Das zweite & dritte Jahr 51

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51

Wir laufen durch die Stadt, munter, verwegen, nicht immer mit einem Ziel und doch mit einer starken Vorwärtsbewegung, einem Drang zum Voran, wir laufen nebeneinander, oder ich laufe hinterher, oder unser Sohn läuft mir hinterher. (Bisweilen ist es so, als wäre ich die lebendige Steuerung einer Videofigur, die sich durch den Beinedschungel eiliger Riesenwesen zu schlängeln versucht, um ruckartig vor dem Blinken in einer Schaufensterauslage Halt zu machen, um dort intensive Augenblicke zu sammeln. Ich, die Steuerung, bin meinerseits gesteuert, setzt sich mein kleiner Avatar in Bewegung, setze ich mich ohne zu zögern ebenfalls in Bewegung und bin keiner Richtung abgeneigt.) Zwischendurch besorgen wir in einem Geschäft einen Gegenstand, den wir unbedingt benötigen und bei dieser Gelegenheit zieht sich unser Sohn an der Wasserstation einen der spitzen Pappbecher aus der Halterung und füllt ihn halb, halb lässt er ihn füllen mit herrlichem Nass (hier gibt es für den Avatar und seine Steuerung Extrapunkte, wenn sie nichts verschütten und den Becher ordentlich in der Abfallsäule entsorgen). Wieder draußen, nimmt unser Stadtspaziergang eine Wendung, die der Dämmerung und aufkommender Müdigkeit geschuldet ist. Der Sohn will auf die Schultern des Vaters (Steuerung und Avatar koppeln sich aufeinander, werden eine Figur, fast), was seine Müdigkeit augenblicklich abschwächt. Unbewegt bewegt beschwingt ihn sein hoher Aussichtspunkt, sein schaukelnder Hochsitz, und er ruft hinunter und hinein in die nach unten geschrumpfte Innenstadtabendwelt, die sich rege zu seinen Füßen ausbreitet. Was ruft er da, mit hell tönender Stimme, die keinen Zweifel kennt? Er ruft seinen eigenen Namen, den ganzen, Vor- und Nachname und danach ruft er den Namen seines Trägers (und Schülers, seiner gesteuerten Steuerung), mit gleicher Inbrunst und Freude. Ja, Freude ist sein unüberhörbares Rufen, und ein seliger Übermut lacht hervor, der durchaus ansteckend ist (erst jetzt regen sich manche der Mitspieler, Passanten, Geschäftigen, heben ihren Kopf und zeigen ihr Gesicht, in das die Stimme unseres Sohns Fröhlichkeit zaubert). Herrlich ist diese enge Verknüpfung von Vater und Sohn, auch wenn dem Vater der Nacken nach einiger Zeit als Träger zu schmerzen beginnt. Aber was ist der Schmerz gegen das Gekraule der Kinderhände an seinen Ohren, oder das kindliche Fingerspiel in seinem Haar oder gar gegen das Bedecken seiner Augen mit Kinderhänden, deren Finger viele Spalten freilassen, um hindurchzuspähen. Die Körper sind Vertraute (obwohl sie sich doch noch gar nicht solange kennen), als wäre das Vertrauen zuerst einmal eine körperliche Angelegenheit. Dann, zuhause, läuft unser Kind nackt durch die Wohnung, sein Quietschen scheint unmittelbar verbunden mit der Geschmeidigkeit seiner Bewegungen und direkt aus der unverbrauchten Spannung seiner zarten Haut zu strömen. Der kleine, nach nichts Fremdem und nichts Eigenem duftende Hautmensch stürzt plötzlich auf meinen Bauch oder hängt sich an meinen Rücken, liegt quer über meinem Gesicht: der Körper ist alles, was unser Sohn ist, und der Geist hat sich noch nicht in den Kopf geflüchtet, gedacht und gelacht wird auch mit dem großen Zeh, dem Papazeh. Der kleine Körper: von dem sich nicht sagen lässt, er ließe sich gerne und ohne Scheu berühren, denn die Berührung ist ihm das Selbstverständliche (wie auch das Ende der Berührung). Der kleine Körper: von dem sich Hingabe lernen lässt und auch das, dass der Körper ursprünglich nicht die Grenze zwischen uns war. Der kleine Körper: der die Sicherheit unserer antwortenden Hände spüren möchte, die sich an ihm zu willenlosen Gefährten wandeln. Bevor wir alles andere sind, sind wir Körper, der aus dem Geist geschlüpft ist; der Körper ist ihm entkommen wie der wunderbarste aller Gedanken. Geht der Körper dann zu Bett, will der Geist nicht länger aufbleiben. Das Liegen macht beide schläfrig, noch wird gezappelt und geplappert, Zappelplappern und Plapperzappeln – und mit einemmal sind Vater und Sohn wieder zwei, das Kind schläft, der Vater träumt ein bißchen vor sich hin, bevor er sich erhebt und aus dem Zimmer geht. Lust, einen Gedanken umzudrehen. Lust, weil sie das Leben ist. Palinurus (alias Cyril Connolly – oder umgekehrt): Das Leben ist ein Irrgarten, in dem wir schon den falschen Weg einschlagen, ehe wir gehen gelernt haben. So: Das Leben ist ein Irrgarten, in dem wir schon den richtigen Weg einschlagen, ehe wir gehen gelernt haben. Sogar auf den Schultern des Vaters.

