Das vierte Jahr

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Warum?

 

Warum tun wir, was wir tun? Warum ist etwas so, wie es ist? Unser Sohn ist in der Warum-Welt angekommen (wirklich? Manchmal schimmert eine unschuldige Ironie durch seine Fragen, eine Nüchternheit und Interesselosigkeit, die uns an der Ernsthaftigkeit seines Fragens zweifeln lässt; oder sie so übersteigert, dass wir, die im Grunde Antwortlosen, uns hilflos fühlen). Papa, warum schneidest du die Banane auseinander? Warum gehst du jetzt ins Wohnzimmer? Warum ist der Eiswürfel kalt? (Manchmal holt er sich einen aus dem Tiefkühlfach und wirft ihn in sein Wasser, fischt ihn, angerundet und glasig geworden bald wieder heraus, um ihn sich in den Mund zu stecken und dann in die Backe zu schieben.) Ja, warum ist alles so, wie es ist und warum tun wir, was wir tun? Wir geben Antwort, redlich, unredlich, ehrlich, fantasierend. Unser Sohn scheint zu glauben, wir wüssten alles. Nein, er testet nur, was wir alles nicht wissen. Nein, er übt bloß das Fragen. Nein, sein Fragen ist ihm notwendig wie jeder Atemzug. Und darin und dabei gibt es keine Mäßigung. Manchmal kommt uns das Fragen wie das Dasein selbst vor. Wir sind Fragende, ewig Fragende. Fragt unser Sohn im Außen, so haben wir (du, ich) längst zur Gewohnheit gefunden, im Inneren zu fragen. Ist unser Herz nicht in Wahrheit ein Fragezeichen? Und trägt unser Sohn es nicht auf der Zunge? Irgendwann sind wir zu heimlichen Menschen geworden, die sich bedenken, bevor sie fragen, wie wir jede Frage lieber aus einer Überlegung herauswachsen lassen und weniger aus der Spontaneität zu stellen gewohnt sind. Ist das Fragen unseres Kindes überhaupt verwandt mit unserem eigenen Fragen? Ist es nicht ganz anders, wenn man einfach fragt, wie es kommt? Nicht denkt, nicht sinniert, nicht innehält, nicht wartet? Wenn man die Frage sich selbst stellen lässt. So kommt uns unser Sohn vor. Er sieht etwas und zwischen dem Sehen dieses Etwas und dem Entstehen der Frage scheint keine Zeit vergangen zu sein. Oder ist doch eine Zeit vergangen, so diente diese Zeit nicht dem Überlegen, sondern allein dem weiteren Anschauen. Die Frage ist so eng verbunden mit dem Ding oder der Sache, die sie hervorkitzeln, dass wir glauben, dass eigentlich das Ding oder die Sache die Frage stellt und sich dabei des Kindermundes bedient. So spricht unser Kind aus dem Innersten des Dings oder der Sache heraus, als wäre die Frage ein Gedanke, den das Ding oder die Sache selbst gerade gefasst hätte. Nicht vorstellbar, dass Dinge und oder Sachen fraglos und unbefragt in der Welt sein könnten. Alles, ausnahmslos alles, lässt das Fragen entstehen, würde es das nicht tun, existierte es nicht. Warum liest du dieses Buch, Papa? Unser Sohn bringt das Buch (trägt es wie ein Tablett) aus dem Flur (wo es liegengeblieben ist) ins Wohnzimmer. Die Antwort fällt mir leicht, sie ist ehrlich, einfach, klar: Weil es mir ein guter Freund empfohlen hat. Kurzes Nachdenken, dann die Frage: Und warum liest du es? Soll ich meine Antwort wiederholen? Geht nicht, schon hat mich die erneute Frage infiziert. Warum lese ich dieses Buch, hundertdreißig Seiten lang bereits, und werde es auch zu Ende lesen? Es trägt den Titel: Das Buch vom Es. Der Verfasser Georg Groddeck beschreibt darin in fiktiven Briefen an eine Freundin, dass wir Menschen nicht von unserem Bewusstsein durchs Leben geführt und gelenkt werden, sondern vom Es, einer großen unbewussten Macht. Einer ebenso witzigen wie sonderbaren wie hemmungslosen Macht, die einigen Schrecken zu verbreiten in der Lage ist. Es ist sehr interessant, antworte ich unserem Sohn und betone das Es am Anfang mit einem in die Länge gedehnten E. Wie heißt das Buch? Ich antworte korrekt. Was ist Es? Fast hätte ich irgend so etwas geantwortet: Das, was du mehr als ich bist, dem du näher stehst als ich, das du viel besser verstehst als ich. Es: das ist bei Groddeck die Kraft, von der wir gelebt werden. Wir leben nicht selbst (wie wir denken und glauben und hoffen), sondern durch ein Drittes, das größer und weit mächtiger ist als wir es je sein könnten. Blicke ich auf meinen Sohn, dem ein Warum auf den Lippen klebt, das sich gleich lösen und zu mir eilen wird, so kommt mir vor, als würde ein Es vor mir stehen, als könnte ich ein Es entdecken, erblicken, deutlich sehen, und damit genau das sehen, was eben nicht und auf keinen Fall sichtbar ist in unserer treu in Sichtbares und Unsichtbares eingeteilten Welt. Unser Kind, ein Es (hier schillert der Meister durch, Babybuddha, der sich soweit zurückgezogen hat, hinter das Ich, durch all das kindliche Ichgeschrei in die Verborgenheit geraten; bist du auch dieser Ansicht, du siehst aus, als würdest du befürchten, solche Gedanken könnten dein Kind zum Verschwinden bringen? Nein? Du schüttelst den Kopf). Ein Es: wie wunderbar. Bei Groddeck heißt es: „Das Leben beginnt mit dem Kindsein und geht auf tausend Wegen durch das Mannesalter hin nach dem einen Ziel, wieder Kind zu werden, und nur der einzige Unterschied ist zwischen den Menschen, ob sie kindisch werden oder kindlich.“ Ich möchte glauben, dass wir (du, ich) uns zu einem Es zurückentwickeln, zu einer Kindlichkeit, die uns (unser Es) sichtbarer werden lässt, als wir es heute sind. Es könnte sich dann das Geheimnis der Warum-Frage offenbaren, die vielmehr als zum Ich frage  zum Es fragt zu gehören scheint und wenn wir das Es fragt als das eigentliche Fragen betrachten sollen, könnte in ihm der Schlüssel zur Erkenntnis der Dinge und Sachen liegen. Eine Art Euphorie ergreift mich (und ein wenig auch dich). Eine Stille, die das Gedachte unausgesprochen bewahren und behüten möchte. In diese Stille bohrt sich eine Frage. Eine Warum-Frage. Warum antwortest du nicht, Papa? fragt unser Sohn (und klatscht dabei in die Hände).

