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Das erste Jahr Babybuddha jetzt auf:
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Kein Tag vergeht, an dem dieses Kind, unser Kind kein Glück wäre. Es muss nichts Besonderes tun, um uns das empfinden zu lassen. Wollten wir dieses Glück untersuchen, wüssten wir gar nicht, was untersuchen, wo anfangen mit dem Untersuchen. Dieses Glück ist ja nicht flüchtig, was uns die Voraussetzung für die Untersuchung der meisten Dinge zu sein scheint. Es ist so stark, beständig, zuverlässig – müsste es uns nicht leicht fallen, es zu ergründen? (Sich um sich selbst drehen macht unserem Baby Freude, und dann, im Schwung auf die Wiese stürzen, fallen, sinken. Es lacht auf der Erde, lacht mit den Grashalmen, den Gänseblümchen und dem schlanken Insekt mit den grün durchsichtigen Flügeln auf seiner Backe. Dann kommt es wieder hoch. Hände auf der Erde zwischen den Beinen, in die Hocke, in dieser Haltung noch ein paar Grashalme ausreißen, sich aufrichten und von neuem mit dem Drehen beginnen. Was es tut, macht uns glücklich, aber auch, wenn es nichts tut. Unser Glück kommt von unserem Baby, durch unser Baby, und irgendwie, schwer bestimmbar ist es ein anderes Glück als das, was von uns selbst kommt, durch uns selbst entsteht, durch dich oder mich.) Vielleicht hat es etwas mit dem Tod zu tun. Befand sich unser Baby anfänglich noch in dieser unverschämten Nähe zum Tod, ist er ihm nun gleichgültig, gleich gültig wie das Leben. Als wir die Treppe zur Kindergruppe hochlaufen, entdecken wir auf einem offenen Fenster im Dach, das in die Waagrechte gekippt ist, einen kleinen Hasen. Einen toten Hasen. Warm und weich ist das Tier, vom Himmel ist es gefallen, aus den Klauen eines Raubvogels vermutlich, aus dem schönen, wolkenlosen blauen Himmel ist es gestürzt, eine Beute, die ihren Tod versehentlich durch den Sturz gefunden hat. Kein Blut ist am warmen Hasenkind zu sehen, als wir es vorsichtig mit einem Stück Küchenkrepp vom Fenster heben. Wir spüren die Scheu, ein totes, eben gestorbenes Wesen mit bloßen Händen zu berühren; wir fürchten keine Krankheit, aber wie eine Krankheit die Übertragung des Todes durch direkte Berührung; jedoch unser Kind und all die anderen Kinder, die herbeikommen, wollen das Häschen anfassen, wie sie alles, was es gibt, anfassen wollen, ohne Zurückhaltung, ohne Furcht vor möglichen Folgen, ihrer ungeteilten Neugier folgend (oder ihrem Desinteresse, die das Häschen übersieht. Kommt es uns nur so vor, oder ist es wirklich so, dass in der einen Hälfte der Kinder das tote Tier Neugier weckt, die anderen Hälfte der Kinder ihm aber keinen Blick schenkt?). Leben und Tod, Tod und Leben, das Baby macht keinen Unterschied zwischen beiden, dieser Unterschied ist ihm nicht geläufig. Dieser Umstand kann seiner Unwissenheit zugeschrieben werden, besser aber wäre es, seine Unkenntnis hervorzuheben, die ein ungeheures Wissen in sich birgt: die Ungetrenntheit von Leben und Tod (die uns ein Rätsel ist und bleiben muss; andererseits, kennen wir den Unterschied zwischen Leben und Tod denn wirklich?) Was uns an unserem Baby als naiv erscheint (in unserer Todesfurcht, die so oft unser Denken und seine urteilende Lebenskontrolle lenkt), ist in Wahrheit eine merkwürdig bewußtlose (oder eine uns noch rätselhaftere bewußte) Weisheit, die vor keinem Unterschied halt