Das erste Jahr Babybuddha jetzt auf:
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Die einzige Zeit ist die Ewigkeit. Keinem Davor oder Danach gelingt es, ihren Rahmen zu sprengen. Alles ist Jetzt, Ewigkeit ist Jetztzeit, ausgedehnte, unausgedehnte, kurze, lange, schnelle, langsame Zeit. Überhaupt keine Zeit. Unser Kind befindet sich ganz und gar außerhalb der Zeit, weil es so tief in die Zeit zu versinken oder so hoch auf ihr hinaufzusteigen versteht (so erklären wir uns das und auf die gleiche Weise könnten wir uns das Gegenteil erklären: Unser Kind befindet sich ganz und gar innerhalb der Zeit, weil es so tief in die Zeit zu versinken oder so hoch auf ihr hinaufzusteigen versteht). Uns wundernd (und es bewundernd) blicken wir auf unsere Kind und können es nicht begreifen: wie kann es diese andere Zeit, diese Kindzeit geben? Wie kann es sein, dass uns kein Zugreifen auf diese Zeit gelingt, dass wir weite, weite Umwege in unserer Zeit gehen müssen, um gemeinsam mit unserem Sohn rechtzeitig in der Spielgruppe (oder überhaupt nur an der nächsten Straßenecke) ankommen zu können? Wie ist es möglich, dass das Baby, das Kind in unsere Welt geboren wurde, aber nicht in unsere Zeit? Sind wir nicht deshalb alt und altmodisch, weil wir noch so eng verhaftet sind unserer Zeitlichkeit, die uns so oft auf die Uhr blicken und den Zeitfluss kontrollieren lässt, uns wenig Spielraum ermöglicht, die Tage eng macht und schnell? Et wird dunkell! ruft unser Kind, als die Sonne untergegangen ist, aber es sagt nicht: Gerade war es doch noch hell, nun wird es schon wieder dunkel, wie schnell der Tag vergeht, vergangen ist! – es ruft nur: es wird dunkel!, wie es gerade eben, gestern, vorgestern, irgendwann gerufen hat: ein Stein! oder: ik will eine Mango etten! oder: will nit schrafen! (So finden wir uns fassungslos dieser Kindzeit gegenüber und manchmal retten wir uns in die kleine heimliche Diffamierung seiner Zeit, der Zeit unseres Kindes, wir schieben alles auf sein geringes Alter, seine mangelnde Erfahrung, seine große und grobe Unwissenheit; es wird sie schon noch kennenlernen unsere Zeit, es führt kein Weg daran vorbei für unser Kind, sich auch unserer Zeit zu unterwerfen, wir können reden über die Zeit, lamentieren und uns ärgern, wir können sie anklagen und uns über sie lustig machen, aber sie wird uns niemals wieder in die Kindzeit zurücklassen, so ist es.) Kein Schmerz kann die Ewigkeit unseres Kindes verkürzen. Ein Schnitt mit seinem kleinen Messer in den Handteller wird zum Ereignis. Kaum Blut, doch der Wunsch nach einem großen Pflaster. Wie ein wertvolles, zerbrechliches Heiligtum trägt unser Sohn seine Hand herum und zeigt jedem, der es wissen will und auch denen, die es nicht wissen wollen, sein Aua. Im Schmerz ist die Ewigkeit am einfachsten zu spüren, gerade für uns Erwachsene kann den Schmerz an sich das Wissen um sein Vergehen nicht oder nur kaum lindern. Empfundener Schmerz dauert: ein starkes Stück Leben, deutlich, überdeutlich, spricht es aus, dass nichts sonst genau jetzt sein kann. Aber der kleine Schmerzkult unsers Sohnes heute ist inszeniert (ganz anders als der Zahnungsschmerz oder der Bienenstichschmerz, der die Welt in ihren Grundfesten erschüttern ließ). Inszeniert für uns. Auch für uns. Vielleicht hauptsächlich für uns (vergessen wir nie: nur weil unser Baby verschwunden ist, ist noch lange nicht unser täglicher Meister verschwunden). Im Schmerz unseres Kindes fällt der Schleier unserer Zeit. Im inszenierten Schmerz unseres Kindes fällt es uns leichter, dies zu bemerken. Die Zeit ist ein Schleier, denken wir, nur das Kind geht unverschleiert. (Vielleicht ist jetzt ein bißchen Rilke angebracht, sagts du zu mir oder ich sags zu dir. Du mußt das Leben nicht verstehen, / dann wird es werden wie ein Fest. / Und laß dir jeden Tag geschehen / so wie ein Kind im Weitergehen / von jedem Wehen / sich viele Blüten schenken lässt. Und gleich danach ist uns nach einer Abwandlung eines Rilkesatzes aus den Geschichten vom lieben Gott. Es ist immer schlimm für die Eltern, wenn die Kinder plötzlich etwas wissen, was sie ihnen nicht erzählt haben. Oh, ja, es ist schlimm, lass uns nicht so tun – sagst du zu mir, sage ich zu dir – als wäre es nicht schlimm. Ja, es ist schlimm, dass unser unwissendes Kind etwas über die Zeit weiß, was wir wissenden Eltern nicht wissen. Es ist schlimm, bekräftigen wir noch einmal, und jetzt spüren wir den Schmerz, einen deutlichen, aber weit von uns wie ein Stern entfernten Schmerz, ein Aufleuchten eines Schmerzes, sein Pulsieren und Pochen. Die Sache mit der Zeit nicht zu wissen ist Schmerz. Alles und jedes hat unser Kind untersucht bisher und alles und jedes will es untersuchen, aber nie die Uhren. Nicht die auf dem Kirchturm findet sein Interesse, nicht die an meinem Handgelenk, nicht die vielen an den U-Bahnhöfen, schon gar nicht die Hunderte in der Auslage des Uhrengeschäfts. Es hat einen Sinn für jeden Gegenstand, aber keinen für die Uhr. Und merkwürdig, als unser Kind auf unsere dumme Frage, wie lange es noch Eisenbahn spielen will, denn wir müssen jetzt los, haben eine Verabredung, ohne Nachdenken antwortet: vier Stunden, bemerken wir, das wir dabei sind, eine gewisse Freude an unserer Unwissenheit zu entwickeln. Das Echo des Tickens unseres Schmerzes.)