nacht, während unser Baby längst schläft, unser Baby, das nie auf die Idee verfallen würde ein Buch zu schreiben. Doch statt zu Bett zu gehen, schauen wir noch einen Film an (einen Liegengebliebenen, eine Uralten von 1955): Amici per la pelle (Freunde fürs Leben) von Franco Rossi. Dort begegnet uns auf einmal Christian Kracht, das Kind in der Figur des Diplomatensohnes Franco. Die Ähnlichkeit ist frappierend (vielleicht sind wir auch einfach nur müde und unser Unterscheidungsvermögen schläft schon fast; aber die Wesensähnlichkeit von Franco und Christian scheint uns unzweifelhaft): der erwachsene 49-jährige Autor und das Kind von 1955 sind in Körperhaltung und Sanftmut im Ausdruck des Gesichtes die Gleichen. Die Geschichte des Films ist die Geschichte einer Freundschaft zwischen zwei höchst unterschiedlichen Jungen. Der eine, Mario, kommt aus dem Volk, ist einfach, ungebildet, ein Flegel. Der andere ist schon als Kind ein kultivierter Mann. Und dieses kultivierte Kind schenkt dem Flegel ohne das geringste Ressentiment seine Freundschaft, lässt ihn teilhaben am fantasiereichen Reichtum seines Lebens. (Vielleicht sind wir schon vor dem Bildschirm in den Schlaf gesunken, in dem uns eine Frage, ein Vorwurf umkreiste: haben wir uns geirrt darin, was wir glaubten über den Feuilletonisten und den berühmten Schriftsteller herausgefunden zu haben? Ist uns die Grenze zwischen Baby und Kind verschwommen, eine Grenze, die es gibt, geben muss, die aber unbestimmbar bleiben will? Das Kind jedenfalls ist dem Baby näher als dem Erwachsenen, das ist ein offenes Geheimnis wie unser erlösender traumloser Schlaf.)

Then we leave the lake and its bustle, its infinite depth (infinite for our capacities), and leave as well the steep mountains surrounding it, their height, which is much more familiar to us and more manageable (no doubt about it: depth is hard for us, we can’t see to the end of it, while height is easy, even if it makes us sweat, and seeing the whole of it is not a problem, in fact it can’t be overlooked. To our baby, there is no difference between the two: Depth he disposes of with a squeal when, armed with inflated rubber wings, he churns up the surface of the lake, while height he rejects as a useless thing. He doesn’t like walking uphill, and won’t consider the challenge unless he is carried). The difference between depth and height, so obvious to us, so necessary for any esthetic or moral judgment, has not yet revealed itself to our baby (if indeed it is a revelation; perhaps it is a negative revelation, perhaps precisely the opposite of a revelation). Is this due to the baby’s smallness? He likes to walk, but a fundamental decision to bear his head higher than the rest of his body has not yet fallen: half the day or longer is spent lying and rolling around on the ground, on the earth, often with head and feet at the same level. The desire to raise himself up is visibly taking hold of him, but there are completely different desires of a more horizontal nature, so to speak, that stretch out their hands in his direction with at least equal energy. To be small, looked at this way, is a great privilege; someone whose head and feet are equally at home on the ground will naturally be very restrained in his judgments. But the privilege of being small entails the danger of being overlooked. That is one more reason why we must always assure ourselves that our baby is still there. Is he still there, we ask ourselves more and more often, or: Where is he? We rarely look downward (nor do we look upward much either; our everyday angle of vision is quite pointed, funnel-like, in parallel to the sky and the earth, the gaze of an intermediate realm, firm and impatient, and primarily practical), it is only our baby, our master, who has trained us to look downward, and he is still training us to do so. Where is our baby, we cry out, we call his name, and each time we are surprised that his answer comes from so far below – if indeed an answer comes and we haven’t long since lost sight of our baby because, beneath our gaze, he has wandered off to the next room or over to the railing by the shore of the lake, through which – by a single misstep – he would immediately fall into the dark water on the other side and definitely vanish from our sight, no matter how far we tried to see into the depths. Gone! This