DAS ZWEITE JAHR – 21

21

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Ab jetzt wird geschoben. Die Lust zu schieben entsteht von heute auf morgen und mit aller Macht – so scheint es. Das Baby (nein, unser Baby ist kein richtiges Baby mehr, aber doch ist es noch Baby, sieh nur den Speck an den Oberschenkeln und das runde Gesicht und die kräftigen Lippen, die ihre Gier nicht zu verbergen suchen!) beobachtet die anderen Babys und Kinder, die kleineren und größeren, was macht das eine, was macht das andere. So sind sie, plötzlich scheinen die anderen Babys, Kinder, insofern andere zu sein, dass sie über eigene – hoch interessante, brilliante – Ideen verfügen, die einmal selbst auszuprobieren, nachzumachen, sich lohnen könnte. Wer beobachtet wen, ist keine geringe Frage. Unser Baby wird beobachtet, wie es selbst beobachtet. Das Universum der Babys ähnelt unserem nur auf den ersten Blick (wir erinnern uns: die Babys sind keine kleinen Menschen, Menschen, wie du und ich: du bist du und ich bin ich, so denkt das Baby nicht), auf den zweiten Blick zeigt sich die wundersame Ungetrenntheit dieser kleinen Wesen, die uns schwindlig werden lässt, wenn wir über den Beobachter und den Beobachteten etwas Wahres herauszufinden versuchen. Die Rollen wechseln nicht nur, es scheint gleichsam nur eine Rolle zu geben, die jedes Baby zu jeder Zeit und sogar gleichzeitig einzunehmen in der Lage ist: der Beobachter und der Beobachtete (oder auch das Beobachtete) sind ununterschieden, aber doch schon ein weites Stück entfernt vom Alles ist eins. Ein Wagen wird geschoben, ein Puppenbuggy, überall schieben die Kinder Puppenbuggys, kaum entdecken sie einen herren- oder damenlosen, schon eilen sie zu ihm hin (auf ihre eigene eilige Weise, die so sehr mit dem Ziel der Eile verwachsen ist, dass sie dennoch – zu unserer Überraschung – niemals den Eindruck erwecken, sie hätten Sorge, sie könnten etwas verpassen), packen die Griffe und rattern los. Hat je jemand damit angefangen? Wer war der erste Schieber, die erste Schieberin? Im Schieben lässt sich kein Unterschied der Geschlechter feststellen. Alle Babys schieben, ein individueller wie kollektiver Wunsch ist es, der fast etwas von Besessenheit hat. (Auf dem Hausflohmarkt in unserem Viertel erstehen  wir für einen Euro ebenfalls so einen kleinen Buggy, der sich gut zusammenklappen und leicht mit einer Hand tragen lässt. So wie unser Kind vom Schieben ergriffen wird, werden wir davon ergriffen, ihm diesen Wunsch noch einfacher zu ermöglichen. Welche Freude, wenn wir aus der Wohnung nach unten steigen und unser Baby seinen Wagen entdeckt und ihn sogleich losschieben will! Den Körper etwas nach vorne gekippt, die Arme nach oben gestreckt, beginnt die Fahrt auf dem Gehweg. So schnell, viel schneller, als es zu Fuß ohne Wagen laufen würde. Mit dem Puppenwagen vor sich, lässt sich Tempo machen, die billigen Puppenwagenräder rattern über die Fugen der Pflastersteine, über Bordsteinkanten und das Bodengitter über dem U-Bahnschacht. Dann geht es die Rampe an der Kirche hoch und der Wagen wird nach einem Moment des Überlegens auf der anderen Seite die fünf Stufen hinunter geschubst.) Schieben! Gibt es etwas Schöneres als schieben? Nicht einmal das Gehen wurde mit solch ausdauerndem Jauchzen begleitet. Es muss doch etwas hinter dem Schieben stecken, ein (der erste?) geheimer Wunsch, den das Baby von Geburt an in sich trägt und der