Das zweite & dritte Jahr 48

Das erste Jahr Babybuddha jetzt auf:

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48

Wir scheinen keine Schlangenbeschwörer zu sein. Wir glauben an die Gegenwart. Jedenfalls ermutigen wir uns dazu. Sagen uns: Da ist sonst nichts. Was sonst soll auch da sein? Wie könnte überhaupt etwas sein, das nicht da ist? Es müsste ja woanders sein, als das, was da ist. An einem anderen Ort. Immer wieder sieht es so aus, als würde die Gegenwart unter einer sonderbaren Schwäche leiden, die ihr jede Beständigkeit nimmt, sie niemals zur Ruhe kommen lässt, ihr auf eine recht unfreundliche Art die Zeit raubt. Die das, was sie darstellt, irgendwo hin verschiebt, an einen zwar weder lichtlosen noch dunklen Ort, einen Unort, wohin kein Auge blicken kann. Antwortet unser Kind auf unsere törichte Frage, wann es denn heute Laufrad fahren möchte, mit einer Zeitangabe, die auf die Vergangenheit hinweist, oder schlägt es vor, übermorgen auf den Brenner zu fahren, oder erklärt es Nikolaus Nikolaus (einem vorwitzigen Kiwi, der einen munteren Schneehandel betreibt), dass es heute um fünfzig Uhr schneien soll, so scheint es sich über diesen Unort lustig zu machen, nicht, weil es es eben nicht besser weiß und weil ihm die Zeit gar nichts sagen würde, sondern weil es es besser weiß, weil ihm bekannt ist, dass sich mit der Zeit alles anstellen lässt, wenn man nur will. Glückliches Kind! Ein Blick zu ihm genügt und wir erkennen: in Wahrheit sind wir keine Schlangenbeschwörer. In Wahrheit sind wir Verwandler. Wir können nicht nur alles verwandeln, wir müssen alles verwandeln: die Gegenwart in die Vergangenheit oder in die Zukunft, die Vergangenheit wieder in die Gegenwart, die Zukunft in die Gegenwart allemal. Also ist es mit unserem Glauben wie mit unserem Unglauben an die Gegenwart gar nicht so weit her? Da gab es diesen Mann (in einem Märchen aus tausend und einer Nacht), der seine Schlangen immer in einem großen Krug vor seiner Frau und seinen Kindern verbarg. Der Mann war ein Schlangenbeschwörer. Die Beschwörung seiner Schlangen hatte nur den einen Sinn, sie über die Zukunft zu befragen. Doch musste das im Geheimen geschehen, seine Frau und seine Kinder durften nichts wissen davon, den Krug selbst und die Schlangen darin hielt er vor ihnen verborgen. Aber bald entdeckten sie sein Geheimnis und sie drängten ihn, ihnen den Inhalt des Krugs zu offenbaren. Er wollte nicht, auf keinen Fall. Geht es euch nicht gut? fragte er. Ihr habt alles, was ihr braucht, Kleider, ein Haus, Nahrung und auch viel Überflüssiges. Ihr könnt noch mehr haben, aber den Inhalt des Krugs kann ich euch nicht zeigen. Die Kinder wurden wütend, sie wollten fortgehen, sich sogar etwas antun, wenn ihr Vater ihnen diesen einen Wunsch nicht erfülle. Da wurde der Mann seinerseits wütend, er drohte seinen Kinder mit dem Stock, aber sie liefen ihm davon. So mit seinen Kindern beschäftigt, bemerkte er nicht, wie seine Frau zu seinem Krug schlich und ihn öffnete. Das Ende der Geschichte ist kurz. Die Schlangen töteten die Frau und auch noch die Kinder. Wie weit wir doch davon entfernt sind, unser Kind mit solchen Geschichten zu behelligen! Solchen kleinen tückischen Geschichten, die mit ihrer Moral nicht hinter dem Berg halten: Dass kein Mensch so zudringlich etwas begehren soll, das ihm Gott nicht gewähren will. Dass nur dem Geduldigen der Herr die innigsten Wünsche erfülle (dem König einen Sohn schenke wie im Märchen). Für uns kleiner (oder größer): dass wir die Zukunft nicht wissen wollen sollen. Dass uns das Brechen der Gegenwart und das Spähen in die Zukunft umbringen wird. Dass wir leben, solange wir in der Gegenwart leben. Tun wir das nicht, sind wir schon gestorben. (Oh, Gott, ja, wohl ist es so: wir sind schon ein bißchen gestorben!) Nein, wir sind keine Schlangenbeschwörer, oder ist es das, was uns das Märchen sagt: wir sind Schlangenbeschwörer. (Ein bißchen erschrecken wir über diese Möglichkeit und wünschen uns unser Kind als Baby zurück, als kleinsten aller Meister, dessen Präsenz all unser Sinnen und Trachten augenblicklich lähmt. Oh, ja, vielleicht brauchen wir ein bißchen Gift, ein bißchen Schlangengift, nur töten soll es uns nicht. Manchmal kommen wir uns wie die Zeit selbst vor. Wir beide: die Zeit für unser Kind. Mit unergründlichem Blick versucht es uns zu lesen, die Zeit, die wir für es sind zu lesen. Wir ticken nicht ganz richtig, könnte es auch denken, aber wir glauben nicht, dass es so etwas denkt, so grob denkt es bestimmt nicht über uns, weiß es doch, dass wir noch Zeit brauchen. Noch mehr Gegenwart, noch mehr Meisterschaft.)

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