Das fünfte Jahr

 

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Zeitloses Kind

Wir haben die Zeit verloren. Nicht aus den Augen. Aus dem Körper. (Das klingt wie ein Gleichnis, sagst du. Darauf weiß ich nichts zu antworten.) Tatsächlich, irgendwann sind wir ins fünfte Jahr gewechselt, aber selbst die Feier des Geburtstags unseres Kindes (der auch schon lange zurück liegt) konnte uns nicht wirklich von der Wirklichkeit des Voranschreitens der Zeit überzeugen. Ehrlich gesagt, sind wir auch ein bißchen unwillig gegenüber dem Fluss der Zeit, denn auch wenn wir nichts gegen das Fließen einzuwenden haben, so sind wir doch nur Zuseher, die den vielen glücklichen Momenten, die auf dem Wasser davontreiben mal staunend, mal fragend, mal rätselnd, auch ein wenig traurig hinterherwinken können. Aber es geht weiter und dort über dem Fluß, in der tief stehenden Sonne, die so gut versteht, den Raum zu weiten, sind schon die neuen Momente entstanden, flirrend sich sammelnd, bevor wir sie erleben. Unser Sohn wächst. Innerlich und äußerlich. Das gestrige Entzücken darüber ist schon dem heutigen gewichen und das morgige ahnen wir schon. Wie die Wehmut unseres Entzückens. Schwer zu glauben, dass sich nichts festhalten lässt. Schon gar nicht ein kleines Kind. Es ist jetzt so groß und geschickt, dass es sich fast jedem Griff entwindet. Wir spielen Fangen und Raufen und Ungeheuer, und das Bein, das wir eben noch festhielten, schwingt sich schon wieder von hinten über unsere Schulter. Wir argumentieren (die neuen Stiefel haben Reißverschlüsse, die man, bevor die Schuhe ausgezogen werden, öffnen soll, denn sonst nehmen sie Schaden), aber kaum haben wir uns geäußert, schon wird unser Argument zur Schlinge, die unsere Zunge bindet (so geht es leichter, wenn ich die Matschhose anhabe, sagt unser Sohn, und wenn du, Papa dein Schuhband nicht aufmachst, mache ich meinen Reißverschluß auch nicht auf). Groß und geschickt, nicht auf den Mund gefallen, oft sinnierend, dann durchleuchtend, prüfend: Was hat die Erwachsenenwelt zu sagen? Macht das Sinn? Oder versteckt sich nicht in allem, was wir sagen, ein uns selbst verborgener Sinn? Die Kinder treiben sich in archetypischen Welten herum (sie sind Kämpfer und Prinzessinnen, Könige und Einhörner, Zwerge und Riesen) und deren Inhalte verknüpfen sie problemlos mit der rationalen, bewußten, oft genug überbewußten Erwachsenenwelt. Sie liefern uns einen interessanten Fingerzeig, dass wir auf der Oberfläche des Seins leben, bewusstlos darüber, doch nicht ohne Ahnung. Wir leben auf der Erde, fühlen uns sicher, getragen, standfest, aber wir haben so gut wie keine Vorstellung darüber, wie es im Inneren dieser Erde aussieht und wie es sich dort anfühlt. Es fällt uns leichter, nach Lichtjahre entfernten Sternen zu greifen, als in den Boden unter uns. Unser Sohn ist so viel kleiner als wir (ja, manchmal denken wir, ist er nicht unglaublich klein?), so viel näher der Weltkugel, die wir bewohnen und bewandern und so viel weniger interessiert am Blick nach oben. Unser Sohn wirft sich auf den Boden, aus Quatsch, er fällt oft, gut, leicht, rutscht auf den Knien, hockt sich hin mitten auf dem Gehsteig. Zwischen oben und unten scheint es einen speziellen Raum zu geben, einen Kinderraum, den die Kinder nur mit den Tieren teilen, hier in der Stadt: den Hunden, den Krähen und Tauben, den Mardern. Aber auch dem Land ist dieser Raum bewohnt von Tier und Kind. Auch, wenn unser Kind steht, bewohnt es diesen Raum. Das ist etwas, das im Blick zu behalten, wir uns geradezu zwingen müssen. Ein Kind lebt, allein durch seine Körpergröße bedingt, in diesem speziellen Raum. (Kannst du das verstehen? Kannst du dich in diesen Raum einfühlen? Kannst du dir vorstellen, dass du darin haust? – Es ist möglich, sagst du, und nach einer Weile, es ist nicht möglich. Du zögerst: vielleicht doch, wenn ich mich, die Zeit verlierend, erinnere. – Das klingt wie ein Gleichnis.) Es ist der Raum, den das Baby (unser Meister!) zurückgelassen hat! Der Raum, den wir gleichsam mit dem Baby zusammen in den Armen gehalten haben, den wir auf die Wickelkommode legten oder auf das Bettchen. Und den das Baby wieder mit hinunter auf den Boden genommen hat, von wo aus es anfing zu krabbeln, sich zu erheben und zu laufen. Wir dachten, es läuft doch in unserem Raum, aber das war ein Irrtum. Es tummelte sich und tummelt sich weiterhin ganz dicht über diesem „im Felde der dunklen Vorstellungen liegenden Schatz, der den tiefen Abgrund der menschlichen Erkenntnisse ausmacht, den wir nicht erreichen können“. Kein größerer Geist als Immanuel Kant hat davon gesprochen (wie stellen wir uns diesen Kant vor? Als ein superschlaues Kind, dessen scharfer Verstand uns Erwachsene darüber täuscht, worüber er jede Gehirnzelle fletschend wacht: der Schatz der Erkenntnis, der in der Tiefe liegt). Ist es nicht so, dass es etwas ganz Anderes ist, wenn man liegend oder an der Kante des Kraters hockend in einen Abgrund blickt, als wenn man stehend (oder auf Knien) in dieses tiefe Loch hineinblickt? Unser Kind hat nie ein Schwindel am Abgrund erfasst, auch dann nicht, wenn wir längst eine zitternde Sorge in uns bemerkt haben (erinnerst du dich an die hohe Ufermauer an diesem dunklen Bergsee, auf der unser Sohn mit Leichtigkeit dahinlief, während uns der Schweiß ausbrach (ach, dir brach gar kein Schweiß aus)? Unschwindelig ist unser Kind, weil ihm der Abgrund kein Abgrund ist. Weil er die Tiefe nicht kennt, scheut er sie nicht. Weil er die Tiefe nur zu gut kennt, ist sie ihm keine. Wir können uns zu unserem Kind auf den Boden setzen oder legen, aber den Schwindel werden wir so nicht wieder los. Das, was uns Gereifte trägt, ist Abgrund oder verschlossen oder beides. Auf ewig wie es aussieht. Der im Felde der dunklen Vorstellungen liegenden Schatz – wir sehen sein Leuchten nicht. Furchtlos spielt unser Sohn mit ihm; sieht es nicht oft so aus, als würde etwas durch seine Hände gleiten, abgelegt und wieder aufgenommen werden, das wir nicht sehen können? Eigenartige Dinge, die keine Zeit zu kennen scheinen, keiner Zeit unterworfen sind. Kleine glitzernde Ewigkeiten, die geräuschlos in den Boden sinken, wie sie geräuschlos aus ihm heraufgetaucht waren. (Wie groß er geworden ist, denken wir, wie groß. Was ist die wahre Größe anderes als einer der im Felde der dunklen Vorstellungen liegenden Schätze? Wie groß er geworden ist, denken wir wieder, und wie wenig uns die Zeit nützt und hilft, das zu begreifen.)