 

 

 

 

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Neinmacht.

 

Nein! Das stärkste Wort unserer Sprache, das am häufigsten genutzte, das wichtigste Wort! Diese Erkenntnis verdanken wir dir, unserem Sohn. Erst durch unseren Jungen ist das Nein wirklich in unser Bewusstsein getreten. Nicht, dass wir es nicht häufig benutzt hätten, zur Feindesabwehr, zum Ausdruck von Empörung und Erstaunen, um unsere Entschlossenheit und unseren Willen kundzutun – aber dennoch ist uns die Dimension dieses Wortes, wohl auch durch seinen gewohnheitsmäßigen Gebrauch, entgangen. Seine Dimension als Baustein der Existenz. Mag das Leben auch mit einem großen Ja beginnen, das Nein ist Erzieher und Lehrmeister und Ichschöpfer. Und wir (du, ich, auch ein paar Andere) sind die notwendigen Statisten, die dem kindlichen Nein erst seine Wucht ermöglichen. Es hat eine Zeitlang gedauert, bis uns deutlich wurde, dass das Nein unseres Sohnes nur vordergründig uns meint, in Wahrheit aber ein selbstbezügliches Werkzeug ist, ebenso raffiniert wie rücksichtslos. Tatsächlich sind wir oft in die Falle getappt und tappen immer noch hinein, zu glauben, dass das Nein unseres Kindes wirklich uns gelte, sogar, dass es gegen uns gerichtet sein könnte, womöglich sogar absichtsvoll. Natürlich sind wir ins Neinsagespiel (aber es ist kein Spiel) tief verwickelt, denn wenn unser Vorschlag, heute die rote Hose anzuziehen, mit größter Vehemenz und geradezu empört abgelehnt wird, mit einem so schneidenden nein!, das keine Wiederholung braucht, um unmißverständlicher zu tönen, können wir leicht auf den Gedanken kommen, wir würden eine Hauptrolle in diesem Interjektionszauberzirkus spielen und dem Irrtum verfallen, die Stoßrichtung des Neins würde zu uns zeigen, uns meinen, uns (dich, mich), uns als Personen. Ja, es ist ein Zauberzirkus, denn wir sind gemeint, aber nur als Pappfiguren, und das gefällt uns gar nicht, wollen doch auch wir vollwertige Schauspieler sein, wenn wir schon auf der Elternkinderbühne Tag für Tag (und manchmal nachts) unsere Auftritte haben. Wir sind sozusagen Pappfiguren mit Substanz und unsere größte Aufgabe scheint zu sein, nicht auf uns selbst hereinzufallen. Das Kind braucht uns, wir sind die Wand gegen die es seinen Neinball donnert, wir müssen echten Widerstand bieten, ohne uns von der Echtheit verführen zu lassen, das situative Nein unseres Sohnes (nein, nicht dahin, dorthin oder nein, keine Nudeln) nur auf eben diese Situation hin zu interpretieren. Das Nein schafft den Raum für das Gelingen einer guten Beziehung zu unserem Sohn. Es gräbt Schneisen durch den Wald und das Gestrüpp ewiger Verwicklung. Hätten wir nicht unseren Körper, würden wir unsere Einzigartigkeit glatt vergessen. Was uns nicht alles kümmert und besorgt, wozu wir eine Meinung haben und ein Urteil fällen. Das wenigste nur geht uns etwas an und das vielleicht auch nichts. Wie wohltuend dieses kindliche, unverkrampfte, freimütige Nein, ein kühles Lüftchen in der Wüstenhitze des Allesineinem und Einerinallem und Eineinallem (du, ich – wir sind auf unterschiedlichen Gebieten empfänglich für das menschliche Durcheinander, aber das ist ein anders Thema). Unser Kind kühlt uns, indem es uns jeden Tag mit Neins bombardiert, ohne den Verlust unserer Liebe zu fürchten. Auf so eine Idee kommt es nicht, wenn das Nein sein Ich bildhauert. Es ist furchtlos, ohne Angst, mutiger als mutig, verwegen und unnachgiebig: sein Nein spricht aus ihm, aus seiner Tiefe, die keine Überlegung kennt, die reiner Dienst am Leben ist. Das Nein verschafft unserem Kind einen Raum, seinen Raum, seinen eigenen Raum, in dem und durch den es zur Erscheinung drängt. Oh, ja, unser Kind erscheint uns! Diese Epiphanie verdankt sich dieser unnachgiebig wirkenden Neinkraft, die nun durchaus uns gilt, die wir mehr als jede andere Kraft benötigen, denn letztlich sind wir doch Ungläubige oder einfach schwer von Begriff. Auf, werde licht denn es kommt dein Licht / und die Herrlichkeit des Herrn geht leuchtend auf über dir heißt es im Buch des Propheten Jesaja – und tatsächlich geht uns ein Licht auf, wenn wir in unserem dauerneinsagenden Sohn den (fast schon alten) Meister entdecken, wiederentdecken, der uns in Staunen versetzt, indem er sich vor uns hinstellt (vielleicht im Neinsagen einen Schritt zurück tritt, um uns mehr Platz zum Schauen und Erkennen zu geben, der schlaue Kerl) und sich in all seiner Pracht offenbart. Kein Wunder, dass wir erschrecken. Dass wir erschrecken und – eine Folge des Erschreckens – das Nein unseres Kindes mißverstehen. Und wenn wir mißverstehen, beginnen wir zu denken und zu reimen, als würde uns die Reife fehlen diese tägliche Epiphanie zu ertragen, zu spüren, zu erleben. Dann wird das Nein zum Konflikt und die schöne Erscheinung zur inneren Leere. Aber jetzt, fragen wir uns, jetzt haben wir es verstanden? Haben wir, sagts du, haben wir, sage ich. Und wir stimmen ein: Das ist unser geliebter Sohn, an dem wir Gefallen gefunden habe. Nun geschieht das Wunder: das Nein (das von uns in seiner Wahrheit erkannte Nein) verwandelt sich. Aus dem Mund unseres Kindes tönt ein volles Ja (und sein Mund bleibt offen). Das ist unser Lohn.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

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Eng ist gut.

