DAS ZWEITE JAHR – 18

18

Das erste Jahr Babybuddha jetzt auf:

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Es ist einer dieser Augenblicke, in dem schlagartig begriffen wird (ein Quantensprung, so muss er sich anfühlen), dass kaum etwas, das wir für selbstverständlich halten, von mehr als einer geglaubten Basis getragen wird. Die Klotüre öffnet sich. Jemand schiebt sich herein. Das mit den Türen klappt nicht immer sofort, manchmal schwingt die Tür wieder zurück in ihren Rahmen. Dann versucht es die Hand ein zweites Mal, zieht an der Türkante und reißt sie auf, dass sie an die Wand donnert und heftig zurückfedert. Kümmert unser Baby nicht, denn es ist schon drinnen. Zu seinen Eltern kennt es keine Grenzen, es gibt keine Grenzen zwischen ihm und uns. Wir sind eine Art vereinigtes Königreich, dem unser Baby vorsteht. Sein Thron berechtigt ihn zu allem, was ihm gerade in den Sinn kommt (oder schon länger in ihm schlummerte; das Nachdenken hat längst begonnen). Berechtigung ist das falsche Wort, unser Baby braucht kein Recht. Nicht einmal ein Naturrecht. Es steht über allem Rechtlichen, mit so etwas hält es sich nicht auf. Will es an einen Ort, an dem wir uns gerade befinden, wird es dort hingehen. Unser Bedürfnis nach Intimität, unser Bedürfnis manche Dinge allein zu erledigen – in der Welt unseres Babys gibt es nichts, was seine Eltern unbedingt (oder bedingt) allein erledigen müssten. Überhaupt ist unser Wunsch, etwas allein zu erledigen, nur für uns zu sein, unbeobachtet und unsichtbar für den Rest der Welt, seit einiger Zeit schwersten Prüfungen ausgesetzt. Unsere Individualität findet ja nicht nur im Kopf oder Herz statt, sie ist auch eine Sache des Körpers. Wir wollen uns nur zeigen, wenn wir uns zeigen wollen. Also das, was wir als gesundes Selbstverständnis betrachten und bei uns und den anderen beachten, das wir dringend brauchen, um uns nicht gläsern vorzukommen (eine Art Recht auf unsere Dunkelheit), wird plötzlich nicht einmal in Frage gestellt, sondern ohne sich mit Fragerei aufzuhalten, als Unsinn und unnötig, sogar als Illusion enttarnt (vielleicht sind wir ja in Wirklichkeit – auch ohne Baby – niemals allein!). Es geht nicht nur um unsere Hygiene (sie macht, wenn das Baby sich durch die Klotür zwängt, seine Grenzenunkenntnis nur augenfälliger als andere Dinge), es geht genauso ums Brotschmieren oder Sockenanziehen. Alles, was wir tun, ist gewissermaßen auch ein intimes Tun, auch wenn wir uns weniger daran stören, wenn uns jemand zusieht, wie wir Butter abschneiden, als wenn wir uns ein Haar an unpassender Stelle entfernen oder unserer Notdurft nachgehen (die eben für unser Baby von besonderem Interesse zu sein scheint). Bei allem, was wir tun, bestehen wir auf unsere innere Autonomie, selbst wenn wir nur den Notwendigkeiten des Alltags, der Arbeit gehorchen. Wir wollen uns nicht ständig über die Schulter blicken lassen. Jeden, der diesen Abstand eines fremden (auch unfremden) Blicks, den wir bestimmen, nicht respektiert, würden wir augenblicklich (oder, falls wir schwach sind nach einigem Nachdenken) und ein wenig wütend zurechtweisen. Wir sind unsere eigenen Herren (und Damen)! Davon sind wir ziemlich stark überzeugt und unser Leben scheint uns recht zu geben. Das eigene Leben in der eigenen Hand zu haben ist selbstverständlich, selbst, wenn es uns da und dort manchmal ein wenig entgleitet. So sehen wir das Leben: vielleicht waren wir anfänglich, als Baby, als Kind, nicht Herr oder Dame (Dame gefällt unserem Baby: ein leicht auszusprechendes Wort, eines seiner ersten Worte, das auf alle älteren, eher beleibteren Frauen passt und bisweilen auch auf ältere, beleibtere Herren) unseres eigenen Lebens, aber heute, als Erwachsene sind wir es im großen und ganzen. Das ist keine Illusion, sagen wir uns (nein, das sagen wir uns nicht, denn das hieße ja, diese Illusion bereits in Erwägung zu ziehen), das ist die Realität, sagen wir, die Wirklichkeit, Ergebnis vernünftigen Nachdenkens etc. Doch dann macht sich unser Baby auf den