Das zweite & dritte Jahr 50

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50

Die einzige Zeit ist die Ewigkeit. Keinem Davor oder Danach gelingt es, ihren Rahmen zu sprengen. Alles ist Jetzt, Ewigkeit ist Jetztzeit, ausgedehnte, unausgedehnte, kurze, lange, schnelle, langsame Zeit. Überhaupt keine Zeit. Unser Kind befindet sich ganz und gar außerhalb der Zeit, weil es so tief in die Zeit zu versinken oder so hoch auf ihr hinaufzusteigen versteht (so erklären wir uns das und auf die gleiche Weise könnten wir uns das Gegenteil erklären: Unser Kind befindet sich ganz und gar innerhalb der Zeit, weil es so tief in die Zeit zu versinken oder so hoch auf ihr hinaufzusteigen versteht). Uns wundernd (und es bewundernd) blicken wir auf unsere Kind und können es nicht begreifen: wie kann es diese andere Zeit, diese Kindzeit geben? Wie kann es sein, dass uns kein Zugreifen auf diese Zeit gelingt, dass wir weite, weite Umwege in unserer Zeit gehen müssen, um gemeinsam mit unserem Sohn rechtzeitig in der Spielgruppe (oder überhaupt nur an der nächsten Straßenecke) ankommen zu können? Wie ist es möglich, dass das Baby, das Kind in unsere Welt geboren wurde, aber nicht in unsere Zeit? Sind wir nicht deshalb alt und altmodisch, weil wir noch so eng verhaftet sind unserer Zeitlichkeit, die uns so oft auf die Uhr blicken und den Zeitfluss kontrollieren lässt, uns wenig Spielraum ermöglicht, die Tage eng macht und schnell? Et wird dunkell! ruft unser Kind, als die Sonne untergegangen ist, aber es sagt nicht: Gerade war es doch noch hell, nun wird es schon wieder dunkel, wie schnell der Tag vergeht, vergangen ist! – es ruft nur: es wird dunkel!, wie es gerade eben, gestern, vorgestern, irgendwann gerufen hat: ein Stein! oder: ik will eine Mango etten! oder: will nit schrafen! (So finden wir uns fassungslos dieser Kindzeit gegenüber und manchmal retten wir uns in die kleine heimliche Diffamierung seiner Zeit, der Zeit unseres Kindes, wir schieben alles auf sein geringes Alter, seine mangelnde Erfahrung, seine große und grobe Unwissenheit; es wird sie schon noch kennenlernen unsere Zeit, es führt kein Weg daran vorbei für unser Kind, sich auch unserer Zeit zu unterwerfen, wir können reden über die Zeit, lamentieren und uns ärgern, wir können sie anklagen und uns über sie lustig machen, aber sie wird uns niemals wieder in die Kindzeit zurücklassen, so ist es.) Kein Schmerz kann die Ewigkeit unseres Kindes verkürzen. Ein Schnitt mit seinem kleinen Messer in den Handteller wird zum Ereignis. Kaum Blut, doch der Wunsch nach einem großen Pflaster. Wie ein wertvolles, zerbrechliches Heiligtum trägt unser Sohn seine