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Unser Baby wird anspruchsvoller. Nichts Handfestes zeigt uns das. Nur ein Blick, ein Augenaufschlag, der uns durchdringt, der uns ermahnt: wir sind die Schüler! Zu gern möchten wir die Perspektive der Eltern vertiefen (wenn wir sie nicht schon längst verinnerlicht haben), aber unser Baby gewährt uns diese Rolle nicht allein (die es sich nur zu gern gefallen lässt). Womöglich, denken wir, hat unser Baby Größeres vor mit uns. Kann gut sein, sagt es mit dem nächsten Blick.

Our baby is getting more demanding. There are no concrete signs of this. Just a look, a glance that pierces us with an admonition: We are the ones being taught! We would only too gladly deepen our parental perspective (if we didn’t internalize it long ago), but our baby is not content with granting us this role (which he is perfectly happy to put with). Possibly, we think, our baby has bigger plans for us. Could very well be, he says with his next glance.

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Befürchtung: Ob unser Baby so schlimm ist wie die rote Libelle, die auf der Spitze meines Schuhs hockt, sich zeigt in ihrer ganzen Pracht und bei meiner kleinsten, vorsichtigsten Annäherung fortfliegt? (Auch wenn es schwerfällt, koste diese Befürchtung ruhig aus, das nimmt ihr die Oberflächlichkeit!) (Kurz kehrt die Libelle zurück, taucht in das offene Halbdunkel des Fahrradanhängers, in dem das Baby schläft und verschwindet wieder.)

A misgiving: What if our baby is as bad as the red dragonfly perched on the toe of my shoe, displaying all its glory, only to fly away at the slightest, most cautious approach on my part? (Difficult though it is, take your time to savor this apprehension, that way it will shed its superficiality!) (Briefly the dragonfly returns, dives into the open semidarkness of the bicycle trailer where the baby is sleeping, and darts off again.)

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Wir sind es gewohnt, uns als Einzelne zu sehen, zu denken, zu fühlen, zu erinnern. Selbst in unserem größten Unglück ziehen wir das nicht in Zweifel (höchstens das größte Glück kann uns ein wenig schwanken lassen). Es ist viel mehr als eine Überzeugung, größer als ein Bekenntnis, tiefer als ein Glaube, fester als ein Wissen. Es ist die Wahrheit schlechthin (die uns ausgerechnet dann, wenn es um uns selbst geht, zuteil wird!). Wie erschütternd muss da eine ganz andere Wahrheit auf uns wirken: Das Baby ist kein Einzelnes (sogleich bedauern wir das, sind gerührt, traurig, ganz ernst). So stehen wir vor unserem Baby, diesem einen Baby und denken: Diese andere Wahrheit müssen wir üben.

We are used to regard ourselves as separate beings, and to think, feel, and remember ourselves as such. Even our greatest unhappiness doesn’t change that view (though sometimes our greatest happiness sways it a little). It is much more than a conviction, greater than a creed, deeper than a faith, more solid than knowledge. It is truth itself, absolute (which, not surprisingly, is granted us at moments when we ourselves are at issue!). How upsetting, of necessity, is the impact of a completely different truth: The baby is not a separate being (immediately we regret this, are moved, sad, utterly serious). Thus we stand before our baby, this one baby, and think: We must practice this other truth.

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Es ist der Augenblick, in dem wir ohne Zögern die Überlegenheit des Babys zugeben (zugeben müssen. Wir können nicht anders, brauchen dieses Bekenntnis, um Klarheit in uns zu schaffen. Und übrigens, sagen wir zu uns selbst, würde unser Baby uns schon berichtigen, wenn unsere Einschätzung seiner Überlegenheit ein Irrtum wäre.)

This is the moment when we admit (are forced to admit) without hesitation our baby’s superiority (we can’t help it, we need this confession to establish clarity in ourselves. And besides, we tell ourselves, our baby would set us straight if our assessment turned out to be a mistake.)

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Alles, denken wir, ist nur Körper (und nehmen das „nur gleich wieder zurück). Der Körper unseres Babys ist alles, was es ist, in jedem Teil eben dieses Körpers, auf die gleiche Weise und mit der gleichen Ganzheit. So halten wir beide einen Babyfuß in der Hand (du den rechten, ich den linken, oder vielleicht verhält es sich umgekehrt) und haben nie den Eindruck, bloß einen Körperteil zu berühren. Und auf diese Weise verliert unsere Hand den Schrecken nur Hand zu sein: in der Berührung des Babys kehren wir zurück (alles, was wir sind) in den ungespaltenen Körper.

Everything, we believe, is only body (and immediately retract the “only”). Our baby’s body is everything that it is in every part of precisely this body, in the same way and with the same wholeness. Thus each of us hold one baby foot in a hand (you the right one, I the left one, or maybe it’s the other way around), and at no point do we have the impression that we are touching only a body part. And in this way our hand loses its fear of being only a hand: in touch with the baby we return (all that we are returns) to the undivided body.