jetzt herausspringt (wie auch wir diesen Wunsch in uns getragen haben und noch in uns tragen und wie auch aus uns dieser Wunsch herausgesprungen sein muss – wir wußten ja bisher, trotz täglichem Kinderwagengeschiebe, nichts von diesem Wunsch, aber jetzt, da er aus unserem Baby herausspringt, springt er uns an wie ein junger Hund und mit einemmal spüren wir die freudige Spannung hinter ihm, die ihn herausgeschleudert hat). Ein geheimer Wunsch steckt hinter dem Schieben? Oder kommt es nur uns so vor, uns, die wir überall Geheimnis vermuten, wohin unsere Erinnerung nicht reicht, und was unserem Denken so überaus sinnlich widerstrebt? Der ganze Strudel strebt nach oben; Du glaubst zu schieben und du wirst geschoben, heißt es in Goethes Faust. Faust und Mephistopheles auf dem Weg zur Walpurgisnacht auf den Blocksberg (Faust und sein Puppenkinderwagen namens Mephistopheles – oder: Mephistopheles und sein Puppenkinderwagen namens Faust – in einer Hexennacht kann man reinen Gewissens alles vermuten, verknüpfen, verlinken): jedenfalls steht sinnliches Vergnügen bevor, Tanz und Feuer. Bewegt unser Baby seinen Puppenwagen, so bewegt es etwas, ein Stück Welt, unlebendige oder lebendige Welt, schiebt ein Stück Welt zur Seite, voran in eben dieser gleichen Welt. Eine großartige Illusion, die sich selten echt anfühlt! So kann man sich Partnerschaft vorstellen (wie die von Faust und Mephistopheles): ein großes Geschiebe, das einem die Illusion verschafft, man könnte bewegen, obwohl man selbst es ist, der oder die oder das bewegt wird. Dieser kleine Puppenwagen (ein Lob der Erfindungsgabe der Gegenwart, die jedes noch so sinnlose, unbrauchbare, überflüssige Ding in die Welt bringt, mit dem wir unser frühestes Dasein verlängern und an dem wir uns fleißig abarbeiten!), billiges Massenprodukt im Dienst einer ursprünglichen Freude, die wir nur mißverstehen und mißdeuten können. Immer noch glauben wir (du, ich), unser Baby würde bloß einen Puppenkinderwagen schieben, wir lachen über seine entzückende Einfalt, sein Jauchzen und Frohlocken und diese herrliche Verschwendung seiner Kraft. (Aber plötzlich macht unser Baby halt und lässt seinen Puppenwagen stehen. So plötzlich, unvermittelt, gedankenlos, dass wir schamhaft zurückweichen: fast verloschene Lust, Rückzug in die Glut, die still vor sich hin glimmt, bis was, ja bis was geschieht, die sie erneut anfacht? Genug Wagen und Welt bewegt. Pause. Stehend ruhen. So sind die Babys, so sind sie auch: Sie ruhen in sich, gänzlich ungeschoben.)

 

Das zweite Jahr – 20

20

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Kein Tag vergeht, an dem dieses Kind, unser Kind kein Glück wäre. Es muss nichts Besonderes tun, um uns das empfinden zu lassen. Wollten wir dieses Glück untersuchen, wüssten wir gar nicht, was untersuchen, wo anfangen mit dem Untersuchen. Dieses Glück ist ja nicht flüchtig, was uns die Voraussetzung für die Untersuchung der meisten Dinge zu sein scheint. Es ist so stark, beständig, zuverlässig – müsste es uns nicht leicht fallen, es zu ergründen? (Sich um sich selbst drehen macht unserem Baby Freude, und dann, im Schwung auf die Wiese stürzen, fallen, sinken. Es lacht auf der Erde, lacht mit den Grashalmen, den Gänseblümchen und dem schlanken Insekt mit den grün durchsichtigen Flügeln auf seiner Backe. Dann kommt es wieder hoch. Hände auf der Erde zwischen den Beinen, in die Hocke, in dieser Haltung noch