27
Das erste Jahr Babybuddha jetzt auf:
http://www.hanser-literaturverlage.de/buch/babybuddha/978-3-446-25239-4/
oder über den Online-Buchhandel
Dann verlassen wir den See und seine Betriebsamkeit, seine für unsere Fähigkeiten unendliche Tiefe und ebenso verlassen wir die ihn steil umgeben Berge, ihre Höhe, die uns viel vertrauter und verwandter und bewältigbarer ist (zweifellos: die Tiefe macht uns Schwierigkeiten, wir übersehen sie nicht, die Höhe ist uns ein Leichtes, auch wenn wir dabei schwitzen müssen, sie lässt sich nicht übersehen. Unserem Baby ist beides einerlei: die Tiefe quietscht es hinweg, wenn es schwimmflügelbewehrt die Oberfläche des Sees aufrührt; die Höhe verweigert es als unnütz. Bergauf läuft es ungern, hierbei kommt nur das von uns Getragenwerden in Betracht). Der für uns so selbstverständliche Unterschied zwischen Tiefe und Höhe, notwendig für jedes ästhetische oder moralische Urteil, das wir fällen, hat sich unserem Baby noch nicht offenbart (wenn er denn eine Offenbarung ist; vielleicht ist er eine negative Offenbarung, vielleicht geradewegs das Gegenteil einer Offenbarung). Liegt es an der Kleinheit unseres Babys? Es läuft zwar gerne, aber ein grundsätzliche Entscheidung den Kopf oben zu tragen, ist noch nicht gefallen: den halben Tag und länger, liegt und rollt und kugelt es sich über die Erde, die Welt; Kopf und Füße oft auf gleicher Höhe. Der Wunsch, sich aufzurichten, greift zwar deutlich nach ihm, aber es gibt noch ganz andere, gewissermaßen horizontalere Wünsche, die mindestens gleich stark die Hand nach ihm ausstrecken. Klein sein ist so gesehen ein großes Privileg, wer gleichermaßen mit Fuß und Kopf (und natürlich Bauch und Po) auf der Erde, der Welt zuhause ist, wird naturgemäß in seinem Urteilen sehr zurückhaltend sein. Das Privileg, klein zu sein, geht aber mit der Gefahr einher, übersehen zu werden. Auch deswegen müssen wir uns immer vergewissern, dass unser Baby noch da ist. Ist es noch da? fragen wir uns immer öfter oder, wo ist es? Wir blicken wenig nach unten (auch nicht sehr viel nach oben; unser alltäglicher Blickwinkel ist recht spitz, trichterartig, parallel zu Himmel und Erde, ein Zwischenreichblick, fest und ungeduldig, in erster Linie praktisch), erst unser Baby, unser Meister, hat uns im Nachuntenblicken geschult und ist immer noch dabei, uns darin zu schulen. Wo ist unser Baby, rufen wir, wir rufen seinen Namen und wundern uns jedesmal wieder, dass seine Antwort von soweit unten kommt, – wenn eine Antwort kommt und wir nicht längst unser Baby aus den Augen verloren haben, weil es weit unterhalb unseres Blicks ins Nebenzimmer gewandert ist oder hinüber zum Geländer am Seeufer, durch das es – ein falscher Schritt nur – sofort durchfallen würde und hinein in das dunkle Wasser jenseits und ganz gewiss hinaus aus unserem Blick, wollten wir ihn auch so tief nach unten senken, wie wir könnten. Vorbei! Diese Gefahr ist vorbei, denn wir sind die Berge hoch gefahren und wieder weiter nach Norden, wo plötzlich Ruhe einkehrt, die Menge der Menschen sich ausdünnt, wo es bald nur noch Einzelne gibt, Einzelne vor einem großartigen Panorama (es gibt sogar einen Raum, den wir bewohnen können, der sich das Panoramazimmer nennt) der gegenüberliegenden Berge, deren Gipfel und Täler sich in einer einzigen Linie verbinden, die unser gesamtes Blickfeld umspannt. Besonders gegen Abend wird diese Linie so deutlich, als wollte sie mit ihrem Zickzack, Hoch und Runter, Waagrecht und Senkrecht und den plötzlichen Ausschlägen nach oben und unten uns weniger etwas über unser Leben, unsere Lebenslinie verdeutlichen, als uns beruhigen: Ihr, sagt sie, könnt diese Linie nicht verstehen, aber seht her, ist sie nicht