DAS ZWEITE JAHR – 23

23

Das erste Jahr Babybuddha jetzt auf:

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Da gibt es dieses Zögern, Zaudern, Innehalten unseres Babys am Eingang, am Tor, am Rand des Spielplatzes, vor der großen Kinderwiese beim Labyrinth, auf der letzten Stufe zum Turncafé, ein Zögern, Zaudern, Innehalten, das etwas zu tun hat mit der Größe der Menge, der anderen Menschen, Kinder, auf die wir treffen, denen wir uns nähern, es gibt eine Zurückhaltung der Masse gegenüber, eine ebenso natürliche wie automatische Zurückhaltung, die zuerst überwunden werden will, wenn wir mitmachen wollen, dabeisein wollen, eintauchen wollen (Masse und Macht von Elias Canetti ist ein Buch des Hintergrundes: einmal darin gelesen, wird es immer wieder erinnert, die letzte Lektüre kann Jahre her sein, plötzlich in der vollen U-Bahn, die zwischen zwei Stationen im Tunnel Halt macht, taucht es in meinem Bewußtsein auf, vielleicht nur der Titel. Masse und Macht das klingt nicht gerade vertrauenerweckend, das klingt nach Urzusammenhang, nach einer unauslöschbaren, mehr teuflisch als göttlichen Verbindung, jeden Menschen betreffend, jedem Menschen gleichsam mit in die Wiege gegeben. Der superindividuelle Moment der Geburt ist auch der Moment, der unweigerlich, als Grund, Ursache, Notwendigkeit zum Kontakt mit den Anderen, der Masse führen wird. – Mein altes Taschenbuchexemplar ist unbrauchbar geworden, die an den Rändern dunkelbraunen, sonst gelblich vergilbten Seiten fallen beim Öffnen zahlreich heraus wie die Blätter im Herbst von den Bäumen. Ein neues muß her. Mein Baby auf dem Arm, suche ich die Buchhandlung hinter der Universität auf. Der jungen Buchhändlerin ist der Name Canetti unbekannt. Sie versucht sich in der Suchmaske des Computers mit Kanetti. Den Titel Masse und Macht wiederhole ich ein paar Mal, bevor sie ihn versteht. Spreche ich so undeutlich? Ist der Buchhändlerin der Titel so ungewohnt, nach zu Fremdem klingend, stößt sie der Zusammenhang, den er ausspricht, womöglich ab? Jetzt bloß nicht hochmütig werden! denke ich. Wird mein Sohn, der von meinem Arm auf den Teppichboden und selbst ein bißchen um die Büchertische und an den Buchrampen herumstreichen will, eines Tages Ahnung haben oder Interesse finden an Elias Canetti? Mein altes verwelktes Buch kommt mir vor wie ein Symbol des Verwelkens der Kultur, der je eigenen, meiner Kultur, dem, was für mich Bedeutung hatte und hat und von dem ich immer, lange Zeit zumindest, den Eindruck hatte, es hätte diese Bedeutung für alle Menschen. Das war wahrscheinlich immer schon ein – lieb gewonnener – Irrtum, der heute aber deutlich aus dem beschützenden Schatten eines naiven Glaubens, einer nur allzu menschlichen Hoffnung heraustritt. So wie alle Dinge und Menschen kommen und gehen, so kommen und gehen auch die guten Bücher. Wird sich unser Sohn wundern über die Namen der Autoren in den Bücherregalen, falls wir einmal nicht mehr sind? Wird er Masse und Macht herausziehen, befremdet darin blättern, über Sprache und Inhalt rätseln und es gleich zur Seite legen, in eine Kiste mit den anderen Büchern, die bald von einem Trödler abgeholt werden, oder schlimmer von einem Entrümpler? Über den eigenen Tod hinaus werden Kränkungen kaum möglich sein, denn wir würden es als eine solche empfinden, dass das, was uns wichtig ist und dann war, nun als unwichtig und wertlos betrachtet und beurteilt wird. Jedenfalls wird mein Wunsch nach Masse und Macht durch das Unwissen der Buchhändlerin zu etwas Sonderbarem, Überholtem, fast zu einer Schrulle. Nur die ganz Eitlen wollen Bücher für sich haben und nicht teilen; doch womöglich ist es auch eine Form der Eitelkeit, dass ich glaube und möchte, jeder sollte Masse und Macht lesen. Andererseits, denke ich und sehe unseren