DAS ZWEITE JAHR – 21

21

Das erste Jahr Babybuddha jetzt auf:

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Ab jetzt wird geschoben. Die Lust zu schieben entsteht von heute auf morgen und mit aller Macht – so scheint es. Das Baby (nein, unser Baby ist kein richtiges Baby mehr, aber doch ist es noch Baby, sieh nur den Speck an den Oberschenkeln und das runde Gesicht und die kräftigen Lippen, die ihre Gier nicht zu verbergen suchen!) beobachtet die anderen Babys und Kinder, die kleineren und größeren, was macht das eine, was macht das andere. So sind sie, plötzlich scheinen die anderen Babys, Kinder, insofern andere zu sein, dass sie über eigene – hoch interessante, brilliante – Ideen verfügen, die einmal selbst auszuprobieren, nachzumachen, sich lohnen könnte. Wer beobachtet wen, ist keine geringe Frage. Unser Baby wird beobachtet, wie es selbst beobachtet. Das Universum der Babys ähnelt unserem nur auf den ersten Blick (wir erinnern uns: die Babys sind keine kleinen Menschen, Menschen, wie du und ich: du bist du und ich bin ich, so denkt das Baby nicht), auf den zweiten Blick zeigt sich die wundersame Ungetrenntheit dieser kleinen Wesen, die uns schwindlig werden lässt, wenn wir über den Beobachter und den Beobachteten etwas Wahres herauszufinden versuchen. Die Rollen wechseln nicht nur, es scheint gleichsam nur eine Rolle zu geben, die jedes Baby zu jeder Zeit und sogar gleichzeitig einzunehmen in der Lage ist: der Beobachter und der Beobachtete (oder auch das Beobachtete) sind ununterschieden, aber doch schon ein weites Stück entfernt vom Alles ist eins. Ein Wagen wird geschoben, ein Puppenbuggy, überall schieben die Kinder Puppenbuggys, kaum entdecken sie einen herren- oder damenlosen, schon eilen sie zu ihm hin (auf ihre eigene eilige Weise, die so sehr mit dem Ziel der Eile verwachsen ist, dass sie dennoch – zu unserer Überraschung – niemals den Eindruck erwecken, sie hätten Sorge, sie könnten etwas verpassen), packen die Griffe und rattern los. Hat je jemand damit angefangen? Wer war der erste Schieber, die erste Schieberin? Im Schieben lässt sich kein Unterschied der Geschlechter feststellen. Alle Babys schieben, ein individueller wie kollektiver Wunsch ist es, der fast etwas von Besessenheit hat. (Auf dem Hausflohmarkt in unserem Viertel erstehen  wir für einen Euro ebenfalls so einen kleinen Buggy, der sich gut zusammenklappen und leicht mit einer Hand tragen lässt. So wie unser Kind vom Schieben ergriffen wird, werden wir davon ergriffen, ihm diesen Wunsch noch einfacher zu ermöglichen. Welche Freude, wenn wir aus der Wohnung nach unten steigen und unser Baby seinen Wagen entdeckt und ihn sogleich losschieben will! Den Körper etwas nach vorne gekippt, die Arme nach oben gestreckt, beginnt die Fahrt auf dem Gehweg. So schnell, viel schneller, als es zu Fuß ohne Wagen laufen würde. Mit dem Puppenwagen vor sich, lässt sich Tempo machen, die billigen Puppenwagenräder rattern über die Fugen der Pflastersteine, über Bordsteinkanten und das Bodengitter über dem U-Bahnschacht. Dann geht es die Rampe an der Kirche hoch und der Wagen wird nach einem Moment des Überlegens auf der anderen Seite die fünf Stufen hinunter geschubst.) Schieben! Gibt es etwas Schöneres als schieben? Nicht einmal das Gehen wurde mit solch ausdauerndem Jauchzen begleitet. Es muss doch etwas hinter dem Schieben stecken, ein (der erste?) geheimer Wunsch, den das Baby von Geburt an in sich trägt und der jetzt herausspringt (wie auch wir diesen Wunsch in uns getragen haben und noch in uns tragen und wie auch aus uns dieser Wunsch herausgesprungen sein muss – wir wußten ja bisher, trotz täglichem Kinderwagengeschiebe, nichts von diesem Wunsch, aber jetzt, da er aus unserem Baby herausspringt, springt er uns an wie ein junger Hund und mit einemmal spüren wir die freudige Spannung hinter ihm, die ihn herausgeschleudert hat). Ein geheimer Wunsch steckt hinter dem Schieben? Oder kommt es nur uns so vor, uns, die wir überall Geheimnis vermuten, wohin unsere Erinnerung nicht reicht, und was unserem Denken so überaus sinnlich widerstrebt? Der ganze Strudel strebt nach oben; Du glaubst zu schieben und du wirst geschoben, heißt es in Goethes Faust. Faust und Mephistopheles auf dem Weg zur Walpurgisnacht auf den Blocksberg (Faust und sein Puppenkinderwagen namens Mephistopheles – oder: Mephistopheles und sein Puppenkinderwagen namens Faust – in einer Hexennacht kann man reinen Gewissens alles vermuten, verknüpfen, verlinken): jedenfalls steht sinnliches Vergnügen bevor, Tanz und Feuer. Bewegt unser Baby seinen Puppenwagen, so bewegt es etwas, ein Stück Welt, unlebendige oder lebendige Welt, schiebt ein Stück Welt zur Seite, voran in eben dieser gleichen Welt. Eine großartige Illusion, die sich selten echt anfühlt! So kann man sich Partnerschaft vorstellen (wie die von Faust und Mephistopheles): ein großes Geschiebe, das einem die Illusion verschafft, man könnte bewegen, obwohl man selbst es ist, der oder die oder das bewegt wird. Dieser kleine Puppenwagen (ein Lob der Erfindungsgabe der Gegenwart, die jedes noch so sinnlose, unbrauchbare, überflüssige Ding in die Welt bringt, mit dem wir unser frühestes Dasein verlängern und an dem wir uns fleißig abarbeiten!), billiges Massenprodukt im Dienst einer ursprünglichen Freude, die wir nur mißverstehen und mißdeuten können. Immer noch glauben wir (du, ich), unser Baby würde bloß einen Puppenkinderwagen schieben, wir lachen über seine entzückende Einfalt, sein Jauchzen und Frohlocken und diese herrliche Verschwendung seiner Kraft. (Aber plötzlich macht unser Baby halt und lässt seinen Puppenwagen stehen. So plötzlich, unvermittelt, gedankenlos, dass wir schamhaft zurückweichen: fast verloschene Lust, Rückzug in die Glut, die still vor sich hin glimmt, bis was, ja bis was geschieht, die sie erneut anfacht? Genug Wagen und Welt bewegt. Pause. Stehend ruhen. So sind die Babys, so sind sie auch: Sie ruhen in sich, gänzlich ungeschoben.)

 

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