Eine Reise, in die Ferne, in die Weite, über den Ozean, im Dauergebrumm der Turbinen, als säßen wir (unser Kind, du, ich) im Innern einer schweren Hummel. Unter uns die teigige, in stillem Sinnen verbundene Wolkendecke, über uns Himmel und Licht, Bläue, ungeritzt, schartenlos, ein strahlender Spiegel, der es nicht nötig hat, ein Abbild zu geben von dem, was unter ihm liegt; oder fliegt. Vielleicht schrumpft die Weite draußen vor dem weißen Kunststoffoval des Fensters bei längerer Betrachtung, vielleicht ist sie in Wirklichkeit eine Illusion wie das Gefühl wir würden langsam wie ein Fußgänger unterwegs sein (aber was heißt in elftausend Kilometern Höhe schon Illusion?). Jedenfalls bleibt unser Blick nicht (deiner nicht, meiner nicht, der unseres Sohnes gleich gar nicht) dort draußen hängen und sucht bald wieder die Enge des kühlen Bauches, die drei Sitze, die schon bald unsere drei Sitze geworden sind, auf denen wir es uns, soweit es geht, bequem gemacht haben, auf denen wir jetzt zuhause sind, ein bißchen bekrümelt von der ersten gereichten Mahlzeit, einem Getränk mit kleinen Brezeln. Erstaunlich, wie sich das Kind einrichtet auf seinem Platz, wie es seine Armlehne waagrecht stellt, dann senkrecht, dann wieder waagrecht, wie es den Klapptisch (seinen Klapptisch) untersucht, wie es auf dem kleinen Monitor herumdrückt, ohne dass viel geschieht, wie es versucht seinen Kopfhörer aus der Plastiktüte zu drücken (diese Arbeit aber dann doch lieber uns überlässt), wie es sein strahlend weißes Kissen neben Sitz und Flugzeugwand stopft und die noch verpackte Decke gleich noch dazu: all dies Tun dient, sich hier heimisch zu fühlen, an diesem überschaubaren Ort, der für lange Stunden, jetzt schon ein ganz eigener Ort geworden ist, fliegende Heimat, eine von wenig Außenablenkung überschattete, liebenswerte Monade. Nähert sich das Bordpersonal mit Getränke- oder Speisewagen durch die schmale Gasse zwischen den Sitzreihen, ist es so, als würden diese hübschen Frauen mit den vollbepackten Wagen augenblicklich entstehen, wir sehen sie nicht kommen, wir bemerken sie erst, wenn sie schon da sind (so ist das mit der Schöpfung). Dann wird gelächelt, lächelnd die Frage gestellt, was es für uns sein dürfe (Hühnchen mit Reis und Gemüse oder das vegatarische Gericht, Nudeln mit Käsesoße), und wir lächeln auch und antworten ohne zu zögern und ohne uns zu bedenken. Bedenke dich; heißt es bei Herman Melville, denn ein Lächeln ist das klassische Ausdrucksmittel aller Doppeldeutigkeiten. Nein, hier oben ist sogar das Lächeln solcher Zweifelei entbunden, mag es noch so doppeldeutig sein, alles hier besitzt einen höheren Grad an Echtheit, weil alles so schön überschaubar ist in dieser seligen Höhe, die wir längst vergessen haben (und überhaupt, denken wir mit Seitenblick auf unser Kind, das gerade ein Puzzle mit einem Maulwurf legt, ist Doppeldeutigkeit doch eher etwas für Anfänger, nein, widerlegen wir uns gleich, für Fortgeschrittene, nein, für Zuweitfortgeschrittene!). Alle Passagiere, kommt uns vor, fallen in das gleiche kindartige Sicheinrichten an seinem