DAS ZWEITE JAHR – 19

19

Das erste Jahr Babybuddha jetzt auf:

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Zwei Welten. Die Babywelt. Unsere Welt. Die Nähe zu unserem Kind täuscht uns sowohl über die Unverbundenheit dieser zwei Welten wie über ihre Verbundenheit. Wir wollen glauben, dass unsere Welt eine Art Zielwelt für das Baby ist. Dorthin! Sich dorthin entwickeln, werden wie wir, sein wie wir. Ahmt unser Kind uns nicht ständig nach? Aber woraus ahmt es uns nach? Aus welcher Welt heraus? Aus einer Welt, die unserer ganz und gar ungleich ist? Aus einer Nichtwelt? Natürlich glauben wir, in einer Welt zu leben, einer gemeinsamen (die unsere ist, nur unsere sein kann). Es ist die uns seit langem bekannte Welt, in der zu leben jedem Neuankömmling bevorsteht (oder sollen wir sagen droht? Aber das würde in die falsche Richtung weisen, denn wir sind ja liebende Eltern, die ohne Argwohn und schlechte Gedanken ihr Kind empfangen, mit offenen Armen und offenem Herzen! Trotzdem: diese, unsere Welt ist zumindest Drohung in dem Sinn, dass die Begegnung mit ihr, einmal geboren, unausweichlich ist, wer auf die Welt kommt, kommt auf unsere Welt und keine andere, hat keine Wahl). Die uns seit langem bekannte Welt, haben wir gesagt: kaum gesagt, schon fällt der Zweifel über uns her (der Zweifel ist wie ein Hund, der uns anspringt, sagen wir uns, er will nur spielen, mit uns spielen; lassen wir ihn spielen). Diese Welt, unsere Welt, sie kommt uns unbekannt vor, neu, frisch, wenn wir nicht mit den eigenen Augen sehen, nicht mit den eigenen Ohren hören. Wir hören das Läuten der Kirchenglocken mit den Ohren des Babys. Wir versuchen es, wir reaktivieren unsere Babyohren, es fällt uns leicht, also hören wir jetzt in einer Welt, was spielt es noch für eine Rolle, ob es unsere Welt ist oder die des Babys. Möglich, dass die Welt unseres Babys eine oberflächliche Welt ist oder die Welt der Oberfläche oder die Welt, die nur Oberfläche ist. In einem Salute to Carolee Schneemann schreibt der Filmemacher und Schriftsteller Jonas Mekas kurz und knapp: So much has been said about the „essence“ of things and men that you`ll forgive me if I say a few words in praise of the surface. (Nein, es ist kein Experiment in der reichen Stadt, es ist Zufall. Im Museum der Moderne auf dem Mönchsberg stolpern wir in eine Carolee Schneemann Werkschau: ohne Absicht, nur, weil es regnet und wir nicht draußen sein können, nur, weil wir auf jede Ausstellung, die uns über den Weg läuft, neugierig sind, oder einfach nur so. Gibt es eine Verwandtschaft der Oberflächlichkeit dieser Kunst mit der oberflächlichen Welt unseres Babys? Ein kurzer Schrei klärt über die Unverwandtschaft auf. Obwohl wir die blutigen, saftigen Bilder sich wälzender Körper meiden und nur die harmlosen Objekte betrachten, war nie ein größeres Unwohlsein unseres Babys spürbar als in dieser Ausstellung. Wir haben unverantwortlich gehandelt, haben einen Moment geglaubt, die Welt der Kunst könnte der Welt des Babys zumindest ähnlich sein, besonders die Welt der oberflächlichen Kunst. Keine Welt, erkennen wir jetzt, könnte der Babywelt unähnlicher, fremder, geistesunverwandter sein als die Welt der Kunst. Selbst wenn der Blick der Kunst ein naiver sein sollte, gibt es keine Verwandtschaft. Unser Baby blickt nie naiv. Den frommen Wunsch der Kunst nach reinem, unverstelltem, offenem, spitzfindigem, ursprünglichem, eigentlichem Blick teilt das Baby nicht im Geringsten. Die Welt der Kunst, müssen wir zugeben, ist unsere Welt, die Welt des Babys ist kunstfern, kunstfrei, kunstlos.) Zwei Welten. Jonas Mekas sagt: I`am only celebrating what I see. Was uns sympathisch ist, ist unserem Baby gleichgültig. Es feiert nicht. Sein Jauchzen beim Anblick der Tauben, die auf ein hingeworfenes Stückchen Brot eilig zutrippeln, gilt vielleicht nur diesem komischen Anblick der Vögel, die ihre irdische Höchstgeschwindigkeit so deutlich sichtbar erreicht haben, und dennoch kaum einen Flügelschlag riskieren, der sie