ein paar Grashalme ausreißen, sich aufrichten und von neuem mit dem Drehen beginnen. Was es tut, macht uns glücklich, aber auch, wenn es nichts tut. Unser Glück kommt von unserem Baby, durch unser Baby, und irgendwie, schwer bestimmbar ist es ein anderes Glück als das, was von uns selbst kommt, durch uns selbst entsteht, durch dich oder mich.) Vielleicht hat es etwas mit dem Tod zu tun. Befand sich unser Baby anfänglich noch in dieser unverschämten Nähe zum Tod, ist er ihm nun gleichgültig, gleich gültig wie das Leben. Als wir die Treppe zur Kindergruppe hochlaufen, entdecken wir auf einem offenen Fenster im Dach, das in die Waagrechte gekippt ist, einen kleinen Hasen. Einen toten Hasen. Warm und weich ist das Tier, vom Himmel ist es gefallen, aus den Klauen eines Raubvogels vermutlich, aus dem schönen, wolkenlosen blauen Himmel ist es gestürzt, eine Beute, die ihren Tod versehentlich durch den Sturz gefunden hat. Kein Blut ist am warmen Hasenkind zu sehen, als wir es vorsichtig mit einem Stück Küchenkrepp vom Fenster heben. Wir spüren die Scheu, ein totes, eben gestorbenes Wesen mit bloßen Händen zu berühren; wir fürchten keine Krankheit, aber wie eine Krankheit die Übertragung des Todes durch direkte Berührung; jedoch unser Kind und all die anderen Kinder, die herbeikommen, wollen das Häschen anfassen, wie sie alles, was es gibt, anfassen wollen, ohne Zurückhaltung, ohne Furcht vor möglichen Folgen, ihrer ungeteilten Neugier folgend (oder ihrem Desinteresse, die das Häschen übersieht. Kommt es uns nur so vor, oder ist es wirklich so, dass in der einen Hälfte der Kinder das tote Tier Neugier weckt, die anderen Hälfte der Kinder ihm aber keinen Blick schenkt?). Leben und Tod, Tod und Leben, das Baby macht keinen Unterschied zwischen beiden, dieser Unterschied ist ihm nicht geläufig. Dieser Umstand kann seiner Unwissenheit zugeschrieben werden, besser aber wäre es, seine Unkenntnis hervorzuheben, die ein ungeheures Wissen in sich birgt: die Ungetrenntheit von Leben und Tod (die uns ein Rätsel ist und bleiben muss; andererseits, kennen wir den Unterschied zwischen Leben und Tod denn wirklich?) Was uns an unserem Baby als naiv erscheint (in unserer Todesfurcht, die so oft unser Denken und seine urteilende Lebenskontrolle lenkt), ist in Wahrheit eine merkwürdig bewußtlose (oder eine uns noch rätselhaftere bewußte) Weisheit, die vor keinem Unterschied halt macht. Wie könnte der Tod erschrecken, wenn er als nicht unterscheidbar vom Leben betrachtet wird? Wenn er gleichsam ein Phänomen des Lebens ist, auftaucht in der Gestalt eines vom Himmel gefallenen Häschens mit Genickbruch, und bald wieder genauso plötzlich verschwunden ist (auf dem Heimweg von der Spielgruppe suchen wir einen ruhigen Platz für den toten Hasen, unter einem dichten, niedrigen Busch. Wir bedecken ihn mit Blättern, sagen Tschüss und fahren weiter. Wie ein Freund ist dieser Tod, den wir für Augenblicke kennengelernt haben, aber uns jetzt aus unerfindlichen Gründen wieder von ihm trennen müssen. Wir werden noch ähnlichen Freunden begegnen, aber alles zu seiner Zeit). Der Tod: ein kleines Kind und den Tod zusammenzudenken, mutet ja fast absurd an. Ist doch die Lebenskraft des Kindes so ungeheuer groß, dass es fast wie der Überwinder des Todes erscheint. Si vero ad naturam animae et ad dispositionem, heißt es bei Thomas von Aquin, quae propter animam supernaturaliter humano corpori a principio