Platz und genießen es (auch wenn sie sich hinterher über schmerzende Knie oder einen steifen Nacken beklagen werden, diesen Genuß sieht man ihnen an), auch wenn es nicht so hundertprozentig gelingt wie den kleinen Kindern. Dieses geschenkte, mühelose, nicht erworbene, jedem zugefallene Sein im hier und jetzt muss einer der Gründe sein, weshalb Menschen so zahlreich in Flugzeuge steigen (und es braucht nicht einmal ein Bewusstsein für dieses Erlebnis). Und unser Sohn ist sein hier und jetzt, hier auf seinem Ort, jetzt in dieser fliegenden Zeitlosigkeit. Es ist ihm unverlierbar (während sich bei uns bald wieder etwas in unserem Geist finden lässt, was uns aus dieser Idylle werfen wird). Angekommen an unserem Reiseziel, dieser riesigen Stadt, laut, bunt, hoch, pulsierend zeigt es sich noch deutlicher als im Flugzeug. Das Kind trägt sein hier und jetzt bei sich, in sich, da kann das Große, Weite, Schöne, Imposante, Überwältigende (uns Überwältigende) sich noch so laut oder anmutig bemerkbar machen, das Kind und sein Blick werden nicht von der Enge abweichen, das große Ganze (so unendlichmal größer als du und ich), das uns in eine Art freudige Depression stürzt, die in uns den Wunsch weckt noch mehr, am besten alles in dieser Stadt zu besichtigen, dieses große Ganze ist ihm gänzlich egal (vielleicht kennt es das große Ganze noch von einst, vielleicht ist es in die Welt getreten, um mal alles im Detail zu betrachten). Die nahen Dinge sind die wichtigen Dinge, die nahen Dinge erfüllen den Wunsch zu wissen und zu begreifen mehr als ausreichend. Natürlich, denn das Ferne ist eine Illusion. Zieht sie doch einmal in Gestalt eines himmelhohen Krans, mit dessen Hilfe ein neuer Wolkenkratzer entsteht, die Aufmerksamkeit auf sich, dann imitiert unser Kind bloß seine Eltern und deren schweifenden Blick, der oft das Nahe überspringt, weil er dahinter Besseres, Schöneres, Wahreres vermutet (oder ist unserem Sohn die Trennung in Nahes und Fernes gänzlich unbekannt, gibt es für ihn nur Nahes; was meinst du?). Nein, wirklich, diese Weltstadt ist klein und übersichtlich wie das hier und jetzt unseres Sohnes. Als wir acht Tage später nach dem Rückflug frühmorgens in der Wartehalle auf dem Umsteigeflughafen stehen und durch die großen Fensterscheiben unser Flugzeug, das gerade entladen wird, da draußen betrachten, fragt unser Kind nach kurzem Nachdenken, ob unser Flugzeug ein großes sei, ein ganz großes? Ja, erwidern wir, ohne rechte Überzeugung. Zum Heimflug steigen wir dann in die noch engere Enge eines vergleichsweise kleinen Flugzeugs und schon haben wir es uns gleich wieder gemütlich eingerichtet, unsere Schuhe ausgezogen, teilen einen Früchteriegel auf dem Klapptisch in sechs gleiche Teile (was uns die Sollbruchstellen erleichtern indem sie es uns vorschreiben), trinken unseren Orangensaft, legen ein neues Puzzle, spüren die große Müdigkeit uns ganz ganz nah und sind froh, wieder gut nach Hause zu kommen. (Goethe trug stets viel Kind in sich, was meinst du? Wir wenden uns, wie auch die Welt entzücke / Der Enge zu, die uns allein beglücke.)