erheblich schneller zum Brot bringen würde. Oder unser Baby jauchzt nur deshalb, weil es im Brotwurf seine Kausalität entdeckt und den Zusammenhang Brot-Taube, der verblüfft und erheitert. Aber es feiert nicht, wendet sich ab mit der gleichen Plötzlichkeit, mit der sich die Tauben abwenden, obwohl das Spiel noch nicht zu Ende ist und auch wenn es zu Ende ist. (Und gleich wieder bellt uns der Zweifel an. Nur zu gerne würden wir unser Baby in unser Bewußtseinsboot ziehen und mit ihm auf dem Fluß der Zusammenhänge uns mal treiben lassen, mal unser verständiges Padel auspacken, um dahin und dorthin steuern. Uns davon abzuhalten, unsere beiden Welten zu verknüpfen, ist wirklich unmöglich.) Ein Gewinn lockt uns, auf den beiden Welten zu bestehen. Die Welt des Babys ist nicht unsere Welt und unsere Welt ist nicht die des Babys, rufen wir wiederholt, weil wir den Gewinn deutlicher hervorlocken wollen. Denken wir nur an unsere Welt, bleibt uns nur der Verlust (oh doch, wir mögen unsere Welt, machen uns aber nichts vor: nur unsere Welt ist Verlust). Wollten wir nur auf der Welt des Babys bestehen, als  einziger Welt (was wir gar nicht könnten), als der Welt, die wir verloren haben (schon wieder Verlust, kaum neigen wir uns einer Seite zu: Verlust), wäre das Rätsel ungleich größer. Beide Welten sind ein Rätsel, die Welt des Baby, unsere Welt. Und dass es zwei Welten sind, ist ein Rätsel. Die Lösung liegt natürlich in der Verbindung, die wir, nein, nicht abstreiten, aber zurückhalten. Die Verbindung kann keine einfache sein, das ist uns klar: sie kann nicht so sein, dass es uns möglich wäre, sie zu verstehen. Wir müssen uns den Unverstand gestatten und doch nicht aufhören, die beiden Welten zu verbinden. Sieh, sagen wir, dort ist unser Baby in seiner Welt. Ohne seine Welt wäre unsere verloren. Traurig, aber wahr: seine Welt braucht unsere Welt nicht. Aber unser Baby braucht uns, wie wir unser Baby brauchen. Diese zwei Welten sind nur deshalb zwei Welten, weil sie nicht eine sind. Wenn sie eine wären, wären sie nicht zwei und es gäbe keine Babys. Mein Gott, rufen wir (es ist uns so herausgerutscht), das Baby ist doch unser Meister! So ist es auf die Welt gekommen: als unser Meister. Nur auf welche Welt? Doch nicht auf seine eigene! (So geht es eine Zeitlang dahin, während unser Baby an diesem regnerischen Tag in ein merkwürdiges Schlendern verfällt und, es mag glauben, wer will, nach einigem Herumwandern tatsächlich und erstaunlich vorsichtig Martin Heideggers Sein und Zeit aus dem Bücherregal zieht und vor sich auf den Boden legt. Es ist der Band mit dem verfärbten Umschlag, irgendwie hat die Sonne über die Jahre das ursprüngliche Braun des Umschlags – am Buchrücken besonders deutlich – in ein helles Pistaziengrün verwandelt, verschoben, verzaubert, entzaubert, als wäre Grün die eigentliche Farbe des Buches. Und es mag auch glauben, wer will, unser Baby schlägt das Buch – es ist sein erster Versuch – im vorderen Drittel auf und deutet dann wie wild mit dem Zeigefinger auf diese Stelle: Und wenn die Frage nach der „Welt“ gestellt wird, welche Welt ist gemeint? Weder diese noch jene, sondern die Weltlichkeit von Welt überhaupt. Und zum Dritten mag es glauben, wer will, nach seiner wilden Deuterei, schlägt es das Buch wieder zu und trägt es zu dir, übergibt es dir mit harscher Entschiedenheit und gibt dir deutlich zu verstehen, dass du es einfach nur festhalten sollst. – Später am Abend sagen wir uns, im Grunde leben wir doch alle wie aus einer Höhle, aus einer verborgenen Babywelt heraus unser Leben. Und dann sagen wir, es soll doch bitte nie aufhören mit dem Baby und seiner Meisterschaft, aber es wird irgendwann aufhören – oder? -, es sei denn … Oder ist es noch zu früh, an ein weiteres Baby zu denken? Seltsam, dass die Menschen bei uns sich auf ein, zwei, drei Nachkommen eingeregelt haben, aber vielleicht braucht man nicht mehr als ein, zwei, drei Meister in einem Leben.)

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