indita fuit, est per accidens et contra naturam … der Tod ist nicht wesensnotwendig, ja wider die Natur … So scheint es zu sein: dass den kleinen Kindern die Unnatürlichkeit des Todes sichtbar ist, wohl weil ihre Seele noch in einer Weite zu Hause ist, die uns (und ihnen wird es ebenso geschehen) abhanden gekommen ist. So lässt sich die Dauerhaftigkeit des Glücks (das uns unser Kind durch sich spüren lässt) glaubhaft erklären: dank unseres Kindes nehmen wir gleichsam teil an der wesentlichen Seite des Lebens, der der Tod nicht mehr ist als ein Augenzwinkern, ein Klacks, ein Fleck, der sich selbst reinwäscht. Ist Das Erdbeben in Chili von Heinrich von Kleist nicht eine scheußliche Geschichte? Ein Paar, das sich nicht lieben darf, aber es dennoch tut, das ein Kind zeugt, Philipp, das den beiden Liebenden sofort entrissen und in ein Kloster verbracht wird, ein Erdbeben, das die  Strafen der Liebenden (die Mutter Josephe wird zum Tode verurteilt, der Vater Jeronimo in Haft genommen, wo er sich aus Verzweiflung erhängen möchte) zusammen mit dem Untergang Chilis zertrümmert, ihre Hoffnung auf Vergebung, da doch die Naturkatastrophe das gemeinsame Gute in den Menschen hervorgerufen zu haben scheint, ihre bittere Enttäuschung, als die Liebenden in einer Dankesmesse in der einzig unzerstörten Kirche neuerlich als die gotteslästerlichen Frevler und damit Verursacher des Erdbebens bezichtigt werden, und vom erregten, wütenden Mob schließlich erschlagen werden, Jeronimo sogar von seinem eigenen Vater. Ein Freund, Don Fernando, befand sich mit Josephe und Jeronimo in der eskalierenden Messe und auch sein kleiner Sohn Juan. Im allgemeinen Tumult und in der Blindheit der Wut des Mobs wurde ihm Juan bei den Beinen von seiner Brust gerissen, und, hochher im Kreise geschwungen, an eines Kirchpfeilers Ecke zerschmettert. Das Kind lag mit geplatztem Kopf auf dem Boden. Hierauf war es still, und alles entfernte sich. Eine sonderbare Ruhe kehrte ein und Don Fernando nimmt mit seiner Frau Philipp als Pflegesohn an. Diese Geschichte bildet ein unglaubliches Gleichgewicht ab: ein Kind stirbt, eines überlebt. Ein Kind wird getötet, ein Kind am Leben gelassen. Ein wenig rätselhaft heißt es am Ende: und wenn Don Fernando Philippen mit Juan verglich, und wie er beide erworben hatte, so war es ihm fast, als müßt er sich freuen.

DAS ZWEITE JAHR – 19

19

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Zwei Welten. Die Babywelt. Unsere Welt. Die Nähe zu unserem Kind täuscht uns sowohl über die Unverbundenheit dieser zwei Welten wie über ihre Verbundenheit. Wir wollen glauben, dass unsere Welt eine Art Zielwelt für das Baby ist. Dorthin! Sich dorthin entwickeln, werden wie wir, sein wie wir. Ahmt unser Kind uns nicht ständig nach? Aber woraus ahmt es uns nach? Aus welcher Welt heraus? Aus einer Welt, die unserer ganz und gar ungleich ist? Aus einer Nichtwelt? Natürlich glauben wir, in einer Welt zu leben, einer gemeinsamen (die unsere ist, nur unsere sein kann). Es ist die uns seit langem bekannte Welt, in der zu leben jedem Neuankömmling bevorsteht (oder sollen wir sagen droht? Aber das würde in die falsche Richtung weisen, denn wir sind ja liebende Eltern, die ohne Argwohn und schlechte Gedanken ihr Kind empfangen, mit offenen Armen und offenem Herzen! Trotzdem: diese, unsere Welt ist zumindest Drohung in dem Sinn, dass die Begegnung mit ihr, einmal geboren, unausweichlich