Hand herum und zeigt jedem, der es wissen will und auch denen, die es nicht wissen wollen, sein Aua. Im Schmerz ist die Ewigkeit am einfachsten zu spüren, gerade für uns Erwachsene kann den Schmerz an sich das Wissen um sein Vergehen nicht oder nur kaum lindern. Empfundener Schmerz dauert: ein starkes Stück Leben, deutlich, überdeutlich, spricht es aus, dass nichts sonst genau jetzt sein kann. Aber der kleine Schmerzkult unsers Sohnes heute ist inszeniert (ganz anders als der Zahnungsschmerz oder der Bienenstichschmerz, der die Welt in ihren Grundfesten erschüttern ließ). Inszeniert für uns. Auch für uns. Vielleicht hauptsächlich für uns (vergessen wir nie: nur weil unser Baby verschwunden ist, ist noch lange nicht unser täglicher Meister verschwunden). Im Schmerz unseres Kindes fällt der Schleier unserer Zeit. Im inszenierten Schmerz unseres Kindes fällt es uns leichter, dies zu bemerken. Die Zeit ist ein Schleier, denken wir, nur das Kind geht unverschleiert. (Vielleicht ist jetzt ein bißchen Rilke angebracht, sagts du zu mir oder ich sags zu dir. Du mußt das Leben nicht verstehen, / dann wird es werden wie ein Fest. / Und laß dir jeden Tag geschehen / so wie ein Kind im Weitergehen / von jedem Wehen / sich viele Blüten schenken lässt. Und gleich danach ist uns nach einer Abwandlung eines Rilkesatzes aus den Geschichten vom lieben Gott. Es ist immer schlimm für die Eltern, wenn die Kinder plötzlich etwas wissen, was sie ihnen nicht erzählt haben. Oh, ja, es ist schlimm, lass uns nicht so tun – sagst du zu mir, sage ich zu dir – als wäre es nicht schlimm. Ja, es ist schlimm, dass unser unwissendes Kind etwas über die Zeit weiß, was wir wissenden Eltern nicht wissen. Es ist schlimm, bekräftigen wir noch einmal, und jetzt spüren wir den Schmerz, einen deutlichen, aber weit von uns wie ein Stern entfernten Schmerz, ein Aufleuchten eines Schmerzes, sein Pulsieren und Pochen. Die Sache mit der Zeit nicht zu wissen ist Schmerz. Alles und jedes hat unser Kind untersucht bisher und alles und jedes will es untersuchen, aber nie die Uhren. Nicht die auf dem Kirchturm findet sein Interesse, nicht die an meinem Handgelenk, nicht die vielen an den U-Bahnhöfen, schon gar nicht die Hunderte in der Auslage des Uhrengeschäfts. Es hat einen Sinn für jeden Gegenstand, aber keinen für die Uhr. Und merkwürdig, als unser Kind auf unsere dumme Frage, wie lange es noch Eisenbahn spielen will, denn wir müssen jetzt los, haben eine Verabredung, ohne Nachdenken antwortet: vier Stunden, bemerken wir, das wir dabei sind, eine gewisse Freude an unserer Unwissenheit zu entwickeln. Das Echo des Tickens unseres Schmerzes.)