Weg, verfolgt uns, beobachtet uns, bricht in jeden Winkel, an dem wir uns für drei Sekunden verbergen wollten, ein. Und schneller als schnell kapitulieren wir vor seiner Zudringlichkeit. Wir mögen uns noch einreden, das sei eben etwas Anderes mit dem Baby, seine Grenzsprengungen sind nicht ernst zu nehmen, ein Sonderfall menschlichen Beisammenseins, der Nachwuchs ist eben der Nachwuchs, unser Nachwuchs, Ebenbild (ein bißchen halten wir uns schon für gottgleich), dem gegenüber es weder Scham noch Grenze gibt und im übrigen ist es nur eine Frage der Zeit, bis Scham und Grenze entstehen und wachsen werden. So sind wir, so sind wir auch, denken wir (während unser Baby uns beim Zehennagelschneiden zusieht und auf einmal der Idee verfällt, in unseren großen Zeh zu beißen – ein König kann in seinem Königreich beißen in was immer er mag) und doch sind wir ganz anders, wenn wir die Meisterschaft unseres Babys nicht vergessen, wenn wir nicht außer acht lassen, dass unser Baby sich mit seinem Tun immer auch in unsere Aufmerksamkeit stiehlt, um sie so gekonnt von den äußeren Dingen auf die inneren Dinge zu lenken, eben auf diese raffinierte (und uns mit Charme überrumpelnde) Art und Weise, die wahre Meisterschaft verrät. Kurz: unser Baby macht uns sichtbar. Uns für uns selbst. Es kratzt an dem, was wir für unsere Autonomie halten (aus der heraus wir auch überzeugt sind, unserem Kind gegenüber verantwortlich zu handeln), indem es Türen öffnet, die wir normalerweise verschlossen halten. Wenn wir wollen, stellt das Baby uns in Frage. Es knabbert an unserem Selbst und seine Beschränktheit auf uns selbst. Denn selbst, wenn wir die meiste Zeit unseres Lebens tags verbringen, sind wir doch Nachtfalter. Nachtfalter, die unser Baby ins rechte Licht rückt. (Apropos Nachtfalter. Kleiner Exkurs über das Erforschen: Der berühmte Insektenforscher Jean-Henri Fabre – blendender Stilist, großer Erzähler, unermüdlicher Beobachter – ermöglicht einem Weibchen des Großen Nachtpfauenauges in seinem Tierlaboratorium das Entschlüpfen aus seinem Kokon, um es sogleich unter einer Drahtglocke zu isolieren. Im Übrigen hatte ich keine besonderen Pläne mit ihm. Ich sperre es aus reiner Gewohnheit eines Beobachters ein, der auf das achtet, was geschehen kann, schreibt er in seinen Erinnerungen. In der folgenden Nacht rücken sie an, die verliebten männlichen Großen Nachtpfauenaugen, vierzig Stück, von überall her kommen sie angeflogen und wecken Fabres Neugier. Wie können die Falter so schnell und in so großer Zahl Wind bekommen haben von diesem einsamen Weibchen, in dem allein ihr eigenes Sein sein Ziel zu erkennen scheint? Wodurch vermittelt das Weibchen seinen paarungsbereiten Zustand? Durch einen Duft, den die Federbüsche der Antennen der Männchen über weite Strecken nachzuverfolgen in der Lage sind? Mit einer scharfen Schere schneide ich die Antennen nah an der Basis ab … Die Amputierten beachten die Operation fast nicht. Sie rühren sich nicht, nur die Flügel flattern kurz. Dies sind gute Voraussetzungen: Die Verletzung scheint nicht schwer zu sein. Die Enthörnten werden nicht von Schmerzen erregt und entsprechen so noch besser meinen Plänen. Die Verstümmelung des Wahrnehmungsapparates der Insekten sind ein probates Mittel in Fabres Forschungen. Und kein unübliches bis heute. Forschung verstümmelt gern, um einer höheren Erkenntnis willen. Die Moral beiseite lassend, kommt uns die Verstümmelung doch vor wie eine ganz und gar merkwürdige Art des Erforschens. Merkwürdig, weil kaum vorstellbar ist, dass das verstümmelte Wesen nach dem Eingriff in die Autonomie seines Körpers noch in der Lage sein könnte, seine tiefsten Geheimnisse zu verraten. Merkwürdig auch, weil uns diese Verstümmelung des Wahrnehmungsapparates in einer fast unbegreiflichen Weise uns Menschen verwandt vorkommt, als hätte man auch uns einst die gefiederten Fühler gestutzt, was wir von Schmerzen unerregt, hingenommen haben und immer noch hinnehmen.)

 

 

 

 

 

 

 

 

 

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