Das vierte Jahr

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Doppelte Umkehr

(Wir hören auf zu zählen, die Lebensjahre unseres Kindes zu zählen, für einen Moment zumindest, der allerdings länger dauern kann. Dennoch nennen wir das vierte Jahr das vierte Jahr, betrachten diese Nennung aber nicht als Zählung. Es ist, sagen wir uns, das vierte Jahr, sonst nichts, wir denken dabei nicht an die drei vorhergehenden und nicht an die die nachfolgen mögen. Es mag paradox klingen, unser Nichtzählen, doch ein Blick auf die Finger unseres Kindes genügt, um uns berechtigt dazu zu fühlen). Unser Kind ist jetzt ein großer Aufnullsteller geworden (unser Kind: das Baby ist jetzt so vollständig im Kind verschluckt, das keiner der vier Buchstaben, K, i, n, d noch an es erinnert. Dass es in beiden Wörtern vier unterschiedliche Buchstaben sind, scheint uns nicht unbedeutend als die leiseste Erinnerung des Babys im Kind, die möglich ist). Auf Nullstellen geht so: Wir stecken den Schlüssel ins Schloß der Wohnungstür, sperren mit einer und einer halben Drehung des Schlüssels im Schloß die Tür auf, drücken sie in den Flur und betreten die Wohnung, gefolgt von unserem Kind. Als wir die Tür gerade im Begriff sind von innen wieder zu schließen, beginnt der Protest (der offenbar schon eher begonnen hat, den wir aber überhört haben). Ik wollte det makken, sagt es, ruft es, jammert es und beginnt mit der ersten Umkehr. Die Tür wird wieder geöffnet, der Schlüssel, der schon am Schlüsselbrett hängt, wird gefordert und dann müssen wir alle wieder nach draußen gehen, vor die Tür und jetzt, da wir eine vergangene Situation auf Null gestellt haben, will unser Kind sie unter seiner Regie noch einmal durchspielen. Nein, es ist kein Spiel, diese Wiederholung ist auch keine Wiederholung, es ist eine neue Situation, in der wir uns befinden, unser Kind hat die alte einfach gestrichen, wie ein nie veröffentliches Kapitel aus einem Buch, wie eine entfallene Szene in einem Film, aber auch das ist vielleicht zu schwach für die Beschreibung: für unser Kind lauert keine alte Situation im Hintergrund oder eine ähnliche, die anders abgelaufen wäre, unser Kind betrachtet unser gemeinsames Stehen vor der Wohnungstür als die wahre Szene unseres Heimkommens, als eben entstandene Szene, die keine vorhergehende überschrieben hätte, die vorhergehende, ihm ungenehme war nicht wirklich, hat nie stattgefunden, nur wir beide (du, ich) erinnern sie. Gemeinsam sind wir mit unserem Kind in der Zeit zurückgelaufen (wir physikalisch leidlich gebildeten dachten bisher, das sei unmöglich), sind umgekehrt in der Zeit, um uns jetzt ein weiteres Mal umzukehren und wieder der Zukunft des Türöffnens und zu Hause Eintretens zuzuwenden. Wir wundern uns: die Umkehr, unsere Umkehr ist wirklich. Sollte es ein Glaube sein, nehmen wir diesen Glauben unseres Kindes an, übernehmen ihn, als wäre er unser eigener. Wir sind bereit einzugestehen, dass wir unsererseits in unserer Ansicht, die Umkehr sei unmöglich, genauso gut uns als Gläubige betrachten können. Wir versuchen, den Zweifel an unserem neuen Glauben (dem Glauben an die Umkehr), ein Zweifel, den unsere Erfahrung gebiert (und nicht müde wird ihn zu gebären) nicht erbarmungslos zu behandeln. Denn wir Neugläubigen entdecken eine Heiterkeit in der Umkehr, die sich der Entschlossenheit und Unbeirrbarkeit unseres Kindes verdankt. Und der Überraschung über die Möglichkeit einer Umkehr. Auf Nullstellen: durchaus komisch und komisch, dass es uns bisher in dieser Radikalität entgangen ist. Also kehren wir jetzt heim, wir drei, unser Kind, du, ich.