danger is gone, for we have driven up the mountains and onward to the north, where suddenly quiet returns, the throng of people thins out, until soon there are only single people, single figures silhouetted against a grand panorama (there is even a room we can stay in, called the panorama room) of mountains on the other side, whose peaks and valleys connect in a single line that encompasses our entire field of vision. Especially in the evening this line becomes as clear as if with its zigzagging ups and downs, its horizontals and verticals, and its abrupt upward and downward swings it intended not so much to impress upon us some understanding about our life, our lifeline, as to reassure us: You, it says, cannot understand this line, but look, isn’t it beautiful!? And so night comes. And again, as in all the holiday flats, friends’ homes, hotels, guesthouses, guest rooms, there is something to leaf around in (something that lies there, that offers itself, sometimes rather outdated, then again quite new, left over, finished, superfluous): In an article about the new book by the writer Christian Kracht the reviewer calls this author a big, crazy 49-year-old child. To call an adult author a child is strange (as it is altogether strange to call adults children). The word “child” is an ample concept comprising at least twelve, thirteen, fourteen years, but the two-year-old child is surely a very different child than a ten-year-old. Thus “being a child” becomes a hugely blown-up metaphor for something very special. Rare. The child possesses capacities and qualities (and hence also the author who is supposed to be a child) which the reviewer seems to hold in the highest regard. Now at this advanced hour (it is incredibly quiet on the mountain, there is not a sound to be heard, even one’s own blood hums more quietly) we believe that the man who wrote the article must have discovered not only the child, but also, and rather, the baby in the author Christian Kracht. It would have probably seemed like a defamation if he had written about a big crazy 49-year-old baby, because unlike the child, babies are rarely acknowledged to have special abilities that have anything to do with great creativity and imagination. But since it is unreasonable to call an author a child, and because therefore it is also unreasonable to admire the child in an author, there must be a different object for that admiration. We believe this all the more so as the Feuilleton page, which is normally so emphatically godless, worships Christian Kracht more fervently than any other author (in many years), and because such worship can never be solely a response to the author’s literary abilities, because worship always transcends the profane (which certainly includes the work of writers). These thoughts come to us in the middle of the night, long after our baby has fallen asleep, our baby, to whom it would never occur to write a book. But instead of going to bed, we look at a film (an ancient sleeper of 1955): Amici per la pelle (Friends for Life) by Franco Rossi. There all of a sudden we encounter Christian Kracht, the child in the figure of the diplomat’s son Franco. The similarity is startling (Maybe we’re just tired and our discernment is falling asleep; but the inner similarity of Franco and Christian seems undeniable): the adult 49-year-old author and the child of 1955 are, in their physical posture and the gentleness of the facial expression, the same. The story in the film is the story of a friendship between two very different boys. One of them, Mario, has proletarian parents, he is simple, uneducated, something of a lout. The other boy is, already as a child, a cultivated man. And this cultivated child befriends the lout without the slightest resentment and invites him into the imaginative wealth of his life. (Perhaps it was still in front of the screen that we dropped into sleep, where a question, a reproach, circled around us: were we mistaken about what we thought we had learned about the author of the feuilleton piece and the famous writer? Has the border between baby and child become blurred for us, a border that exists, that must exist, but that wants to remain indeterminable? The child, at any rate, is closer to the baby than it is to the adult, that is an open secret, as is our redemptive dreamless sleep.)