ist, wer auf die Welt kommt, kommt auf unsere Welt und keine andere, hat keine Wahl). Die uns seit langem bekannte Welt, haben wir gesagt: kaum gesagt, schon fällt der Zweifel über uns her (der Zweifel ist wie ein Hund, der uns anspringt, sagen wir uns, er will nur spielen, mit uns spielen; lassen wir ihn spielen). Diese Welt, unsere Welt, sie kommt uns unbekannt vor, neu, frisch, wenn wir nicht mit den eigenen Augen sehen, nicht mit den eigenen Ohren hören. Wir hören das Läuten der Kirchenglocken mit den Ohren des Babys. Wir versuchen es, wir reaktivieren unsere Babyohren, es fällt uns leicht, also hören wir jetzt in einer Welt, was spielt es noch für eine Rolle, ob es unsere Welt ist oder die des Babys. Möglich, dass die Welt unseres Babys eine oberflächliche Welt ist oder die Welt der Oberfläche oder die Welt, die nur Oberfläche ist. In einem Salute to Carolee Schneemann schreibt der Filmemacher und Schriftsteller Jonas Mekas kurz und knapp: So much has been said about the „essence“ of things and men that you`ll forgive me if I say a few words in praise of the surface. (Nein, es ist kein Experiment in der reichen Stadt, es ist Zufall. Im Museum der Moderne auf dem Mönchsberg stolpern wir in eine Carolee Schneemann Werkschau: ohne Absicht, nur, weil es regnet und wir nicht draußen sein können, nur, weil wir auf jede Ausstellung, die uns über den Weg läuft, neugierig sind, oder einfach nur so. Gibt es eine Verwandtschaft der Oberflächlichkeit dieser Kunst mit der oberflächlichen Welt unseres Babys? Ein kurzer Schrei klärt über die Unverwandtschaft auf. Obwohl wir die blutigen, saftigen Bilder sich wälzender Körper meiden und nur die harmlosen Objekte betrachten, war nie ein größeres Unwohlsein unseres Babys spürbar als in dieser Ausstellung. Wir haben unverantwortlich gehandelt, haben einen Moment geglaubt, die Welt der Kunst könnte der Welt des Babys zumindest ähnlich sein, besonders die Welt der oberflächlichen Kunst. Keine Welt, erkennen wir jetzt, könnte der Babywelt unähnlicher, fremder, geistesunverwandter sein als die Welt der Kunst. Selbst wenn der Blick der Kunst ein naiver sein sollte, gibt es keine Verwandtschaft. Unser Baby blickt nie naiv. Den frommen Wunsch der Kunst nach reinem, unverstelltem, offenem, spitzfindigem, ursprünglichem, eigentlichem Blick teilt das Baby nicht im Geringsten. Die Welt der Kunst, müssen wir zugeben, ist unsere Welt, die Welt des Babys ist kunstfern, kunstfrei, kunstlos.) Zwei Welten. Jonas Mekas sagt: I`am only celebrating what I see. Was uns sympathisch ist, ist unserem Baby gleichgültig. Es feiert nicht. Sein Jauchzen beim Anblick der Tauben, die auf ein hingeworfenes Stückchen Brot eilig zutrippeln, gilt vielleicht nur diesem komischen Anblick der Vögel, die ihre irdische Höchstgeschwindigkeit so deutlich sichtbar erreicht haben, und dennoch kaum einen Flügelschlag riskieren, der sie erheblich schneller zum Brot bringen würde. Oder unser Baby jauchzt nur deshalb, weil es im Brotwurf seine Kausalität entdeckt und den Zusammenhang Brot-Taube, der verblüfft und erheitert. Aber es feiert nicht, wendet sich ab mit der gleichen Plötzlichkeit, mit der sich die Tauben abwenden, obwohl das Spiel noch nicht zu Ende ist und auch wenn es zu Ende ist. (Und gleich wieder bellt uns der Zweifel an. Nur zu gerne würden wir unser Baby in unser Bewußtseinsboot ziehen und mit ihm auf dem Fluß der Zusammenhänge uns mal