 

Double reversal

(We have stopped counting the years of our child’s life, at least for a moment, which, however, may last for a while. Nevertheless, we call the fourth year the fourth year, but we don’t count this naming as a counting. It’s the fourth year, we tell ourselves, nothing other than that; and in thinking this, we don’t think of the three years that came before or the years that may follow. It may sound paradoxical, our not-counting, but a glance at our child’s fingers is sufficient justification for us.) Our child has now become a great and perpetual reset to zero (our child: the baby is now so completely swallowed up in the child that none of the five letters c-h-i-l-d still remind us of who he is. The fact that each of these five letters and each of the four in b-a-b-y are different seems not insignificant as the slightest possible recollection of the baby in the child). The reset to zero works like this: We put the key in the lock of the door of our apartment, open the lock with one and a half turns of the key, push the door into the hallway and step into the apartment, followed by our child. Just as we are about to shut the door from inside, the protest (which apparently started earlier, but which we didn’t notice) begins. Me do dat, he says, crying out, imploring, and sets out on the first reversal. The door is opened again, there is a demand for the key, which is already hanging from the key hook, and then we all have to go out again, and now that we have set a past situation to zero, our child wants to replay it again under his direction. No, it’s not play, nor is this repetition a repetition, it is a new situation we are in, our child has simply annulled the old one, like a previously unpublished chapter from a book, a scene edited out of a movie, but even that may too weak a description: because for our child there is no old situation lurking in the background, nor a similar one that would have happened differently, our child regards our standing together in front of our door as the true scene of our coming home, a scene that has just come about, and not one written over a previous one; rather, the previous one, th ine that didn’t suit him, wasn’t real and never happened; only the two of us (you, I) remember it. Together with our child we have walked back in time (something we, being reasonably well educated in physics have always considered impossible), turned back in time in order now to turn around again and toward the future of opening the door and entering the house. We are surprised: the turning back, our turning back, is real. If it s a belief, we accept this belief of our child, and adopt it as if it were our own. We are now prepared to admit that we, in holding the view that a reversal is not possible, could just as well regard ourselves as believers. We try not to treat our doubt in our new belief (the belief in reversal), a doubt born of experience (which never tires of giving birth to doubt), without mercy. For we new converts discover a gaiety in reversal that is entirely due to our child’s determination and perseverance. And to the surprise at finding that a reversal is indeed possible. A reset to zero: quite funny, and funny, too, that until now it escaped us in this radicality. And so now we come home again, the three of us, our child, you, I.

 

 

 