wunderschön!? So wird es Nacht. Und wieder gibt es, wie in allen Ferienwohnungen, Freundeswohnungen, Hotels, Pensionen, Fremdenzimmern etwas zu blättern (etwas, das daliegt, ein Zeug, das sich anbietet, manchmal völlig veraltet, dann wieder ganz neu, Übriggebliebenes, Ausgelesenes, Überflüssiges): In einem Artikel über das neue Buch des Schriftstellers Christian Kracht bezeichnet der Verfasser diesen Autor als das große, verrückte 49-jährige Kind. Einen erwachsenen Autor als Kind zu bezeichnen, ist merkwürdig (wie es überhaupt merkwürdig ist, Erwachsene als Kinder zu bezeichnen). Kind ist ein so weiter Begriff, der mindestens zwölf, dreizehn, vierzehn Jahre umfasst, aber das zweijährige Kind ist doch ein ganz anderes Kind als etwa das zehnjährige. So wird das Kindsein zu einer gewaltig aufgedampften Metapher für etwas ganz Besonderes, Seltenes. Das Kind besitzt Fähigkeiten und Eigenschaften (und damit auch der Autor, der ein Kind sein soll), denen der Verfasser höchste Bewunderung zu zollen scheint. Jetzt zu dieser vorgerückten Stunde (es ist unglaublich still auf dem Berg, es gibt nichts zu hören, selbst das eigene Blut rauscht leiser) glauben wir, dass der Verfasser des Artikels womöglich nicht nur das Kind, sondern vielmehr noch das Baby im Autor Christian Kracht entdeckt haben muss. Es wäre wohl diffamierend aufgenommen worden vom großen, verrückten 49-jährigem Baby zu schreiben, denn anders als dem Kind werden dem Baby selten besondere Fähigkeiten zugeschrieben, die etwas mit großer Kreativität und Fantasie zu tun haben. Aber da es unsinnig ist, einen Autor als Kind zu bezeichnen, es also auch unsinnig ist, das Kind in einem Schriftsteller zu bewundern, muss die Bewunderung ein anderes Objekt erfassen. Wir glauben es umso mehr, da das sonst so gottlose Feuilleton Christian Kracht wie kaum einen zweiten Autor (seit vielen Jahren) anbetet und da Anbetung nie nur mit dessen schriftstellerischen Fähigkeiten zu tun haben kann, weil Anbetung das Profane (und Schriftstellerei gehört ganz und gar dazu) immer überschreitet. So denken wir mitten in der Nacht, während unser Baby längst schläft, unser Baby, das nie auf die Idee verfallen würde ein Buch zu schreiben. Doch statt zu Bett zu gehen, schauen wir noch einen Film an (einen Liegengebliebenen, eine Uralten von 1955): Amici per la pelle (Freunde fürs Leben) von Franco Rossi. Dort begegnet uns auf einmal Christian Kracht, das Kind in der Figur des Diplomatensohnes Franco. Die Ähnlichkeit ist frappierend (vielleicht sind wir auch einfach nur müde und unser Unterscheidungsvermögen schläft schon fast; aber die Wesensähnlichkeit von Franco und Christian scheint uns unzweifelhaft): der erwachsene 49-jährige Autor und das Kind von 1955 sind in Körperhaltung und Sanftmut im Ausdruck des Gesichtes die Gleichen. Die Geschichte des Films ist die Geschichte einer Freundschaft zwischen zwei höchst unterschiedlichen Jungen. Der eine, Mario, kommt aus dem Volk, ist einfach, ungebildet, ein Flegel. Der andere ist schon als Kind ein kultivierter Mann. Und dieses kultivierte Kind schenkt dem Flegel ohne das geringste Ressentiment seine Freundschaft, lässt ihn teilhaben am fantasiereichen Reichtum seines Lebens. (Vielleicht sind wir schon vor dem Bildschirm in den Schlaf gesunken, in dem uns eine Frage, ein Vorwurf umkreiste: haben wir uns geirrt darin, was wir glaubten über den Feuilletonisten und den berühmten Schriftsteller herausgefunden zu haben? Ist uns die Grenze zwischen Baby und Kind verschwommen, eine Grenze, die es gibt, geben muss, die aber unbestimmbar bleiben will? Das Kind jedenfalls ist dem Baby näher als dem Erwachsenen, das ist ein offenes Geheimnis wie unser erlösender traumloser Schlaf.)