 

 

 

 

DAS ZWEITE JAHR – 26

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Wir sind ganz ungeniert (im Urlaub erstrecht), nehmen als Bestätigung, alles, was kommt, was scheint: die Sonne zum Beispiel. (Bestätigung wofür? mag jemand fragen, der keine Ahnung hat, uns nicht kennt. Uns Menschen. Uns drei. Unser Baby, dich, mich.) Bestätigung: für alles, was wir tun, denken, fühlen. Wir wenden und drehen nicht, was wir tun, denken, fühlen. Wir sind im Urlaub. Was sollen wir schon denken über die fremde Hand, die unserem Baby über sein blondes Haupt streicht? Fast täglich geschieht es, Wildfremde (die sofort nicht länger wild, – was sie eh nie waren -, noch fremd sind) können ihr Entzücken, ihre Freude, ihr unschuldiges Verlangen nicht zügeln, wollen sich nicht zurückhalten, kennen keine Scheu, keine Schüchternheit: sie heben die Hand und streicheln das Haar unseres Kindes, manchmal bloß im Vorübergehen (jetzt gerade, als ich unser Baby von den Toiletten des Seebades zurück zu den Liegen trage), oder sie bleiben vor dem kleinen Mann stehen, frohlocken, schütteln den Kopf, wie eben vom Unglauben Abgefallene, fallen in den lauten, weichen Singsang ihrer Sprache und legen die Hand auf das kleine Haupt (der größte Körperteil unseres Babys; bisweilen kommt es uns ein bißchen wie freundlicher Spott auf uns selbst vor, dass ausgerechnet die kleinsten Menschen im Verhältnis zur Größe ihres Körpers solch riesige Köpfe herumtragen) und sie streichen über das dünne, weiche Haar, das heller als die Sonne selbst ist (auch die Anderen also sind ungeniert in unserem Urlaub, nehmen, was kommt, das Haar unseres Kindes, denn seine Berührung ist Verheißung und Vollendung, oder kleiner: Sehnsucht und Lust in einem). Oder etwas (ganz?) anderes: ein Gemälde von Bernardino Luini, eine Madonna, die ihr (ziemlich großes) Kind stillt. Ihr Gewand ist geöffnet wie ein Vorhang, durch den nur die rechte Brust lugt. Das trinkende Kind sitzt mit übergeschlagenen Beinen auf den Oberschenkeln seiner Mutter und betrachtet mit durchdringender Teilnahmslosigkeit den Betrachter des Bildes aus den Augenwinkeln, als gehörte das zusammen: Trinken und Betrachten (Trinken und Betrachten des Betrachters, während es selbst beim Trinken und Betrachten betrachtet wird. Auch unser Baby ist so ein stiller Betrachter, wenn es gestillt wird. Sein Blick stillt gewissermaßen uns, die Betrachter; im Sehen gesehen zu werden, ist uns als Wunsch wie Erfahrung nicht unbekannt, aber die gleichzeitige Mundberührung der Brust dabei macht Wunsch und Erfahrung weniger inniglich, weniger spröde, entfernt die Sehnsucht aus der Verbindung des einen und des anderen Betrachters). Daneben (aber nur im Katalog) ein zweites Bild von Bernardino Luini, Trauer um Christus. Der vom Kreuz genommene Christus (jetzt der Entkreuzigte) auf dem Schoß einer Frau, zaghaft gestützt von zwei, drei anderen, ein weniger tot als entkräftet wirkender Jesus, ein ratloser Jesus, der die säugende Brust nicht finden kann, weil er nicht mehr suchen kann, nichts weiß von richtiger Suche. Seine Augen sind geschlossen wie die Brüste der Frau, die ihn hält, tief unter ihrem Gewand verborgen sind. Ein schwaches, viel zu groß geratenes Baby ist dieser Jesus und zugleich – das macht ihn interessant – ein erwachsener Mann, auf dem Schoß einer Frau sitzend, wie nie ein erwachsener Mann auf dem Schoß einer Frau sitzt. Männer sitzen nicht auf dem Schoß einer Frau, daran hat sich seit Jahrtausenden nichts geändert, das Schoßsitzen ist den Frauen selbst vorbehalten oder den Kindern und Babys. Ein stiller Revolutionär ist dieser Jesus wie er in dieser betrüblichen Situation so dasitzt, tot und doch liegt sein rechter Arm lässig auf der Schulter dieser Frau, die ihrerseits ihre rechte Hand auf seinen Oberschenkel gelegt hat. Die stillende Madonna des einen Bildes so neben der Frau des anderen Bildes mit dem gestorbenen Gottessohn (oder einfach nur: mit einem toten Mann) auf dem Schoß zu betrachten, ist wie durch nur zwei Bilder der Summe des Lebens teilhaftig zu werden. Die Rückkehr in den Schoß, wo alles Sein und Tun seinen Ausgang genommen hat, verblüfft (umso mehr vor dem Wellenschlag und Glucksen des Sees, vor seinem unsichtbar sichtbaren Tiefgang, seiner dunkelblauen Schwärze, auf der morgens das silberne Glitzern und abends das goldene Schimmern tanzt, das wir, wie alles, was kommt, als Bestätigung nehmen. Wofür? Für all die Zusammenhänge, die wir niemals erkennen können). Vom gestillten Baby zum revolutionären, weil schoßsitzenden Jesus: eine immer gleichbleibend junge Konstellation. (Mit unserem Baby im See. Von deinem Schoß rutscht es herunter und geht los. Sogar auf dem Gras meinen wir zu hören, dass sein Laufen patschend klingt. Wir beide stehen bis zur Hüfte nah beinander im Wasser, unser Baby schwimmt schwimmflügelgetragen zwischen uns hin und her. Selbst in Ufernähe ist die Wucht der Wassermassen spürbar, die uns nur zu gerne von den Füßen holen möchte. Das Wasser ist ein verführerischer Abgrund, der über seine Tiefe täuscht. Das macht ihn noch attraktiver. Aber heute müssen wir auf unser Kind aufpassen, also bleiben wir stehen, korrigieren nur kurz unseren Stand, wenn die kleine Fähre Wellen herüberrollen lässt. Ausreichend fest also stehen wir und so kommen die kleinen Fische in Schwärmen, umflattern unsere Beine und mit ihren kleinen Saugmündern, versuchen sie sich an uns, was als ein kleines, entzückendes Zupfen auf unserer gebräunten Haut spürbar ist. Nur auf unserer Haut, unser Baby interessiert sie nicht, es ist selbst zu flatterhaft und für einen Augenblick glauben wir, es könnte sie diesen kleinen Fischen anschließen, hinabtauchen und zum Erwachsenwerden in den Tiefen des Sees verschwinden.)