Das zweite & dritte Jahr 52

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52

Nach einer Woche Abwesenheit treffe ich bei meiner Rückkehr auf ein neues Kind. Dasselbe Kind ist ein ganz anderes. Die Stimme kommt mir etwas höher vor und seine Worte finden leichter ins Gelenk der vorangehenden (tatsächlich suche ich am Abend nach einer Videoaufnahme des knapp Einjährigen und staune über die tiefen Rufe, die eine herunterfallende Senftube begleiten; nach weiteren Aufnahmen bis zur jüngeren Vergangenheit finde ich Bestätigung für die Beobachtung, dass die Stimme im Körper unseres Kindes nach oben, aber nicht unbedingt Richtung Kopf gewandert sein muss. Ihr Glöckchenklang erinnert an die Schellen der Ministranten, die sie bei der Wandlung schwenken. Und das Sprechen ist in seiner Tonhöhe auch ein Jubilieren, dass ich glaube, jetzt wurde der Engel geboren, der vielleicht den Meister, unser Baby als Meister abgelöst hat). Ein neues Kind, dem ich mit leichtem Befremden begegne, um so mehr, als es mich sofort als den nimmt, der ich auch vor einer Woche war: der Papa. Ich scheine in dieser Woche kein anderer geworden zu sein, meine Stimme ist die selbe und mein Benehmen ist wie immer. Keine Veränderung? Womöglich ist das, was ich an unserem Kind zu bemerken glaube, ein Hinweis auf eine leichte Verschiebung in mir selbst (oder auf ein leichtes Verschobenwordensein. Hat unser Meister nicht schon mehrmals mit diesem Mittel gearbeitet, an sich etwas zu zeigen, was sich genauso gut in uns ereignet haben kann?) Ein anderes Kind? Größer, reifer, selbstsicherer? Zugleich unübersehbar: unser Sohn ist noch mehr der, der er ist. Ein Art Bekräftigung seines Wesens hat sich vollzogen, sein Selbst ist weiter emporgestiegen, er ist noch mehr der, der er von Anfang an war. Es scheint so zu sein: erst durch die Verwandlung gelangt unser Kind zu sich selbst, die Verwandlung ist die wiederholte Offenbarung seines Wesens, das aber bereits von Anfang an unverstellt und unverborgen sich zeigt und Lust hat, sich zu zeigen. Damals (nach ein paar Tagen, Wochen Eingewöhnung) haben wir unser Kind erkannt, doch das Erkennen war nichts Endgültiges, es rief nach Wiederholung, nach neuem Erkennen (als würde das Erkennen erst dann gültiges Erkennen, wenn es sich aufs Neue ereignet, selbst etwas Neues geworden ist). Dem ließ uns unser Meister schon öfter begegnen: uns nicht mit dem einmal Gewußten, Geglaubten, Erfahrenen zufrieden zu geben, uns aber auch nicht in bloßer Wiederholung zu verlieren. Die Aufforderung lautet: bei jeder Begegnung, jedem Blick, jeder Berührung uns nicht davon abbringen zu lassen, dass wir diese noch niemals zuvor gemacht haben. Dass wir nicht unseren Glauben an das Neue von der Erinnerung an das Alte verdrängen lassen. Das ist auch eine Frage des Erlebens. Theoretisch erfasst bedeutet der Glaube an das augenblicklich Neue wenig, wenn nichts. Praktisch muss er sich erweisen, wie jeder Glaube. Selbst mit Baby und Engel fällt diese Übung nicht leicht. Überhaupt ist es die schwerste Übung von allen Übungen. Diejenigen, die zwischen Seele und Körper irgendeinen Unterschied machen, besitzen weder das eine noch das andere, heißt es bei Oscar Wilde. Fast müßig zu sagen, dass unserem Sohn leicht gelingt, diesen Unterschied nicht zu machen, und uns es meist mißlingt. Und da das so ist, fällt uns das Neue, das immer Neue so schwer (unser gewohntes Denken geht meist einher mit einem Vergessen des Augenblicks, wie einem Vergessen unseres Körpers. Wir sind gut im Trennen des Untrennbaren. Unser Trost: wir sind Schüler). Andererseits: Sich selbst zu lieben, ist der Beginn einer lebenslangen Liebesbeziehung (noch einmal Oscar Wilde). Brauchen wir uns keine Sorgen zu machen? Sind wir uns, einmal verfallen, doch immer verfallen? Aber unser Kind liebt sich so unaufgeregt, unangestrengt, geradezu lässig, und seine Selbstliebe scheint unserer höchstens ferne verwandt, sollten wir uns nicht beeilen, jemand anderer zu werden? Vergeht doch die Kindheit wie im Fluge (schon ist das dritte Jahr vorüber) und nur das Leben dauert ewig. Oder verhält es sich umgekehrt: Die Kindheit dauert ewig (erst das dritte Jahr ist vorüber), und das Leben vergeht im Flug? Da ruft mich unser Kind. Was ist? frage ich. Nichts ist, antwortet es nach einer langen Pause (in der ich fast nachgefragt hätte, aber heute bin ich guter Schüler, guter Schüler dieses ganz neuen Kindes). Die Voraussetzung für Vollkommenheit ist Müßiggang (ein drittes Mal Oscar Wilde). Jetzt habe ich das alte Kind wiedergefunden, lasse mich auf den Stufen des Kirchenportals nieder, während unser Sohn wieder und wieder übt, sich auf den Stufen eines Kirchenportals hinzusetzen. Es kann auch sein, dass er nicht übt, sich auf den Stufen eines Kirchenportals hinzusetzen, sondern etwas ganz Anderes.