macht. Wie könnte der Tod erschrecken, wenn er als nicht unterscheidbar vom Leben betrachtet wird? Wenn er gleichsam ein Phänomen des Lebens ist, auftaucht in der Gestalt eines vom Himmel gefallenen Häschens mit Genickbruch, und bald wieder genauso plötzlich verschwunden ist (auf dem Heimweg von der Spielgruppe suchen wir einen ruhigen Platz für den toten Hasen, unter einem dichten, niedrigen Busch. Wir bedecken ihn mit Blättern, sagen Tschüss und fahren weiter. Wie ein Freund ist dieser Tod, den wir für Augenblicke kennengelernt haben, aber uns jetzt aus unerfindlichen Gründen wieder von ihm trennen müssen. Wir werden noch ähnlichen Freunden begegnen, aber alles zu seiner Zeit). Der Tod: ein kleines Kind und den Tod zusammenzudenken, mutet ja fast absurd an. Ist doch die Lebenskraft des Kindes so ungeheuer groß, dass es fast wie der Überwinder des Todes erscheint. Si vero ad naturam animae et ad dispositionem, heißt es bei Thomas von Aquin, quae propter animam supernaturaliter humano corpori a principio indita fuit, est per accidens et contra naturam … der Tod ist nicht wesensnotwendig, ja wider die Natur … So scheint es zu sein: dass den kleinen Kindern die Unnatürlichkeit des Todes sichtbar ist, wohl weil ihre Seele noch in einer Weite zu Hause ist, die uns (und ihnen wird es ebenso geschehen) abhanden gekommen ist. So lässt sich die Dauerhaftigkeit des Glücks (das uns unser Kind durch sich spüren lässt) glaubhaft erklären: dank unseres Kindes nehmen wir gleichsam teil an der wesentlichen Seite des Lebens, der der Tod nicht mehr ist als ein Augenzwinkern, ein Klacks, ein Fleck, der sich selbst reinwäscht. Ist Das Erdbeben in Chili von Heinrich von Kleist nicht eine scheußliche Geschichte? Ein Paar, das sich nicht lieben darf, aber es dennoch tut, das ein Kind zeugt, Philipp, das den beiden Liebenden sofort entrissen und in ein Kloster verbracht wird, ein Erdbeben, das die Strafen der Liebenden (die Mutter Josephe wird zum Tode verurteilt, der Vater Jeronimo in Haft genommen, wo er sich aus Verzweiflung erhängen möchte) zusammen mit dem Untergang Chilis zertrümmert, ihre Hoffnung auf Vergebung, da doch die Naturkatastrophe das gemeinsame Gute in den Menschen hervorgerufen zu haben scheint, ihre bittere Enttäuschung, als die Liebenden in einer Dankesmesse in der einzig unzerstörten Kirche neuerlich als die gotteslästerlichen Frevler und damit Verursacher des Erdbebens bezichtigt werden, und vom erregten, wütenden Mob schließlich erschlagen werden, Jeronimo sogar von seinem eigenen Vater. Ein Freund, Don Fernando, befand sich mit Josephe und Jeronimo in der eskalierenden Messe und auch sein kleiner Sohn Juan. Im allgemeinen Tumult und in der Blindheit der Wut des Mobs wurde ihm Juan bei den Beinen von seiner Brust gerissen, und, hochher im Kreise geschwungen, an eines Kirchpfeilers Ecke zerschmettert. Das Kind lag mit geplatztem Kopf auf dem Boden. Hierauf war es still, und alles entfernte sich. Eine sonderbare Ruhe kehrte ein und Don Fernando nimmt mit seiner Frau Philipp als Pflegesohn an. Diese Geschichte bildet ein unglaubliches Gleichgewicht ab: ein Kind stirbt, eines überlebt. Ein Kind wird getötet, ein Kind am Leben gelassen. Ein wenig rätselhaft heißt es am Ende: und wenn Don Fernando Philippen mit Juan verglich, und wie er beide erworben hatte, so war es ihm fast, als müßt er sich freuen.