Then we leave the lake and its bustle, its infinite depth (infinite for our capacities), and leave as well the steep mountains surrounding it, their height, which is much more familiar to us and more manageable (no doubt about it: depth is hard for us, we can’t see to the end of it, while height is easy, even if it makes us sweat, and seeing the whole of it is not a problem, in fact it can’t be overlooked. To our baby, there is no difference between the two: Depth he disposes of with a squeal when, armed with inflated rubber wings, he churns up the surface of the lake, while height he rejects as a useless thing. He doesn’t like walking uphill, and won’t consider the challenge unless he is carried). The difference between depth and height, so obvious to us, so necessary for any esthetic or moral judgment, has not yet revealed itself to our baby (if indeed it is a revelation; perhaps it is a negative revelation, perhaps precisely the opposite of a revelation). Is this due to the baby’s smallness? He likes to walk, but a fundamental decision to bear his head higher than the rest of his body has not yet fallen: half the day or longer is spent lying and rolling around on the ground, on the earth, often with head and feet at the same level. The desire to raise himself up is visibly taking hold of him, but there are completely different desires of a more horizontal nature, so to speak, that stretch out their hands in his direction with at least equal energy. To be small, looked at this way, is a great privilege; someone whose head and feet are equally at home on the ground will naturally be very restrained in his judgments. But the privilege of being small entails the danger of being overlooked. That is one more reason why we must always assure ourselves that our baby is still there. Is he still there, we ask ourselves more and more often, or: Where is he? We rarely look downward (nor do we look upward much either; our everyday angle of vision is quite pointed, funnel-like, in parallel to the sky and the earth, the gaze of an intermediate realm, firm and impatient, and primarily practical), it is only our baby, our master, who has trained us to look downward, and he is still training us to do so. Where is our baby, we cry out, we call his name, and each time we are surprised that his answer comes from so far below – if indeed an answer comes and we haven’t long since lost sight of our baby because, beneath our gaze, he has wandered off to the next room or over to the railing by the shore of the lake, through which – by a single misstep – he would immediately fall into the dark water on the other side and definitely vanish from our sight, no matter how far we tried to see into the depths. Gone! This danger is gone, for we have driven up the mountains and onward to the north, where suddenly quiet returns, the throng of people thins out, until soon there are only single people, single figures silhouetted against a grand panorama (there is even a room we can stay in, called the panorama room) of mountains on the other side, whose peaks and valleys connect in a single line that encompasses our entire field of vision. Especially in the evening this line becomes as clear as if with its zigzagging ups and downs, its horizontals and verticals, and its abrupt upward and downward swings it intended not so much to impress upon us some understanding about our life, our lifeline, as to reassure us: You, it says, cannot understand this line, but look, isn’t it beautiful!? And so night comes. And again, as in all the holiday flats, friends’ homes, hotels, guesthouses, guest rooms, there is something to leaf around in (something that lies there, that offers itself, sometimes rather outdated, then again quite new, left over, finished, superfluous): In an article about the new book by the writer Christian Kracht the reviewer calls this author a big, crazy 49-year-old child. To call an adult author a child is strange (as it is altogether strange to call adults children). The word “child” is an ample concept comprising at least twelve, thirteen, fourteen years, but the two-year-old child is surely a very different child than a ten-year-old. Thus “being a child” becomes a hugely blown-up metaphor for something very special. Rare. The child possesses capacities and qualities (and hence also the author who is supposed to be a child) which the reviewer seems to hold in the highest regard. Now at this advanced hour (it is incredibly quiet on the mountain, there is not a sound to be heard, even one’s own blood hums more quietly) we believe that the man who wrote the article must have discovered not only the child, but also, and rather, the baby in the author Christian Kracht. It would have probably seemed like a defamation if he had written about a big crazy 49-year-old baby, because unlike the child, babies are rarely acknowledged to have special abilities that have anything to do with great creativity and imagination. But since it is unreasonable to call an author a child, and because therefore it is also unreasonable to admire the child in an author, there must be a different object for that admiration. We believe this all the more so as the Feuilleton page, which is normally so emphatically godless, worships Christian Kracht more fervently than any other author (in many years), and because such worship can never be solely a response to the author’s literary abilities, because worship always transcends the profane (which certainly includes the work of writers). These thoughts come to us in the middle of the night, long after our baby has fallen asleep, our baby, to whom it would never occur to write a book. But instead of going to bed, we look at a film (an ancient sleeper of 1955): Amici per la pelle (Friends for Life) by Franco Rossi. There all of a sudden we encounter Christian Kracht, the child in the figure of the diplomat’s son Franco. The similarity is startling (Maybe we’re just tired and our discernment is falling asleep; but the inner similarity of Franco and Christian seems undeniable): the adult 49-year-old author and the child of 1955 are, in their physical posture and the gentleness of the facial expression, the same. The story in the film is the story of a friendship between two very different boys. One of them, Mario, has proletarian parents, he is simple, uneducated, something of a lout. The other boy is, already as a child, a cultivated man. And this cultivated child befriends the lout without the slightest resentment and invites him into the imaginative wealth of his life. (Perhaps it was still in front of the screen that we dropped into sleep, where a question, a reproach, circled around us: were we mistaken about what we thought we had learned about the author of the feuilleton piece and the famous writer? Has the border between baby and child become blurred for us, a border that exists, that must exist, but that wants to remain indeterminable? The child, at any rate, is closer to the baby than it is to the adult, that is an open secret, as is our redemptive dreamless sleep.)