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Der Traum beginnt mit einem unbestimmbaren Geschmack, als wir eine wenig bekannte barocke Kirche besuchen. Mit dem schlafenden Kind im Kinderwagen bleiben wir in der dunklen Nische vor dem hölzernen, fast schwarzen Eingangsportal stehen. Ein älterer Mann sitzt in einer der hinteren Bankreihen und blickt sich kurz um. Eine Frau unseres Alters kommt herein, schlüpft laut raschelnd aus ihrem Regencape, nimmt Platz, springt aber sogleich auf, als sich der Pfarrer zeigt. Er ist jung, kräftig und hat sein Haar zu einem Pferdeschwanz gebunden. Er zündet die Kerzen vor den Ikonen, die am Altar zu lehnen scheinen, an, danach sperrt er das Türgitter des inneren Kirchenraumes auf, aber es schwingt immer wieder in sein Schloß zurück. Dann verteilt er schmale Hefte, wir bekommen keines. Als er die Arme hebt und zu sprechen beginnt, erkennen wir, dass ihm sein schwarzer Talar ein gutes Stück zu klein ist. Betet ohne Unterlass, sagt er und will sogleich mit Psalm 119 beginnen. Da öffnet unser Baby seine Augen und wir verlieren keine Zeit, die Kirche umgehend zu verlassen. Wir fliehen rasch die Straße hinunter, doch der Pfarrer folgt uns. Er möchte uns eines der schmalen Hefte geben. Es beginnt es zu regnen. Ein dünner, feiner Regen, der ein rieselndes Geräusch macht. Es ist gar kein Regen, es ist Salz. Bald ist der ganze Kinderwagen voll damit.

The dream begins with an indefinable taste as we visit a little known baroque church. With the sleeping child in his baby carriage, we stop to stand in the dark alcove in front of the wooden, almost black entrance portal. An elderly man sitting in one of the back pews looks around at us. A woman our age enters, slips out of her rain cape with a rustling sound, takes a seat, but immediately springs up when the priest appears. He is young, strong, and has his hair tied back in a ponytail. He lights the candles in front of the icons, which seem to be leaning against the altar, then unlocks the gate to the interior of the church, but it keeps swinging back into its lock. Then he distributes some thin pamphlets, but we don’t receive one. When he raises his arms and begins to speak, we notice that his black cassock is considerably too small. Pray without cease, he says, and wants to begin straightaway with Psalm 119. At that point our baby opens his eyes and without hesitation we make haste to leave the church. We escape down the street, moving quickly, but the priest follows us. He wants to give us one of those thin pamphlets. It starts to rain. A thin, fine rain that makes a dry trickling sound. It isn’t rain, it’s salt. Soon the whole baby carriage is full of it.

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So schauen wir wie unser Baby auf die immer gleiche Stelle (des Himmels über seinem Bettchen, amaranthrot, wo zwei dickere Fäden sich fast berühren), wir schauen und schauen (das Baby, du, ich), bis die gleiche Stelle nicht mehr die gleiche Stelle ist (ist das der Anbeginn der Kunst, des Glaubens, des sonderbaren Vergessens der Wirklichkeit?). Alles, was uns berührt, muss von damals herkommen: wir wollen früher üben.

Thus like our baby we keep gazing at the same spot (in the canopy over his crib, amaranth red, where two thicker threads almost touch), we gaze and gaze (the baby, you, I) until the same spot is no longer the same spot (is this the beginning of art, ov belief, of the strange forgetting of reality?). Everything that moves us must come from that origin: We want to practice long ago.

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Erstaunliche Erweiterung: wo zwei waren, sind nun drei (aber wir können nicht sagen, wo keines war, ist nun eins. Wie wir genauso wenig sagen können, das Baby war schon immer da. Oh doch, natürlich können wir sagen, wo keines war, ist nun eins. Wie wir genauso gut sagen können, das Baby war schon immer da. Das ist wie die Erlösung vom Unmut am Paradoxon: wo zwei waren, sind nun drei.)