Sohn sich vom Kinderbuchtisch in die Tiefen des Buchladens entfernen, Richtung Leseinsel, andererseits, ist es nicht ein Glück, das alles, selbst das Wertvollste nicht vom Verschwinden ausgenommen ist und dass man, in welch fernen Zeitabständen auch immer, mit seinem Wiederauftauchen rechnen kann? Oder auch nicht damit rechnen kann oder nur mit einem Wiederauftauchen Äonen von der eigenen restlos verblassten Existenz entfernt? Was bleibt von uns, wenn wir nicht mehr sind? Diese sonderbare Frage, die so einfach zu beantworten ist: unser Baby, unser Kind, täuscht uns nicht. Alles sonst, was bleibt, hat nichts zu tun mit uns und unserem Willen. Kein Glück oder Unglück geschieht, wenn unser Junge niemals Masse und Macht lesen würde. Trotzdem: wir hätten es gern, wünschen es uns. Besonders um des nicht geschriebenen Kapitels willen, um das Ergänzungskapitel, das heißen könnte: Das Zögern. Zaudern. Innehalten. Oder, widersprüchlich: Die Verweigerungsmasse.) Da gibt es die anderen Kinder. Manchmal sind es nur wenige (an einem Schlechtwettertag auf dem Spielplatz), dann wieder sind es viele, sehr viele (am guten Babybadeplatz am See). Sind es die Wenigen, ist der Kontakt leicht, auch, weil er sich vermeiden lässt, auch, weil genug Raum für alle vorhanden ist. Die Wenigen nehmen sich nichts, und wenn sie sich etwas geben, hat es fast etwas Feierliches. Sind es die Vielen, wird der Raum eng (auch der akkustische; Lärm ist keineswegs etwas den Babys Angenehmes). Der Kontakt unter Vielen ist nah am Zwang. Kaum ein Ausweichen ist möglich, selbst wenn unser Baby nicht in Stimmung für Begegnung ist. Die Begegnung in der Masse ist im Grunde keine Begegnung, ihr fehlt eben der Raum und damit die Freiheit. Groß ist die mitgebrachte Offenheit des Babys allen anderen gegenüber. Sie schrumpft schnell, wenn alle anderen gleichsam zugleich dort sind, wo das Baby ist. Es gibt ein Zuviel, und dabei scheint es nicht um persönliche Vorlieben und Neigungen zu gehen. Die Masse hat etwas Abstoßendes, Räuberisches, Hartes und diese Eigenschaften besitzt sie bereits bei den Kleinen und Kleinsten. Bei Canetti heißt es: Die Genugtuung, in der Rangordnung höher als andere zu stehen, entschädigt nicht für den Verlust an Bewegungsfreiheit. In seinen Distanzen erstarrt und verdüstert der Mensch. Er schleppt an diesen Lasten und kommt nicht vom Fleck. Er vergißt, daß er sie sich selber auferlegt hat, und sehnt sich nach einer Befreiung von ihnen. Die Befreiung geschieht in der Masse, in der Entladung mit der alle Trennungen, Unterschiede abgeworfen werden. Die Babys aber kommen schon entladen zur Welt. Trennungen sind ihnen fremd, Unterschiede bloß interessant. Erst in der Masse scheinen die Rangordnungen zu entstehen, in der frühen Masse, der Kindermasse. Dieselben Rangordnungen, die später wieder in der Masse, der Erwachsenenmasse aufgehoben werden sollen. Ein Kreislauf, der fatal ist und auf eine Weise nutzlos, kann doch kein Wesen sich je wieder loswerden. Zögert unser Baby deshalb? Als würde es ahnen, was mit dem Eintritt in die Masse auf es zukommt. Andererseits, es hat nichts gegen die Masse, wenn sie nur klein ist und klein bleibt. Eine gemäßigte Masse, in die sich gefahrlos eintreten und eintauchen lässt und die doch selber sein ermöglicht. Eine Wunschmasse? Unser Baby hält inne. Der Ort, zu dem, in den es will ist voll. Es hält inne und geht dann doch los. Mittenhinein. Betritt die Gefahr. Vielleicht hat es Lust seine Weisheit zu verlieren. Vielleicht ist die Masse der Ort und ihr Betreten der Beginn des Verlustes. Des Babyverlustes. Warum nur wirkt unser Baby, nach dem es sich nun entschieden hat aufs Ganze zu gehen, im großen Heer der Kinder zu verschwinden, so vergnügt?

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