Das erste Jahr Babybuddha jetzt auf:
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Nach einer Woche Abwesenheit treffe ich bei meiner Rückkehr auf ein neues Kind. Dasselbe Kind ist ein ganz anderes. Die Stimme kommt mir etwas höher vor und seine Worte finden leichter ins Gelenk der vorangehenden (tatsächlich suche ich am Abend nach einer Videoaufnahme des knapp Einjährigen und staune über die tiefen Rufe, die eine herunterfallende Senftube begleiten; nach weiteren Aufnahmen bis zur jüngeren Vergangenheit finde ich Bestätigung für die Beobachtung, dass die Stimme im Körper unseres Kindes nach oben, aber nicht unbedingt Richtung Kopf gewandert sein muss. Ihr Glöckchenklang erinnert an die Schellen der Ministranten, die sie bei der Wandlung schwenken. Und das Sprechen ist in seiner Tonhöhe auch ein Jubilieren, dass ich glaube, jetzt wurde der Engel geboren, der vielleicht den Meister, unser Baby als Meister abgelöst hat). Ein neues Kind, dem ich mit leichtem Befremden begegne, um so mehr, als es mich sofort als den nimmt, der ich auch vor einer Woche war: der Papa. Ich scheine in dieser Woche kein anderer geworden zu sein, meine Stimme ist die selbe und mein Benehmen ist wie immer. Keine Veränderung? Womöglich ist das, was ich an unserem Kind zu bemerken glaube, ein Hinweis auf eine leichte Verschiebung in mir selbst (oder auf ein leichtes Verschobenwordensein. Hat unser Meister nicht schon mehrmals mit diesem Mittel gearbeitet, an sich etwas zu zeigen, was sich genauso gut in uns ereignet haben kann?) Ein anderes Kind? Größer, reifer, selbstsicherer? Zugleich unübersehbar: unser Sohn ist noch mehr der, der er ist. Ein Art Bekräftigung seines Wesens hat sich vollzogen, sein Selbst ist weiter emporgestiegen, er ist noch mehr der, der er von Anfang an war. Es scheint so zu sein: erst durch die Verwandlung gelangt unser Kind zu sich selbst, die Verwandlung ist die wiederholte Offenbarung seines Wesens, das aber bereits von Anfang an unverstellt und unverborgen sich zeigt und Lust hat, sich zu zeigen. Damals (nach ein paar Tagen, Wochen Eingewöhnung) haben wir unser Kind erkannt, doch das Erkennen war nichts Endgültiges, es rief nach Wiederholung, nach neuem Erkennen (als würde das Erkennen erst dann gültiges Erkennen, wenn es sich aufs Neue ereignet, selbst etwas Neues geworden ist). Dem ließ uns unser Meister schon öfter begegnen: uns nicht mit dem einmal Gewußten, Geglaubten, Erfahrenen zufrieden zu geben, uns aber auch nicht in bloßer Wiederholung zu verlieren. Die Aufforderung lautet: bei jeder Begegnung, jedem Blick, jeder Berührung uns nicht davon abbringen zu lassen, dass wir diese noch niemals zuvor gemacht haben. Dass wir nicht unseren Glauben an das Neue von der Erinnerung an das Alte verdrängen lassen. Das ist auch eine Frage des Erlebens. Theoretisch erfasst bedeutet der Glaube an das augenblicklich Neue wenig, wenn nichts. Praktisch muss er sich erweisen, wie jeder Glaube. Selbst mit Baby und Engel fällt diese Übung nicht leicht. Überhaupt ist es die schwerste Übung von allen Übungen. Diejenigen, die zwischen Seele und Körper irgendeinen Unterschied machen, besitzen weder das eine noch das andere, heißt es bei Oscar Wilde. Fast müßig zu sagen, dass unserem Sohn leicht gelingt, diesen Unterschied nicht zu machen, und uns es meist mißlingt. Und da das so ist, fällt uns das Neue, das immer Neue so schwer (unser gewohntes Denken geht meist einher mit einem Vergessen des Augenblicks, wie einem Vergessen unseres Körpers. Wir sind gut im Trennen des Untrennbaren. Unser Trost: wir sind Schüler). Andererseits: Sich selbst zu lieben, ist der Beginn einer lebenslangen Liebesbeziehung (noch einmal Oscar Wilde). Brauchen wir uns keine Sorgen zu machen? Sind wir uns, einmal verfallen, doch immer verfallen? Aber unser Kind liebt sich so unaufgeregt, unangestrengt, geradezu lässig, und seine Selbstliebe scheint unserer höchstens ferne verwandt, sollten wir uns nicht beeilen, jemand anderer zu werden? Vergeht doch die Kindheit wie im Fluge (schon ist das dritte Jahr vorüber) und nur das Leben dauert ewig. Oder verhält es sich umgekehrt: Die Kindheit dauert ewig (erst das dritte Jahr ist vorüber), und das Leben vergeht im Flug? Da ruft mich unser Kind. Was ist? frage ich. Nichts ist, antwortet es nach einer langen Pause (in der ich fast nachgefragt hätte, aber heute bin ich guter Schüler, guter Schüler dieses ganz neuen Kindes). Die Voraussetzung für Vollkommenheit ist Müßiggang (ein drittes Mal Oscar Wilde). Jetzt habe ich das alte Kind wiedergefunden, lasse mich auf den Stufen des Kirchenportals nieder, während unser Sohn wieder und wieder übt, sich auf den Stufen eines Kirchenportals hinzusetzen. Es kann auch sein, dass er nicht übt, sich auf den Stufen eines Kirchenportals hinzusetzen, sondern etwas ganz Anderes.