Coming home after a week’s absence, I encounter a new child. The same child is a completely different one. His voice sounds a little higher and his words fit more easily into the hinges of the words that preceded them (in the evening I actually look for a video taken when he was a year old and am astonished by the deep cries that accompany the fall of a mustard bowl; further videos taken through time until the recent past confirm my observation that the voice in our child’s body must have wandered upwards, but not necessarily in the direction of the head. Its sound reminds me of the bells swung by altar boys at at the moment of transsubstantiation. And his speech at this pitch is also a rejoicing that makes me think that now the angel was born who has taken the place of the Master, ojur baby as Master). A new child, whom I now meet with a slight sense of estrangement, all the more so as he regards me as the one I was a week ago: Papa. I don’t seem to have turned into a different person during this week, my voice is the same, and I act the way I always do. No change? Conceivably the change I seem to observe in our child is an indication of a slight shift in myself (or rather, of having been slightly shifted. Has our Master not repeatedly used this method to show us something in himself that could just as well have happened in us?) A different child? Bigger, more mature, more confident? At the same time our son is unmistakeably even more who he is than he was. A kind of reinforcement of his nature has taken place, his self has risen higher, he is even more who he was from the beginning. It seems to be like this: that our child arrives at himself only through transformation, and transformation is the repeated revelation of his nature, which however was happy from the beginning to show itself as it is, undisguised and unconcealed.. Back then (after a few days, weeks of familiarization) we recongnized our child, but this recognition was nothing final, it called for repetition, for a re-recognition (as if recognition were not truly recognition it it does not happen anew and does not itself become something new). This was something our Master confronted us with many times: not to rest content with what we had known, believed, experienced in the past, but also not to get lost in mere repetition. The injunction is: at every encounter, with every glance, every touch, not to be deflected from realizing that we have never experienced these before. That our faith in the new must not be displaced by the memory of the old. This is also a question of practical experience. Theoretically, faith in the newness of the moment means little, if not nothing. It must be borne out in practice, like every faith. Even in dealing with babies and angels, this practice is not easy. It is in truth the most difficult of all practices. Those who see any difference between soul and body have neither, says Oscar Wilde. It almost goes without saying that our son has no difficulty in not making this distinction, and that we usually fail to do so. And because this is how it is, the new, that which is always new, is difficult for us (our habitual thinking usually goes along with a forgetting of the moment as well as a forgetting of our body. We are good at separating the inseparable. Our consolation is :we are students). On the other hand: To love oneself is the beginning of a lifelong romance (again Oscar Wilde). So there’s noting to wory about? Once fallen for ourselves, are we forever in love? But our child loves himself in such an unexcited manner, almost casually, and his sefllove seems at best remotely related to ours, should we not hurry to become someone else? After all, childhood passes in the blink of an eye (the third year is over already), and only life is eternal. Or perhaps it is the other way around: childhood lasts forever (only three years have transpired), and life passes in the blink of an eye? At this moment our child calls. What? I ask. Nothing, he says after a long pause (during which I almost repeated my question, but today I am a good student of this completely new child). The condition of perfection is idleness (for a third time, Oscar Wilde). Now I have found the old child again, and sit down on the steps of the church portal, while our son practices sitting down on the steps of a church portal, over and over. It could be, though, that he is not practicing sitting down on the stes of a church portal but something else.