treiben lassen, mal unser verständiges Padel auspacken, um dahin und dorthin steuern. Uns davon abzuhalten, unsere beiden Welten zu verknüpfen, ist wirklich unmöglich.) Ein Gewinn lockt uns, auf den beiden Welten zu bestehen. Die Welt des Babys ist nicht unsere Welt und unsere Welt ist nicht die des Babys, rufen wir wiederholt, weil wir den Gewinn deutlicher hervorlocken wollen. Denken wir nur an unsere Welt, bleibt uns nur der Verlust (oh doch, wir mögen unsere Welt, machen uns aber nichts vor: nur unsere Welt ist Verlust). Wollten wir nur auf der Welt des Babys bestehen, als  einziger Welt (was wir gar nicht könnten), als der Welt, die wir verloren haben (schon wieder Verlust, kaum neigen wir uns einer Seite zu: Verlust), wäre das Rätsel ungleich größer. Beide Welten sind ein Rätsel, die Welt des Baby, unsere Welt. Und dass es zwei Welten sind, ist ein Rätsel. Die Lösung liegt natürlich in der Verbindung, die wir, nein, nicht abstreiten, aber zurückhalten. Die Verbindung kann keine einfache sein, das ist uns klar: sie kann nicht so sein, dass es uns möglich wäre, sie zu verstehen. Wir müssen uns den Unverstand gestatten und doch nicht aufhören, die beiden Welten zu verbinden. Sieh, sagen wir, dort ist unser Baby in seiner Welt. Ohne seine Welt wäre unsere verloren. Traurig, aber wahr: seine Welt braucht unsere Welt nicht. Aber unser Baby braucht uns, wie wir unser Baby brauchen. Diese zwei Welten sind nur deshalb zwei Welten, weil sie nicht eine sind. Wenn sie eine wären, wären sie nicht zwei und es gäbe keine Babys. Mein Gott, rufen wir (es ist uns so herausgerutscht), das Baby ist doch unser Meister! So ist es auf die Welt gekommen: als unser Meister. Nur auf welche Welt? Doch nicht auf seine eigene! (So geht es eine Zeitlang dahin, während unser Baby an diesem regnerischen Tag in ein merkwürdiges Schlendern verfällt und, es mag glauben, wer will, nach einigem Herumwandern tatsächlich und erstaunlich vorsichtig Martin Heideggers Sein und Zeit aus dem Bücherregal zieht und vor sich auf den Boden legt. Es ist der Band mit dem verfärbten Umschlag, irgendwie hat die Sonne über die Jahre das ursprüngliche Braun des Umschlags – am Buchrücken besonders deutlich – in ein helles Pistaziengrün verwandelt, verschoben, verzaubert, entzaubert, als wäre Grün die eigentliche Farbe des Buches. Und es mag auch glauben, wer will, unser Baby schlägt das Buch – es ist sein erster Versuch – im vorderen Drittel auf und deutet dann wie wild mit dem Zeigefinger auf diese Stelle: Und wenn die Frage nach der „Welt“ gestellt wird, welche Welt ist gemeint? Weder diese noch jene, sondern die Weltlichkeit von Welt überhaupt. Und zum Dritten mag es glauben, wer will, nach seiner wilden Deuterei, schlägt es das Buch wieder zu und trägt es zu dir, übergibt es dir mit harscher Entschiedenheit und gibt dir deutlich zu verstehen, dass du es einfach nur festhalten sollst. – Später am Abend sagen wir uns, im Grunde leben wir doch alle wie aus einer Höhle, aus einer verborgenen Babywelt heraus unser Leben. Und dann sagen wir, es soll doch bitte nie aufhören mit dem Baby und seiner Meisterschaft, aber es wird irgendwann aufhören – oder? -, es sei denn … Oder ist es noch zu früh, an ein weiteres Baby zu denken? Seltsam, dass die Menschen bei uns sich auf ein, zwei, drei Nachkommen eingeregelt haben, aber vielleicht braucht man nicht mehr als ein, zwei, drei Meister in einem Leben.)