 

 

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Warum gibt es euch?

Warum gibt es überhaupt Kinder? Sind sie doch die unwahrscheinlichsten Wesen, die man sich ausdenken kann. Sie sind eigentlich zu klein, sie sind zu wenig zu gebrauchen, sie stellen zuviele Fragen, die sie auch noch zu häufig wiederholen, sie geben schlecht Antwort, unternehmen verrückte Dinge, dann wollen sie wieder auf den Schoß und herumgetragen werden, sie stehen zu früh auf oder zu spät, sie sind maßlos, dauernd fällt ihnen etwas aus der Hand und niemals sind sie ruhig oder so ruhig, dass wir uns beunruhigen. Warum gibt es diese Wesen? Wesen sind sie ganz gewiß. Im Grimmschen Wörterbuch lesen wir vom Wesen: vom leben und weben, vom existieren, vom da sein, vom wirkenden dasein und auch vom verweilen. Es kommt uns vor, Kinder sind viel mehr Wesen als wir es sind; vielleicht sind wir Großen gar keine Wesen. Nicht mehr. Oh ja, die Kinder sind da, so ungeheuerlich anwesend und der Grad ihrer Anwesenheit entspricht ihrer Lebendigkeit und Wirksamkeit. Sie wirken überall, wo wir sie antreffen, aber vornehmlich wirken sie in uns. Unser Sohn wirkt in uns (in dir, in mir) und damit könnte die Eingangsfrage schon beantwortet sein: Kinder sind da, um in uns zu wirken. Ohne Kinder könnten wir nicht sein. Ohne Kinder könnte die Welt nicht sein. Kinder müssen nachwachsen, nachkommen, nicht damit sie die Gattung erhalten (das auch), sondern damit ihre Wirksamkeit niemals endet. Wir brauchen jemanden, der auf und in uns wirkt und das vielmehr, als die Kinder uns brauchen. Das Baby war zu groß für uns, seine Meisterschaft war überwältigend. Sie endete nicht einfach, sondern schlüpfte in die Rolle des umtriebigen, gelenkigen, munteren Kindes. Das Nichtsprechen des Babys war für uns oft wie ein täglicher, stündlicher, dauernder Besuch eines schweigsamen Orakels. Das Baby äußerte sich, gab uns Zeichen, Hinweise, Rätsel. Die Einfachheit seiner Sprache war viel schwieriger zu verstehen als es eine entwickelte, komplexe Sprache je sein könnte: ist uns doch das Einfache das Unvertrauteste, obwohl nur das Einfachste das Wesentliche hörbar machen kann. Das immerhin haben wir verstanden. Unser merkwürdiges Unverständnis dem Einfachen gegenüber, als würden wir es fürchten. Unsere genauso merkwürdige Furcht vor dem Wirken, das von außen in uns hineinschlüpft, ohne dass wir es abwehren könnten. Wir überschätzen unseren Einfluß, unser Wirken auf unser Kind, der, das zeigt sich jetzt nach den wenigen ersten Jahren, doch eher gering ist. Sind wir wie einer der Laboranten, in deren Forschungsarbeit sich laut E. M. Cioran weniger Weisheit finden lässt als im Grinsen eines Schwachsinnigen? Am Grinsen eines Schwachsinnigen wollen wir uns nicht messen lassen, aber betrachten wir unser Tätigsein und Tun, unsere Vorbildhaftigkeit und Erziehungskunst, müssen wir Cioran recht geben. Wir wissen wenig und wenig ist in den vergangenen zweieinhalb Jahrtausenden in diesem Bereich hinzugekommen. Bei Cioran heißt es: Hätte die Philosophie seit den Vorsokratikern auch keinerlei Fortschritt zu verzeichnen, es bestünde darum dennoch kein Grund zur Klage. Erschöpft inmitten all des Begriffsplunders, erkennen wir schließlich, daß unser Leben nach wie vor ein Hin und Her inmitten der Elemente bleibt, aus denen sie schon damals die Welt aufbauten, daß immer noch Erde, Wasser, Feuer und Luft uns bedingen …“ Das ist ein noch packenderer Gedanke, wenn man die Kinder mit ins Spiel bringt. Das Kind ist das fünfte Element, das den Glauben an den Fortschritt schon allein durch seine unbegreifliche Unveränderbarkeit widerlegt. Kinder sind Kinder, immer und zu allen Zeiten war das so und damit haben wir (immerhin einen) Grund für ihre Existenz gefunden. Es gibt sie, weil sie die Welt, unsere Welt in ihrem tatsächlichen Zustand bejahen (in dem Zustand ihres den vier Elementen Ausgesetztseins) und in dieser Bejahung in uns wirksam sind. Wären wir allein der Eitelkeit unseres wuchernden Verstandes ausgeliefert, würden wir verzweifeln. Wir brauchen eine Kraft, die uns denken lässt, die uns alles denken lässt, die uns auf unserem eitlen, sehnsüchtigen, süchtigen Fortschrittsweg, der doch nur ins Paradies führen soll, auf seinem Schoß sitzen lässt. (Unser Kind wirkt im Raum und in der Zeit. Bei einem Besuch im Haus seiner Großmutter stoppt es die Zeit. Und der Raum wechselt sein Element. Aus Luft wird Wasser. Unser Kind schwimmt im Haus seiner Großmutter. Einmal steige ich hinter ihm die Treppe hinauf in den ersten Stock. Ich wundere mich, wie sich unser kleiner Sohn die großen Stufen der steilen Treppe hinaufbewegt. Sein Gehen zu beobachten und ihm in diesem Gehen zu folgen ist reizend, geistvoll, wunderbar. Es ist ein Gehen und Steigen und nichts als Gehen und Steigen. Gehen und Steigen durch die Erwachsenendimension und in ihr, einer Dimension, in der unser Sohn mit unglaublicher Klarheit vorankommt, als wäre das Gehen und Steigen an sich der Sinn des Lebens. Sinn kommt vom althochdeutschen Verb sinnan in der ursprünglichen Bedeutung einer Ortsbewegung. Auf dem Weg sein, unterwegs sein: das ist das Augenfälligste an unserem Kind, dass es immer in Bewegung ist, selbst wenn es zu ruhen scheint. Und so zeigt mir sein Gehen und Steigen – und mein Folgen – warum es unser Kind, all diese vielen Kinder gibt: damit wir, alles, die Welt nicht aufhören sich zu bewegen).

