Das vierte Jahr

Das erste Jahr Babybuddha jetzt auf:

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Warum gibt es euch?

Warum gibt es überhaupt Kinder? Sind sie doch die unwahrscheinlichsten Wesen, die man sich ausdenken kann. Sie sind eigentlich zu klein, sie sind zu wenig zu gebrauchen, sie stellen zuviele Fragen, die sie auch noch zu häufig wiederholen, sie geben schlecht Antwort, unternehmen verrückte Dinge, dann wollen sie wieder auf den Schoß und herumgetragen werden, sie stehen zu früh auf oder zu spät, sie sind maßlos, dauernd fällt ihnen etwas aus der Hand und niemals sind sie ruhig oder so ruhig, dass wir uns beunruhigen. Warum gibt es diese Wesen? Wesen sind sie ganz gewiß. Im Grimmschen Wörterbuch lesen wir vom Wesen: vom leben und weben, vom existieren, vom da sein, vom wirkenden dasein und auch vom verweilen. Es kommt uns vor, Kinder sind viel mehr Wesen als wir es sind; vielleicht sind wir Großen gar keine Wesen. Nicht mehr. Oh ja, die Kinder sind da, so ungeheuerlich anwesend und der Grad ihrer Anwesenheit entspricht ihrer Lebendigkeit und Wirksamkeit. Sie wirken überall, wo wir sie antreffen, aber vornehmlich wirken sie in uns. Unser Sohn wirkt in uns (in dir, in mir) und damit könnte die Eingangsfrage schon beantwortet sein: Kinder sind da, um in uns zu wirken. Ohne Kinder könnten wir nicht sein. Ohne Kinder könnte die Welt nicht sein. Kinder müssen nachwachsen, nachkommen, nicht damit sie die Gattung erhalten (das auch), sondern damit ihre Wirksamkeit niemals endet. Wir brauchen jemanden, der auf und in uns wirkt und das vielmehr, als die Kinder uns brauchen. Das Baby war zu groß für uns, seine Meisterschaft war überwältigend. Sie endete nicht einfach, sondern schlüpfte in die Rolle des umtriebigen, gelenkigen, munteren Kindes. Das Nichtsprechen des Babys war für uns oft wie ein täglicher, stündlicher, dauernder Besuch eines schweigsamen Orakels. Das Baby äußerte sich, gab uns Zeichen, Hinweise, Rätsel. Die Einfachheit seiner Sprache war viel schwieriger zu verstehen als es eine entwickelte, komplexe Sprache je sein könnte: ist uns doch das Einfache das Unvertrauteste, obwohl nur das Einfachste das Wesentliche hörbar machen kann. Das immerhin haben wir verstanden. Unser merkwürdiges Unverständnis dem Einfachen gegenüber, als würden wir es fürchten. Unsere genauso merkwürdige Furcht vor dem Wirken, das von außen in uns hineinschlüpft, ohne dass wir es abwehren könnten. Wir überschätzen unseren Einfluß, unser Wirken auf unser Kind, der, das zeigt sich jetzt nach den wenigen ersten Jahren, doch eher gering ist. Sind wir wie einer der Laboranten, in deren Forschungsarbeit sich laut E. M. Cioran weniger Weisheit finden lässt als im Grinsen eines Schwachsinnigen? Am Grinsen eines Schwachsinnigen wollen wir uns nicht messen lassen, aber betrachten wir unser Tätigsein und Tun, unsere Vorbildhaftigkeit und Erziehungskunst, müssen wir Cioran recht geben. Wir wissen wenig und wenig ist in den vergangenen zweieinhalb Jahrtausenden in diesem Bereich hinzugekommen. Bei Cioran heißt es: Hätte die Philosophie seit den Vorsokratikern auch keinerlei Fortschritt zu verzeichnen, es bestünde darum dennoch kein Grund zur Klage. Erschöpft inmitten all des Begriffsplunders, erkennen wir schließlich, daß unser Leben nach wie vor ein Hin und Her inmitten der Elemente bleibt, aus denen sie schon damals die Welt aufbauten, daß immer noch Erde, Wasser, Feuer und Luft uns bedingen …“ Das ist ein noch packenderer Gedanke, wenn man die Kinder mit ins Spiel bringt. Das Kind ist das fünfte Element, das den Glauben an den Fortschritt schon allein durch seine unbegreifliche Unveränderbarkeit widerlegt. Kinder sind Kinder, immer und zu allen Zeiten war das so und damit haben wir (immerhin einen) Grund für ihre Existenz gefunden. Es gibt sie, weil sie die Welt, unsere Welt in ihrem tatsächlichen Zustand bejahen (in dem Zustand ihres den vier Elementen Ausgesetztseins) und in dieser Bejahung in uns wirksam sind. Wären wir allein der Eitelkeit unseres wuchernden Verstandes ausgeliefert, würden wir verzweifeln. Wir brauchen eine Kraft, die uns denken lässt, die uns alles denken lässt, die uns auf unserem eitlen, sehnsüchtigen, süchtigen Fortschrittsweg, der doch nur ins Paradies führen soll, auf seinem Schoß sitzen lässt. (Unser Kind wirkt im Raum und in der Zeit. Bei einem Besuch im Haus seiner Großmutter stoppt es die Zeit. Und der Raum wechselt sein Element. Aus Luft wird Wasser. Unser Kind schwimmt im Haus seiner Großmutter. Einmal steige ich hinter ihm die Treppe hinauf in den ersten Stock. Ich wundere mich, wie sich unser kleiner Sohn die großen Stufen der steilen Treppe hinaufbewegt. Sein Gehen zu beobachten und ihm in diesem Gehen zu folgen ist reizend, geistvoll, wunderbar. Es ist ein Gehen und Steigen und nichts als Gehen und Steigen. Gehen und Steigen durch die Erwachsenendimension und in ihr, einer Dimension, in der unser Sohn mit unglaublicher Klarheit vorankommt, als wäre das Gehen und Steigen an sich der Sinn des Lebens. Sinn kommt vom althochdeutschen Verb sinnan in der ursprünglichen Bedeutung einer Ortsbewegung. Auf dem Weg sein, unterwegs sein: das ist das Augenfälligste an unserem Kind, dass es immer in Bewegung ist, selbst wenn es zu ruhen scheint. Und so zeigt mir sein Gehen und Steigen – und mein Folgen – warum es unser Kind, all diese vielen Kinder gibt: damit wir, alles, die Welt nicht aufhören sich zu bewegen).