Amazing expansion: Where once there were two, now there are three (but we cannot say where once there was none, now there is one. Just as we cannot say the baby was always already there. Oh, but of course we can say where once there was none, now there is one. And we can just as well say the baby was always already there. That’s like a release from irritation by the paradox: Where once there were two, now there are three.)

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Wie von selbst geben wir dem Baby ein Versprechen (glücklicher Moment: wenn unser geistiges Tun aus der Weite unserer physischen Existenz herkommt). Wir werden unserem Baby sorgsame Begleiter sein. Halten wir dieses Versprechen, wird uns das nicht schwerfallen (obwohl wir uns kennen, in diesem Fall sind Zweifel nicht angebracht. Ja, wir kennen uns und die Anderen, die leichtfertig Versprechen geben und sie gedankenlos oder vorsätzlich brechen. Die etwas versprechen, um etwas zu erreichen oder etwas zu verhindern. Die versprechen, weil sie schwach sind oder stark sein wollen. Aber solche sind wir nicht länger).

Without intention, we make the baby a promise (propitious moment, when our mental activity comes from the wide open space of our physical being). We will be our baby’s careful attendants. If we keep this promise, it won’t be hard for us (even though we know ourselves, doubts are uncalled for in this case. Yes, we know ourselves and the others, who make casual promises and break them thoughtlessly or on purpose. Who promise something in other to bring something about or to prevent something from happening. Who make promises because they are weak or want to be strong. But we are no longer that kind).

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Woher kommt die Müdigkeit? Wenn sie kommt, folgt ihr das Baby augenblicklich (wir haben gelernt, es nicht zu tun. Wir schieben die Müdigkeit auf, verhandeln mit ihr, ignorieren sie). Ist sie nicht nur: müde zu sein, dessen, was ist? (Wir sind nicht gewahr, dessen was ist, so können wir seiner auch nicht müde sein). Nach einer langen Heimreise blickt das Baby uns in bewundernswerter Wachheit an, uns in unserer großen Müdigkeit.

Where does tiredness come from? When it comes, the baby follows it immediately (we have learned not to do that. We postpone tiredness, negotiate with it, ignore it). Isn’t it just: being tired of what is? (We are not aware of what is, so we can’t get tired of it). After a long trip, the baby regards us with admirable alertness, us in our great tiredness. 

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Und das Baby vertraut uns weiter und weiter und weiter. Uns und unserer Macht dieser, seiner, unserer Schöpfung gegenüber. Schwindel ergreift uns (froher Schwindel) und wirbelt uns um uns selbst. Wir taumeln nicht: jetzt nicht mehr. Wie ein gut angedrehter Kreisel richten wir uns auf und werden nicht mehr damit aufhören. Nicht mehr damit aufhören, uns unserer unsichtbaren Mitte zu nähern und zu nähern und zu nähern.

And the baby continues to trust us, on and on and on. Trusting us and our power over this, his, our creation. Vertigo seizes us (a happy vertigo), whirling us around ourselves. No longer do we lurch or reel. Like a well-spun top we rise up straight and will keep on moving nearer and nearer and nearer to our invisible  center.

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Erste Ansätze des Babys sich umzudrehen: als würde es sich selbst umblättern wollen. Sein Körper, übervoll mit ihm selbst, unterzieht sich einer höchst langsamen Findung. Und wir, die täglichen Betrachter, stoßen auf einen Gedanken, der hier gar nicht herzugehören scheint: das Baby ist ganz und gar in Sprache gehüllt. So dicht und lückenlos, dass wir sogar glauben wollen, es kommt aus der Sprache. Und damit nicht genug: es ist Sprache. Zu unserer Bestätigung  schmatzt unser Baby mehrmals (wir sind durchaus eigensinnig in unserer Deutung).

The baby’s first attempts to roll over: as if trying to turn a page that is himself. His body, filled to the brim with himself, submits itself to an extremely slow discovery. And we, the daily observers, strike upon a thought that doesn’t seem to belong here at all: The baby is altogether wrapped in language. So densely and thoroughly that we are almost tempted to think he originates in language. And not just that: He is language. Our baby confirms our finding with several smacks of his lips (we are quite obstinate with our interpretation).