Coming home after a week’s absence, I encounter a new child. The same child is a completely different one. His voice sounds a little higher and his words fit more easily into the hinges of the words that preceded them (in the evening I actually look for a video taken when he was a year old and am astonished by the deep cries that accompany the fall of a mustard bowl; further videos taken through time until the recent past confirm my observation that the voice in our child’s body must have wandered upwards, but not necessarily in the direction of the head. Its sound reminds me of the bells swung by altar boys at at the moment of transsubstantiation. And his speech at this pitch is also a rejoicing that makes me think that now the angel was born who has taken the place of the Master, ojur baby as Master). A new child, whom I now meet with a slight sense of estrangement, all the more so as he regards me as the one I was a week ago: Papa. I don’t seem to have turned into a different person during this week, my voice is the same, and I act the way I always do. No change? Conceivably the change I seem to observe in our child is an indication of a slight shift in myself (or rather, of having been slightly shifted. Has our Master not repeatedly used this method to show us something in himself that could just as well have happened in us?) A different child? Bigger, more mature, more confident? At the same time our son is unmistakeably even more who he is than he was. A kind of reinforcement of his nature has taken place, his self has risen higher, he is even more who he was from the beginning. It seems to be like this: that our child arrives at himself only through transformation, and transformation is the repeated revelation of his nature, which however was happy from the beginning to show itself as it is, undisguised and unconcealed.. Back then (after a few days, weeks of familiarization) we recongnized our child, but this recognition was nothing final, it called for repetition, for a re-recognition (as if recognition were not truly recognition it it does not happen anew and does not itself become something new). This was something our Master confronted us with many times: not to rest content with what we had known, believed, experienced in the past, but also not to get lost in mere repetition. The injunction is: at every encounter, with every glance, every touch, not to be deflected from realizing that we have never experienced these before. That our faith in the new must not be displaced by the memory of the old. This is also a question of practical experience. Theoretically, faith in the newness of the moment means little, if not nothing. It must be borne out in practice, like every faith. Even in dealing with babies and angels, this practice is not easy. It is in truth the most difficult of all practices. Those who see any difference between soul and body have neither, says Oscar Wilde. It almost goes without saying that our son has no difficulty in not making this distinction, and that we usually fail to do so. And because this is how it is, the new, that which is always new, is difficult for us (our habitual thinking usually goes along with a forgetting of the moment as well as a forgetting of our body. We are good at separating the inseparable. Our consolation is :we are students). On the other hand: To love oneself is the beginning of a lifelong romance (again Oscar Wilde). So there’s noting to wory about? Once fallen for ourselves, are we forever in love? But our child loves himself in such an unexcited manner, almost casually, and his sefllove seems at best remotely related to ours, should we not hurry to become someone else? After all, childhood passes in the blink of an eye (the third year is over already), and only life is eternal. Or perhaps it is the other way around: childhood lasts forever (only three years have transpired), and life passes in the blink of an eye? At this moment our child calls. What? I ask. Nothing, he says after a long pause (during which I almost repeated my question, but today I am a good student of this completely new child). The condition of perfection is idleness (for a third time, Oscar Wilde). Now I have found the old child again, and sit down on the steps of the church portal, while our son practices sitting down on the steps of a church portal, over and over. It could be, though, that he is not practicing sitting down on the stes of a church portal but something else.