DAS ZWEITE JAHR – 18

18

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Es ist einer dieser Augenblicke, in dem schlagartig begriffen wird (ein Quantensprung, so muss er sich anfühlen), dass kaum etwas, das wir für selbstverständlich halten, von mehr als einer geglaubten Basis getragen wird. Die Klotüre öffnet sich. Jemand schiebt sich herein. Das mit den Türen klappt nicht immer sofort, manchmal schwingt die Tür wieder zurück in ihren Rahmen. Dann versucht es die Hand ein zweites Mal, zieht an der Türkante und reißt sie auf, dass sie an die Wand donnert und heftig zurückfedert. Kümmert unser Baby nicht, denn es ist schon drinnen. Zu seinen Eltern kennt es keine Grenzen, es gibt keine Grenzen zwischen ihm und uns. Wir sind eine Art vereinigtes Königreich, dem unser Baby vorsteht. Sein Thron berechtigt ihn zu allem, was ihm gerade in den Sinn kommt (oder schon länger in ihm schlummerte; das Nachdenken hat längst begonnen). Berechtigung ist das falsche Wort, unser Baby braucht kein Recht. Nicht einmal ein Naturrecht. Es steht über allem Rechtlichen, mit so etwas hält es sich nicht auf. Will es an einen Ort, an dem wir uns gerade befinden, wird es dort hingehen. Unser Bedürfnis nach Intimität, unser Bedürfnis manche Dinge allein zu erledigen – in der Welt unseres Babys gibt es nichts, was seine Eltern unbedingt (oder bedingt) allein erledigen müssten. Überhaupt ist unser Wunsch, etwas allein zu erledigen, nur für uns zu sein, unbeobachtet und unsichtbar für den Rest der Welt, seit einiger Zeit schwersten Prüfungen ausgesetzt. Unsere Individualität findet ja nicht nur im Kopf oder Herz statt, sie ist auch eine Sache des Körpers. Wir wollen uns nur zeigen, wenn wir uns zeigen wollen. Also das, was wir als gesundes Selbstverständnis betrachten und bei uns und den anderen beachten, das wir dringend brauchen, um uns nicht gläsern vorzukommen (eine Art Recht auf unsere Dunkelheit), wird plötzlich nicht einmal in Frage gestellt, sondern ohne sich mit Fragerei aufzuhalten, als Unsinn und unnötig, sogar als Illusion enttarnt (vielleicht sind wir ja in Wirklichkeit – auch ohne Baby – niemals allein!). Es geht nicht nur um unsere Hygiene (sie macht, wenn das Baby sich durch die Klotür zwängt, seine Grenzenunkenntnis nur augenfälliger als andere Dinge), es geht genauso ums Brotschmieren oder Sockenanziehen. Alles, was wir tun, ist gewissermaßen auch ein intimes Tun, auch wenn wir uns weniger daran stören, wenn uns jemand zusieht, wie wir Butter abschneiden, als wenn wir uns ein Haar an unpassender Stelle entfernen oder unserer Notdurft nachgehen (die eben für unser Baby von besonderem Interesse zu sein scheint). Bei allem, was wir tun, bestehen wir auf unsere innere Autonomie, selbst wenn wir nur den Notwendigkeiten des Alltags, der Arbeit gehorchen. Wir wollen uns nicht ständig über die Schulter blicken lassen. Jeden, der diesen Abstand eines fremden (auch unfremden) Blicks, den wir bestimmen, nicht respektiert, würden wir augenblicklich (oder, falls wir schwach sind nach einigem Nachdenken) und ein wenig wütend zurechtweisen. Wir sind unsere eigenen Herren (und Damen)! Davon sind wir ziemlich stark überzeugt und unser Leben scheint uns recht zu geben. Das eigene Leben in der eigenen Hand zu haben ist selbstverständlich, selbst, wenn es uns da und dort manchmal ein wenig entgleitet. So sehen wir das Leben: vielleicht waren wir anfänglich, als Baby, als Kind, nicht Herr oder Dame (Dame gefällt unserem Baby: ein leicht auszusprechendes Wort, eines seiner ersten Worte, das auf alle älteren, eher beleibteren Frauen passt und bisweilen auch auf ältere, beleibtere Herren) unseres eigenen Lebens, aber heute, als Erwachsene sind wir es im großen und ganzen. Das ist keine Illusion, sagen wir uns (nein, das sagen wir uns nicht, denn das hieße ja, diese Illusion bereits in Erwägung zu ziehen), das ist die Realität, sagen wir, die Wirklichkeit, Ergebnis vernünftigen Nachdenkens etc. Doch dann macht sich unser