Das zweite & dritte Jahr 49

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49

Auch gibt es den Moment, da wir (du, ich) uns verlieren. Wir entfallen uns. Unser ehemaliges Baby (so nennen wir es jetzt, ehemalig, damit wir danach noch einmal Baby sagen können, ohne uns etwas anzumaßen und unser Kind kleiner zu machen, als es ist) hilft uns dabei. Genau genommen ist unser Sohn die Ursache unseres Gedächtnisverlustes. Er erleichtert uns um uns selbst. Unser Gedächtnis wird wirklich leichter, und mit einemmal fällt ihm das Erinnern gleichsam in den Schoß. Jede Anstrengung ist verloren, jeder Schatten hat sich mit der großen Wolke, die sie geworfen hatte, verzogen. Wir Wolken haben uns im klaren Himmel, den unser Kind ohne Mühe aufzuspannen versteht, aufgelöst. Jetzt erst erinnern wir uns richtig, sogar und auch an uns selbst. Wie anders sind wir doch geworden, wie anders sind wir, als wir zu sein dachten! Die wohltuende Aufgabe unseres alten Selbst (das natürlich und jetzt erst recht wiederkehren wird, neugierig, nichts sonst: sehen will es, was aus uns wurde) ist Folge unserer Daseinsverwandlung in Mutter und Vater. Gewissermaßen ist es ein Zustand der Schwäche, der sich ohne moralische Bedenken genießen lässt. Kein Wunder, dass es unser Kind wenig Anstrengung kostet, uns in diesem Zustand (der uns irgendwie neu ist, auch wenn er uns mit einer zärtlichen Vertraulichkeit schmeichelt) mit seiner Sprache zu überfallen. Ja, ein Überfall. Schon lange, von Anfang an, von Babyanfang an lauerte die Sprache auf unser Ohr, aber seit heute ist es offenkundig und offenbar. Die Sprache unseres (ehemaligen) Babys ist da, bevor sie da ist, war da, bevor sie da war. Und jetzt lässt sie sich nicht länger davon abbringen, sich direkt an uns zu richten. Die ersten Laute unseres Kindes ließen uns noch viel Spielraum, sie zu interpretieren, herunterzuspielen oder zu überhöhen. Aber ab sofort wird gesprochen. Richtig und mit uns. Weit mehr als zwei Jahre hat unser Gehör gestrampelt, wenn es sich der Sprache unseres Babys ausgesetzt hörte, doch nun hilft nichts mehr: wir müssen sprechen lernen. Wir lernen noch einmal sprechen. Unser Kind redet mit uns, der Stundenplan ist voll, der einen Stunde Sprache lernen folgt ohne Pause die nächste Stunde Sprache lernen. Wir mühen uns und oft muss man uns das Gesagte wiederholen und noch einmal wiederholen und noch einmal oder fünfmal, zehnmal. Unser Baby (nennen wir es ohne Einschränkung wieder so, denn immer, wenn es uns ein so vollendeter Meister ist, scheint Baby uns das das einzig wahre Wort zu sein) ist geduldig. Es wiederholt uns, was uns einfach nicht gelingen wollte zu verstehen, und manchmal ist seine Wiederholung durchaus ärgerlich, sogar ungeduldig, ohne die grundsätzliche Geduld mit uns in Frage zu stellen. Wir sehen bald ein: wir verstehen im Grunde nichts. Unser Wortschatz ist klein (auf seine Knappheit sind wir auch noch stolz, ist er doch allgemein ein Zeichen von erwachsen sein). Der Wortschatz unseres Baby ist ein echter Schatz: aus einem Wort macht es fünfzig verschiedene Worte, Tausende, jeden Augenblick verwandelt sich das Wort und seine Bedeutung wird dadurch reich. Wir korrigieren unser Kind nie (fast nie), lassen uns jedoch gerne von ihm korrigieren (was es nicht tut). Gehen wir auf den Spigalla, betrachten wir die Brumen und fragen uns ruhig wat hat da Pedo zählt? Sprache ist Reichtum und Armut zugleich. Unser Kind lernt von uns (und den anderen) das sprechen, lernt unsere Sprache (und die der anderen) – in Wenigem stimmen alle Menschen überein, aber dies scheint doch allen einzuleuchten. Wollen wir, weil wir uns gerade vergessen haben, es einmal nicht glauben. Wollen wir nur darauf hören, wie wir von unserem Baby die Sprache lernen; wir brauchen nicht einmal die tiefe Vertrautheit der Sprache beiseite zu lassen dazu, denn die tiefe Vertrautheit der Sprache entsteht uns heute das erste Mal im unerhört gehörten Gestammel unseres Babys, in dem witzigen Sprachwunder, das aus seinem weichen, reinen Mund strömt, aus seiner Lust, sich uns verständlich zu machen, aus seiner Freude uns noch einmal dorthin zu führen, wo die Sprache geboren wird (an den Ort, an den wir uns niemals erinnern können).

