Das erste Jahr Babybuddha jetzt auf:
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Eng ist gut.
Eine Reise, in die Ferne, in die Weite, über den Ozean, im Dauergebrumm der Turbinen, als säßen wir (unser Kind, du, ich) im Innern einer schweren Hummel. Unter uns die teigige, in stillem Sinnen verbundene Wolkendecke, über uns Himmel und Licht, Bläue, ungeritzt, schartenlos, ein strahlender Spiegel, der es nicht nötig hat, ein Abbild zu geben von dem, was unter ihm liegt; oder fliegt. Vielleicht schrumpft die Weite draußen vor dem weißen Kunststoffoval des Fensters bei längerer Betrachtung, vielleicht ist sie in Wirklichkeit eine Illusion wie das Gefühl wir würden langsam wie ein Fußgänger unterwegs sein (aber was heißt in elftausend Kilometern Höhe schon Illusion?). Jedenfalls bleibt unser Blick nicht (deiner nicht, meiner nicht, der unseres Sohnes gleich gar nicht) dort draußen hängen und sucht bald wieder die Enge des kühlen Bauches, die drei Sitze, die schon bald unsere drei Sitze geworden sind, auf denen wir es uns, soweit es geht, bequem gemacht haben, auf denen wir jetzt zuhause sind, ein bißchen bekrümelt von der ersten gereichten Mahlzeit, einem Getränk mit kleinen Brezeln. Erstaunlich, wie sich das Kind einrichtet auf seinem Platz, wie es seine Armlehne waagrecht stellt, dann senkrecht, dann wieder waagrecht, wie es den Klapptisch (seinen Klapptisch) untersucht, wie es auf dem kleinen Monitor herumdrückt, ohne dass viel geschieht, wie es versucht seinen Kopfhörer aus der Plastiktüte zu drücken (diese Arbeit aber dann doch lieber uns überlässt), wie es sein strahlend weißes Kissen neben Sitz und Flugzeugwand stopft und die noch verpackte Decke gleich noch dazu: all dies Tun dient, sich hier heimisch zu fühlen, an diesem überschaubaren Ort, der für lange Stunden, jetzt schon ein ganz eigener Ort geworden ist, fliegende Heimat, eine von wenig Außenablenkung überschattete, liebenswerte Monade. Nähert sich das Bordpersonal mit Getränke- oder Speisewagen durch die schmale Gasse zwischen den Sitzreihen, ist es so, als würden diese hübschen Frauen mit den vollbepackten Wagen augenblicklich entstehen, wir sehen sie nicht kommen, wir bemerken sie erst, wenn sie schon da sind (so ist das mit der Schöpfung). Dann wird gelächelt, lächelnd die Frage gestellt, was es für uns sein dürfe (Hühnchen mit Reis und Gemüse oder das vegatarische Gericht, Nudeln mit Käsesoße), und wir lächeln auch und antworten ohne zu zögern und ohne uns zu bedenken. Bedenke dich; heißt es bei Herman Melville, denn ein Lächeln ist das klassische Ausdrucksmittel aller Doppeldeutigkeiten. Nein, hier oben ist sogar das Lächeln solcher Zweifelei entbunden, mag es noch so doppeldeutig sein, alles hier besitzt einen höheren Grad an Echtheit, weil alles so schön überschaubar ist in dieser seligen Höhe, die wir längst vergessen haben (und überhaupt, denken wir mit Seitenblick auf unser Kind, das gerade ein Puzzle mit einem Maulwurf legt, ist Doppeldeutigkeit doch eher etwas für Anfänger, nein, widerlegen wir uns gleich, für Fortgeschrittene, nein, für Zuweitfortgeschrittene!). Alle Passagiere, kommt uns vor, fallen in das gleiche kindartige Sicheinrichten an seinem Platz und genießen es (auch wenn sie sich hinterher über schmerzende Knie oder einen steifen Nacken beklagen werden, diesen Genuß sieht man ihnen an), auch wenn es nicht so hundertprozentig gelingt wie den kleinen Kindern. Dieses geschenkte, mühelose, nicht erworbene, jedem zugefallene Sein im hier und jetzt muss einer der Gründe sein, weshalb Menschen so zahlreich in Flugzeuge steigen (und es braucht nicht einmal ein Bewusstsein für dieses Erlebnis). Und unser Sohn ist sein hier und jetzt, hier auf seinem Ort, jetzt in dieser fliegenden Zeitlosigkeit. Es ist ihm unverlierbar (während sich bei uns bald wieder etwas in unserem Geist finden lässt, was uns aus dieser Idylle werfen wird). Angekommen an unserem Reiseziel, dieser riesigen Stadt, laut, bunt, hoch, pulsierend zeigt es sich noch deutlicher als im Flugzeug. Das Kind trägt sein hier und jetzt bei sich, in sich, da kann das Große, Weite, Schöne, Imposante, Überwältigende (uns Überwältigende) sich noch so laut oder anmutig bemerkbar machen, das Kind und sein Blick werden nicht von der Enge abweichen, das große Ganze (so unendlichmal größer als du und ich), das uns in eine Art freudige Depression stürzt, die in uns den Wunsch weckt noch mehr, am besten alles in dieser Stadt zu besichtigen, dieses große Ganze ist ihm gänzlich egal (vielleicht kennt es das große Ganze noch von einst, vielleicht ist es in die Welt getreten, um mal alles im Detail zu betrachten). Die nahen Dinge sind die wichtigen Dinge, die nahen Dinge erfüllen den Wunsch zu wissen und zu begreifen mehr als ausreichend. Natürlich, denn das Ferne ist eine Illusion. Zieht sie doch einmal in Gestalt eines himmelhohen Krans, mit dessen Hilfe ein neuer Wolkenkratzer entsteht, die Aufmerksamkeit auf sich, dann imitiert unser Kind bloß seine Eltern und deren schweifenden Blick, der oft das Nahe überspringt, weil er dahinter Besseres, Schöneres, Wahreres vermutet (oder ist unserem Sohn die Trennung in Nahes und Fernes gänzlich unbekannt, gibt es für ihn nur Nahes; was meinst du?). Nein, wirklich, diese Weltstadt ist klein und übersichtlich wie das hier und jetzt unseres Sohnes. Als wir acht Tage später nach dem Rückflug frühmorgens in der Wartehalle auf dem Umsteigeflughafen stehen und durch die großen Fensterscheiben unser Flugzeug, das gerade entladen wird, da draußen betrachten, fragt unser Kind nach kurzem Nachdenken, ob unser Flugzeug ein großes sei, ein ganz großes? Ja, erwidern wir, ohne rechte Überzeugung. Zum Heimflug steigen wir dann in die noch engere Enge eines vergleichsweise kleinen Flugzeugs und schon haben wir es uns gleich wieder gemütlich eingerichtet, unsere Schuhe ausgezogen, teilen einen Früchteriegel auf dem Klapptisch in sechs gleiche Teile (was uns die Sollbruchstellen erleichtern indem sie es uns vorschreiben), trinken unseren Orangensaft, legen ein neues Puzzle, spüren die große Müdigkeit uns ganz ganz nah und sind froh, wieder gut nach Hause zu kommen. (Goethe trug stets viel Kind in sich, was meinst du? Wir wenden uns, wie auch die Welt entzücke / Der Enge zu, die uns allein beglücke.)