 

 

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Der erwachende Geist ist der verschwindende Geist

 

Die Kinderhand, die die Erwachsenenhand hält, greift fest zu, immer fester, deutlicher, entschiedener (wieviel anders als die langsam vergangene Babyhand, Meisterhand. Der Griff des Babys war weich, sanft, wie nebenbei, ungezielt, konnte aber auch so hart zupacken wie ein Gott, der niemandem neben sich etwas zum Anfassen übrig lässt). Ein Kind ist unser Kind geworden, ein kleines Kind, das manchmal ganz groß erscheint, und dessen Hände (wie auch seine Füße) auch sprechen, wenn sein Mund schweigt. Die Hand beschäftigt sich gern und wird gern beschäftigt. Sie ist nicht der Gehilfe des Auges (das auch), denn sie scheint selbst zu sehen, zu erahnen, zu sondieren, was sie umgibt und in ihrer Nähe auftaucht. Manchmal ist sie die Hand des Schöpfergottes, der vergessen hat, wie das, was er in die Welt gebracht hat, funktioniert. Durchaus mit Zorn und Gewalt nähert sie sich den Dingen (und auch den Menschen), um sie auf ihre Stabilität, ihre Ausdauer und ihren Widerstand hin zu prüfen. Wann brichst du Ding, wie brichst du, wodurch? Untersuchen heißt (nicht notgedrungen) zerstören. Zu verstehen, wozu ein Ding nützt und wie es das anstellt, ist gut, besser ist, ihm seine Endlichkeit klarzumachen. Zurück bleibt das funktionsunfähige, zerstörte, zertrümmerte Ding, wie ein verblüffter Mensch, der gerade erfahren hat, dass alles, was er über eine bestimmte Sache gedacht hat, falsch ist. Dem Ding sein Wesen zu rauben, heißt aber nicht, es zum Müll zu machen. Gerade die zerstörten Dinge entpuppen sich als wundersame Gegenstände, die dem Zwang zu ihrer Funktion entledigt, sich endlich einmal ausleben und endlich einmal in unvertrauten Funktionen versuchen dürfen. Dank an die wilde, rege, kräftige Kinderhand! Am Abend, kurz vor dem Zähneputzen, betrachtet unser Sohn seine Hand in dem länglichen Klappspiegel, dessen Herkunft sich weder du noch ich erkären kann und auch nicht, warum er im Badezimmer herumliegt (Dinge wandern, es ist unbekannt, wie sie das machen). Nach einiger Zeit, in der unser Sohn mit verschiedenen Abständen das Sichentfernen und Näherkommen (oder etwas ganz anderes) seiner gespiegelten Hand beobachtet hat, legt er die Hand schließlich auf den Spiegel, dreht den Spiegel um und scheint zu schauen, ob die Hand auch auf der anderen Seite des Spiegels auftaucht. Kurz glaube ich seinem Gesicht eine Verwunderung und leichte Enttäuschung abzulesen, dass etwas nicht eintritt, das früher doch eingetreten ist, oder von dem er vermutet, es sei früher ganz bestimmt eingetreten. Früher: als die Dinge noch durchlässig waren, früher: als die Augen noch durch alle Dinge hindurchsehen konnten. Doch der Geist ist wach, zu wach schon, als dass die ersten und größten Wunder noch länger bleiben könnten. Der Hand unseres Kindes und damit ihm selbst wird klar, ein Spiegel ist kein Loch, keine Öffnung, hat keine Tiefe, auch wenn es so scheint. Jetzt ist der Spiegel ein Rätsel, die spiegellose Zeit ist vorüber, die Gleichgültigkeit dem Spiegel gegenüber verschwunden. Der Spiegel hat die Macht übernommen, ab jetzt wird er das Bewusstsein