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Als lebte man zwei Leben: eines als Baby und eines danach. Dass wir selbst einst Baby waren – nur die Erzählungen der Anderen lassen es uns glauben. Die eigene Erinnerung versagt, ist das falsche Mittel, sich den Babyzustand wach zu rufen. Das Baby ist sich selbst gleich, seine Gegenwärtigkeit ist vollkommen. Setzt die Erinnerung in unserem Leben ein, scheinen wir uns von uns zu trennen und unsere Präsenz wird schwach oder versiegt. Kommt unser Baby auf die Welt, beginnt unsere Wiedergeburt (als Baby). Und eine andere Art von Erinnerung findet uns. Eine Erinnerung, die sich an nichts erinnert und doch so genannt werden will. Sich so zu erinnern, sich so an nichts zu erinnern, ist nicht ungefährlich, lächelndes Baby!

As if one were living two lives: one as a baby and one afterwards. That we ourselves were once a baby – only other people’s stories can make us believe that. One’s own memory fails, is the wrong means to awaken the condition of babyhood in oneself. The baby equals itself, his presence is perfect. As soon as memory enters our life, we seem to divide ourselves from ourselves and our presence grows weak or dries up. As soon as our baby comes into the world, our rebirth (as a baby) begins. And a different kind of memory finds us. A memory that remembers nothing and yet wants to be known by that name. To remember like this, to remember nothing like this, is not without danger, smiling baby!

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Etwas über das Baby zu sagen, das wahr ist (also etwas, das von einer Dauer ist, die nicht ausleiert, schrumpft, versickert). Ein verständlicher Wunsch, der mir gleich mit dem nächsten Atemzug rätselhaft, dann leer vorkommt. Ich habe Lust, angesichts meines Babys streng zu mir zu sein: meinen Gedanken ist es ein sattes, zufriedenes Unglück, das ich unbedingt nähren muss wie es selbst. Am besten ist es, mich in der hinter den Berg gleitenden Sonne zu blenden und gemeinsam mit ihrem Untergang die Augen zu schließen: wie kann etwas unwahr sein?

To say something about the baby that is true (meaning something that lasts, that does not wear out, shrink, dissolve into nothing). An understandable wish, which immediately strikes me as puzzling, then empty. In view of my baby, I feel like being strict with myself: He makes of my thoughts a well sated, contented failure, which I must nurture at all costs, as I nurture him. The best thing to do is to let the sun blind me as it glides behind the mountain, and to shut my eyes in concert with its setting: What is there that could be untrue?

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Unverwandt fragen wir das Baby (fast ist es so, als würden wir es zur Rede stellen): wie macht das Wasser das bloß, sich mit sich selbst zu verbinden und verbunden zu bleiben? Und das erst: wenn die Verbindung abreißt, hat es sie, viel viel weniger als einen Augenblick später, schon wieder hergestellt. Und das Wasser hier und das dort drüben ist genauso voneinander geschieden wie es sich gleicht. Wie macht es das? Und das mit seiner Bewegung und Ruhe: wie die eine in der anderen steckt, aus ihr hervorgeht und wieder in sie zurückfällt. Und überhaupt: es hat nichts gegen seine Ufer und überspült sie ein ums andere Mal ohne Wehmut, ohne Zorn, ohne Vorsatz. Wie macht es das? Das Baby liegt nah am Wasser, aber es schaut es nicht an (fast ist es so, als wäre ihm das Wasser gleichgültig).

With steady persistence we ask the baby (almost as if we were taking him to task): How in the world does water manage to bond with itself and remain bonded? And then this: When the bond is severed, it takes much much less than a moment to reestablish. And the water here and the water there is just as separate as it is the same. How does it do that? And the way movement and stillness behave in it: how each includes the other, emerges from the other, how both collapse into each other. And on top of that: It has nothing against its shores and overruns them again and again without wistfulness, without anger, without intent. How does it do that? The baby lies near the water, but doesn’t look at it (it’s almost as if it doesn’t care about water at all).