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Wir denken, der Schlaf unseres Babys ist lehrreicher als sein Wachsein. Sind unser Schlaf und der Babyschlaf Verwandte? Wie können unser Schlaf und der Babyschlaf keine Verwandten sein? Wieso ähneln sie sich nicht, obwohl sie von außen betrachtet so gleich aussehen? Wir leben fern jeder möglichen Beantwortung unserer Fragen, die uns uneingeschränkt echt vorkommen. Doch müssen wir uns ein bißchen beeilen, sie wieder und wieder zu stellen, denn der Schlaf unseres Babys mag vielleicht nur noch heute (oder morgen, höchstens übermorgen) lehrreicher sein als sein Wachsein.

We think our baby’s sleep is more instructive than his waking. Are his sleep and our sleep relatives? How could our sleep and our baby’s sleep not be relatives? Why do they not resemble each other, even though they look quite the same from outside? We live far from any possible answer to our questions, which feel unqualifiedly genuine. Yet we must hasten a bit to ask them again and again, for while today our baby’s sleep is more instructive than his waking, that may no longer be the case tomorrow (or the day after tomorrow at the latest).  

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Dann bemerken wir den traurigen (doch wunderlich gefassten) Blick unseres Babys, den wir sogleich interpretieren wollen (wir verhindern es nicht, folgen wir doch nur einem natürlichen Impuls): Ich kann nicht bleiben, was ich bin! Und was wir eben als traurigen Blick gedeutet haben, erweist sich nun als trauernder Blick: Werden ist Abschied nehmen.

Then we noticed the sad (but strangely composed) look of our baby, which we immediately want to interpret (willingly obeying what is, after all, a natural impulse): I cannot remain what I am! And what we interpreted a moment ago as a sad look, turns out to be a sorrowing look. To become is to take leave.

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Nach kurzem Geschrei fällt unser Baby in den Schlaf (heute auf meinem Arm). Das Schreien vor dem Schlaf entspricht unserem Zurechtrücken von Bettdecke und Kopfkissen. Keine große Sache. Ein Akt des Komforts. Aber der Schlaf ist auch ein großer Widersacher, ein finsterer Riese, mächtig und herrschsüchtig. Lässt man ihm sein Recht, ist er am Ende gutmütig. Er ist eine große Liebe und wie jede große Liebe will er vollständige Vereinigung. Und wie bei jeder Liebe wird es eine Trennung, ein Aufwachen geben. Zur Freude aller. Bis zum nächsten Abend.

After a bit of screaming, our baby falls asleep (today on my arm). His screaming before sleep corresponds to our adjusting the blanket and pillow. No big deal. An act of comfort. Sleep is a great antagonist. A sinister giant, powerful and domineering. If you grant him his due, he is good-natured in the end. Sleep is a great love, and like all love, it wants complete union. And as with every love, there will be a separation, an awakening. To everyone’s delight. Until the next evening.

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Zurück am Ufer gehe ich zu den Frauen und ihren Babys (die sich seit ewigen Zeiten im dünnen Schatten der Weiden und Birken versammeln) und nehme reihum ein jedes einmal auf den Arm. Ich schließe die Augen, um deutlicher ihr Gewicht zu spüren und dadurch ihre Zugehörigkeit zu erraten. Glaube ich, mein eigenes Baby gefunden zu haben, rufe ich seinen Namen laut in die Runde. Nach dem dritten Fehlversuch gebe ich unter freundlichem Spottgelächter auf. Ihr beide (du, das Baby) seid aus gutem Grund längst woanders hin gewandert. Ich finde euch auf einem nahen Waldweg, du reichst mir unser schlafendes Baby und sofort schließe ich die Augen. (Ich spüre kein Gewicht und muss denken: auch die Frauen irren sich manchmal.)

Back at the shore I go to the women and their babies (who have been assembling for ages in the thin shadow of willows and beech trees) and raise one baby after the other into my arms. I close my eyes in order to feel their weight more precisely and thereby determine who they belong to. When I think I have found my own baby I call his name loudly into the group. After failing at this three times I give up amid friendly mocking laughter. The two of you (the baby, you) have long since, and for a good reason, wandered off somewhere else. I find you on a forest path, you hand our sleeping baby over to me, and I shut my eyes immediately. (I feel no weight and can’t help thinking: sometimes women are wrong too.)

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Ihr beide (du, das Baby) am Seeufer (im dünnen Schatten der Weiden und Birken) inmitten der anderen Frauen und Babys. Auf dem Rücken liegend schwimme ich langsam auf den See hinaus. Vielleicht in der Mitte des Sees kippt die Unterscheidbarkeit von euch Frauen und Babys in eure Ununterscheidbarkeit um. Eine Zeitlang treibe ich mit Späherblick an dieser Grenze entlang. Dann begreife ich, die Ununterscheidbarkeit von euch Frauen und Babys gab es schon vor dem Überschwimmen der Grenze, meine optische Distanz illustriert sie nur auf eine fabelhafte Weise: als würde ich aus der Ferne weniger, aber schärfer sehen.

The two of you (the baby, you) by the shore of the lake (in the thin shadow of the willows and birches) among the other women and babies. Lying on my back I slowly swim out into the lake. Perhaps by the middle of the lake, the discernible differences between you women and babies become indiscernible. For a while I drift along this border, peering like a scout. Then I realize that the indistinguishability of you women and children already existed before I reached the border, and that my optical distance merely illustrates it in a marvelous way, as if from a distance I saw less, but more sharply.