immer wieder und immer wieder auf die gleiche dominante Weise beschäftigen. (Im auf zwei Seiten verspiegelten Aufzug in der schönen Stadt, auf den Mönchsberg hinauf, treibt es der Spiegel besonders toll. Wir drei werden gespiegelt gespiegelt gespiegelt. Das ist witzig, aber die undeutliche, leicht gebogene Unendlichkeit der Spiegelung macht den Witz unheimlich und unangenehm und unser Sohn hat wenig Lust, diesem Spiegelspiel länger als nötig zuzusehen. Raus aus der doppelt verspiegelten Aufzugswelt!) Der Spiegel, oh ja! Wir tragen ihn in uns. Beide Hände hebt unser Kind kurz in die Höhe und stellt sie sich gegenüber (wie Spiegelbilder), aber irgendetwas lässt ihn einen Gedanken (falls er ihn wirklich schon gefasst hat) schnell wieder abbrechen. Ein Gedanke zu groß für seinen Geist, man könnte aber auch sagen, ein Gedanke zu klein für seinen noch großen Geist: der Spiegel ist durchaus ein Repräsentant der Enge, indem er den Ball, das Bild (wenigstens nicht das Wort), das man ihm zuwirft, gleich wieder zurückwirft. Vielleicht ein Grund, weshalb unser Sohn so gerne und unter sich steigernder Wucht mit der Hand auf den Spiegel im Flur schlägt (was natürlich verboten ist): Der Spiegel ist ein blödes Ding, die Hand mag keine blöden Dinger. Ebenso ist der Spiegel ein Repräsentant der Ambivalenz und fordert immerzu auf in die Falle der eigenen Eitelkeit zu tapsen – ein weiterer Grund auf ihn einzuschlagen (Eitelkeit liegt unserem Sohn noch fern, seine Freude am Schönen ist ungetrübt und widersteht der Überprüfung und Vorhaltung in einem blöden Glas). Saul Bellow schreibt: Der Tod ist die dunkle Schicht, die ein Spiegel braucht, damit wir etwas sehen. Den Tod aber wie wir ihn kennen (oder zu kennen glauben), lehnt unser Kind ab. Was und wem das Baby nahestand, ist in weite Ferne gerückt. Der Tod gehört dazu. Redet unser Kind von ihm, so ist es ein unbeschwerter Versuch, wie es ihn mit zahllosen anderen Dingen unternimmt. Der Tod ist nichts Besonderes. Einer unter vielen, eines unter vielen. Auch insofern ist der Spiegel (Bellows Bemerkung im Ohr) eine Zumutung, aufdringlich und überwältigend. Armer verschwindender Anfängergeist, den der erwachende Geist verdrängt. Ich habe mich heute schick angezogen, sagt unser Sohn, aber statt eines bestätigenden Blicks in den Spiegel wendet er sich damit einem anderen Kindergartenkind zu, und dann zuhause auch uns. Das andere Kind, wir sind ebenfalls Spiegel, aber wir verbergen es sehr gut und noch besser die dunkle Schicht des Todes. Ja, du hast dich schick angezogen, antworten wir und merken wie die nichtambivalente Kinderhand uns entschlossen ins Kinderzimmer zieht, um uns zum spielen zu verführen. Noch ist nichts entschieden, obwohl alles entschieden ist. Dem Spiegel entkommt kein Wesen und die Frage wird sein, wie stark wird die Erinnerung an den verschwindenden Geist möglich sein, ohne den erwachenden Geist zu sehr einzuschränken. Im Innern ist bei allem Geschöpf die gleiche warme Finsternis, heißt es bei Hans Henny Jahnn. Im Dunkeln kann sich nichts spiegeln. Das Dunkel ist groß und warm wie eine Kinderseele. Unendlich und geborgen. So sehen wir das. Und uns. In unserem Kind.