Baby auf den Weg, verfolgt uns, beobachtet uns, bricht in jeden Winkel, an dem wir uns für drei Sekunden verbergen wollten, ein. Und schneller als schnell kapitulieren wir vor seiner Zudringlichkeit. Wir mögen uns noch einreden, das sei eben etwas Anderes mit dem Baby, seine Grenzsprengungen sind nicht ernst zu nehmen, ein Sonderfall menschlichen Beisammenseins, der Nachwuchs ist eben der Nachwuchs, unser Nachwuchs, Ebenbild (ein bißchen halten wir uns schon für gottgleich), dem gegenüber es weder Scham noch Grenze gibt und im übrigen ist es nur eine Frage der Zeit, bis Scham und Grenze entstehen und wachsen werden. So sind wir, so sind wir auch, denken wir (während unser Baby uns beim Zehennagelschneiden zusieht und auf einmal der Idee verfällt, in unseren großen Zeh zu beißen – ein König kann in seinem Königreich beißen in was immer er mag) und doch sind wir ganz anders, wenn wir die Meisterschaft unseres Babys nicht vergessen, wenn wir nicht außer acht lassen, dass unser Baby sich mit seinem Tun immer auch in unsere Aufmerksamkeit stiehlt, um sie so gekonnt von den äußeren Dingen auf die inneren Dinge zu lenken, eben auf diese raffinierte (und uns mit Charme überrumpelnde) Art und Weise, die wahre Meisterschaft verrät. Kurz: unser Baby macht uns sichtbar. Uns für uns selbst. Es kratzt an dem, was wir für unsere Autonomie halten (aus der heraus wir auch überzeugt sind, unserem Kind gegenüber verantwortlich zu handeln), indem es Türen öffnet, die wir normalerweise verschlossen halten. Wenn wir wollen, stellt das Baby uns in Frage. Es knabbert an unserem Selbst und seine Beschränktheit auf uns selbst. Denn selbst, wenn wir die meiste Zeit unseres Lebens tags verbringen, sind wir doch Nachtfalter. Nachtfalter, die unser Baby ins rechte Licht rückt. (Apropos Nachtfalter. Kleiner Exkurs über das Erforschen: Der berühmte Insektenforscher Jean-Henri Fabre – blendender Stilist, großer Erzähler, unermüdlicher Beobachter – ermöglicht einem Weibchen des Großen Nachtpfauenauges in seinem Tierlaboratorium das Entschlüpfen aus seinem Kokon, um es sogleich unter einer Drahtglocke zu isolieren. Im Übrigen hatte ich keine besonderen Pläne mit ihm. Ich sperre es aus reiner Gewohnheit eines Beobachters ein, der auf das achtet, was geschehen kann, schreibt er in seinen Erinnerungen. In der folgenden Nacht rücken sie an, die verliebten männlichen Großen Nachtpfauenaugen, vierzig Stück, von überall her kommen sie angeflogen und wecken Fabres Neugier. Wie können die Falter so schnell und in so großer Zahl Wind bekommen haben von diesem einsamen Weibchen, in dem allein ihr eigenes Sein sein Ziel zu erkennen scheint? Wodurch vermittelt das Weibchen seinen paarungsbereiten Zustand? Durch einen Duft, den die Federbüsche der Antennen der Männchen über weite Strecken nachzuverfolgen in der Lage sind? Mit einer scharfen Schere schneide ich die Antennen nah an der Basis ab … Die Amputierten beachten die Operation fast nicht. Sie rühren sich nicht, nur die Flügel flattern kurz. Dies sind gute Voraussetzungen: Die Verletzung scheint nicht schwer zu sein. Die Enthörnten werden nicht von Schmerzen erregt und entsprechen so noch besser meinen Plänen. Die Verstümmelung des Wahrnehmungsapparates der Insekten sind ein probates Mittel in Fabres Forschungen. Und kein unübliches bis heute. Forschung verstümmelt gern, um einer höheren Erkenntnis willen. Die Moral beiseite lassend, kommt uns die Verstümmelung doch vor wie eine ganz und gar merkwürdige Art des Erforschens. Merkwürdig, weil kaum vorstellbar ist, dass das verstümmelte Wesen nach dem Eingriff in die Autonomie seines Körpers noch in der Lage sein könnte, seine tiefsten Geheimnisse zu verraten. Merkwürdig auch, weil uns diese Verstümmelung des Wahrnehmungsapparates in einer fast unbegreiflichen Weise uns Menschen verwandt vorkommt, als hätte man auch uns einst die gefiederten Fühler gestutzt, was wir von Schmerzen unerregt, hingenommen haben und immer noch hinnehmen.)