Das zweite & dritte Jahr 48

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48

Wir scheinen keine Schlangenbeschwörer zu sein. Wir glauben an die Gegenwart. Jedenfalls ermutigen wir uns dazu. Sagen uns: Da ist sonst nichts. Was sonst soll auch da sein? Wie könnte überhaupt etwas sein, das nicht da ist? Es müsste ja woanders sein, als das, was da ist. An einem anderen Ort. Immer wieder sieht es so aus, als würde die Gegenwart unter einer sonderbaren Schwäche leiden, die ihr jede Beständigkeit nimmt, sie niemals zur Ruhe kommen lässt, ihr auf eine recht unfreundliche Art die Zeit raubt. Die das, was sie darstellt, irgendwo hin verschiebt, an einen zwar weder lichtlosen noch dunklen Ort, einen Unort, wohin kein Auge blicken kann. Antwortet unser Kind auf unsere törichte Frage, wann es denn heute Laufrad fahren möchte, mit einer Zeitangabe, die auf die Vergangenheit hinweist, oder schlägt es vor, übermorgen auf den Brenner zu fahren, oder erklärt es Nikolaus Nikolaus (einem vorwitzigen Kiwi, der einen munteren Schneehandel betreibt), dass es heute um fünfzig Uhr schneien soll, so scheint es sich über diesen Unort lustig zu machen, nicht, weil es es eben nicht besser weiß und weil ihm die Zeit gar nichts sagen würde, sondern weil es es besser weiß, weil ihm bekannt ist, dass sich mit der Zeit alles anstellen lässt, wenn man nur will. Glückliches Kind! Ein Blick zu ihm genügt und wir erkennen: in Wahrheit sind wir keine Schlangenbeschwörer. In Wahrheit sind wir Verwandler. Wir können nicht nur alles verwandeln, wir müssen alles verwandeln: die Gegenwart in die Vergangenheit oder in die Zukunft, die Vergangenheit wieder in die Gegenwart, die Zukunft in die Gegenwart allemal. Also ist es mit unserem Glauben wie mit unserem Unglauben an die Gegenwart gar nicht so weit her? Da gab es diesen Mann (in einem Märchen aus tausend und einer Nacht), der seine Schlangen immer in einem großen Krug vor seiner Frau und seinen Kindern verbarg. Der Mann war ein Schlangenbeschwörer. Die Beschwörung seiner Schlangen hatte nur den einen Sinn, sie über die Zukunft zu befragen. Doch musste das im Geheimen geschehen, seine Frau und seine Kinder durften nichts wissen davon, den Krug selbst und die Schlangen darin hielt er vor ihnen verborgen. Aber bald entdeckten sie sein Geheimnis und sie drängten ihn, ihnen den Inhalt des Krugs zu offenbaren. Er wollte nicht, auf keinen Fall. Geht es euch nicht gut? fragte er. Ihr habt alles, was ihr braucht, Kleider, ein Haus, Nahrung und auch viel Überflüssiges. Ihr könnt noch mehr haben, aber den Inhalt des Krugs kann ich euch nicht zeigen. Die Kinder wurden wütend, sie wollten fortgehen, sich sogar etwas antun, wenn ihr Vater ihnen diesen einen Wunsch nicht erfülle. Da wurde der Mann seinerseits wütend, er drohte seinen Kinder mit dem Stock, aber sie liefen ihm davon. So mit seinen Kindern beschäftigt, bemerkte er nicht, wie seine Frau zu seinem Krug schlich und ihn öffnete. Das Ende der Geschichte ist kurz. Die Schlangen töteten die Frau und auch noch die Kinder. Wie weit wir doch davon entfernt sind, unser Kind mit solchen Geschichten zu behelligen! Solchen kleinen tückischen Geschichten, die mit ihrer Moral nicht hinter dem Berg halten: Dass kein Mensch so zudringlich etwas begehren soll, das ihm Gott nicht gewähren will. Dass nur dem Geduldigen der Herr die innigsten Wünsche erfülle (dem König einen Sohn schenke wie im Märchen). Für uns kleiner (oder größer): dass wir die Zukunft nicht wissen wollen sollen. Dass uns das Brechen der Gegenwart und das Spähen in die Zukunft umbringen wird. Dass wir leben, solange wir in der Gegenwart leben. Tun wir das nicht, sind wir schon gestorben. (Oh, Gott, ja, wohl ist es so: wir sind schon ein bißchen gestorben!) Nein, wir sind keine Schlangenbeschwörer, oder ist es das, was uns das Märchen sagt: wir sind Schlangenbeschwörer. (Ein bißchen erschrecken wir über diese Möglichkeit und wünschen uns unser Kind als Baby zurück, als kleinsten aller Meister, dessen Präsenz all unser Sinnen und Trachten augenblicklich lähmt. Oh, ja, vielleicht brauchen wir ein bißchen Gift, ein bißchen Schlangengift, nur töten soll es uns nicht. Manchmal kommen wir uns wie die Zeit selbst vor. Wir beide: die Zeit für unser Kind. Mit unergründlichem Blick versucht es uns zu lesen, die Zeit, die wir für es sind zu lesen. Wir ticken nicht ganz richtig, könnte es auch denken, aber wir glauben nicht, dass es so etwas denkt, so grob denkt es bestimmt nicht über uns, weiß es doch, dass wir noch Zeit brauchen. Noch mehr Gegenwart, noch mehr Meisterschaft.)