 

 

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Wir Tautologen!

 

Ich möchte keine Hose anziehen! Warum nicht? Weil ich keine Hose anziehen möchte. Kann der eigene Wille eindeutiger, klarer, heller, weiser begründet werden? Die Wahrheit ist unverschämt, sie nimmt keine Rücksicht auf unsere Gewohnheiten. Wo wir eine passable Erklärung erwarten (ich noch mehr als du), wird uns mit einem großen Rätsel erwidert. Soll die Wahrheit sich ruhig rätselhaft geben, aber könnte sie uns nicht ein wenig entgegenkommen? Ich möchte etwas nicht, weil ich es nicht möchte! Das ist die totale Erklärung, vollständig und so gewaltig groß, dass sie uns nicht einmal einschüchtert (das auch), sondern heillos und unheilbar überfordert. Das, wonach wir uns sehnen (zu sehnen glauben), unhinterfragbare Erkenntnis, ist das Letzte, das wir ertragen könnten. Und es entgeht uns nicht, dass wir so eine einfache Antwort unseres Kindes auch niemals zu begreifen in der Lage sein werden. Die Tautologie ist die Schnur, die unseren Verstand auf ewig zuschnürt. (Diesen Knoten werden wir nicht lösen, weil wir ihn nicht lösen werden.) Haben wir solch eine Antwort empfangen (so kommt sie uns vor: als ein Empfängnis, dessen Absender mindestens ein enger Verwandter unseres meisterhaften Babys sein muss), stehen wir stumm und reglos, selbst ein Fels, der von einem Felsen in Felsensprache kurz und knapp etwas erfahren hat, das keinen Widerhall in ihm, dem durchaus aufmerksamen Hörer, weder erzeugt, noch erzeugen kann. Einmal gehört ist wie ins Ohr gemeißelt. Wir könnten die Antwort unseres Kindes auch als Spaß herunterspielen, doch ist es zu offensichtlich, dass ihm ernst mit ihr ist. Vielleicht ist unser Nachfragen dumm: wieso willst du keine Hose anziehen? Tatsächlich, wenn wir so fragen, was schwebt uns als mögliche Antwort vor? Glauben wir unser Kind würde uns seine Vorlieben und Abneigungen verraten, so einsichtig begründet, dass wir uns zufrieden zurücklehnen könnten? Doch welche Vorlieben und Abneigungen? Scheint die tautologische Antwort nicht nahezulegen, jeder Vorliebe und jeder Abneigung läge ein spontanter Entschluss zugrunde, der das Gerede von Vorlieben und Abneigungen ad absurdum führt oder mehr noch ins Reich der Fabel verweist? Kaum zu glauben, unser Kind möchte keine Hose anziehen und es möchte für diese Entscheidung keine Begründung liefern, weil es dafür keine Begründung gibt! (Nebenbei fragen wir uns: was nützen Begründungen eigentlich, und wem, und wozu?) So kommt uns jetzt aufeinmal das tautologische Beisammensein, das unbegründet begründete Beisammensein und Miteinanderreden vor wie die glücklichste Art des Beisammenseins, völlig unbelastet, nicht einmal frei von Irgendetwas, sondern ohne Irgendetwas und wir könnten uns unsere Frage Warum nicht? getrost sparen. Aber auch wieder nicht, weil wir uns dann des Segens der tautologischen Antwort berauben würden. Da flattert uns ein Brief ins Haus, ein Brief an uns sehr geehrte Eltern. Die Universität, Departement Psychologie, Baby- und Kinderstudien lädt uns ein, an einer Kinderstudie mit unserem Kind teilzunehmen, die sich der Erforschung der frühen Entwicklung des wissenschaftlichen Denkens widmet. Wie denken Kinder? Was wissen sie über die Welt? Wie erforschen Kinder die Welt? Wie erklären sich Kinder Ereignisse? Sicher haben Sie sich schon irgendwann einmal derartige Fragen gestellt … Das wissenschaftliche Denken unseres Kindes hat uns bisher nicht interessiert. Auch die Meilensteine der Entwicklung des Denkens im Vorschulalter waren noch kein Gegenstand unserer Bemühungen unser Kind zu verstehen. Wir scheuen uns nicht zuzugeben, dass wir im Sinn dieser wissenschaftlichen Studie Banausen sind. Banausen im wörtlichen Sinn: Wir sind die am Kinderofen arbeitenden Eltern, die sich von seiner Wärmestrahlung belehren und inspirieren lassen. Nicht dass wir es schlimm fänden, unserem Kind wissenschaftliches Denken zu unterstellen, aber es scheint uns für unsere Betrachtungen unnötig und entbehrlich zu sein. Viel größer finden wir den Reiz, der Unwissenschaftlichkeit unseres Kindes zu folgen, diesem geheimnisreichen Denken, das uns in jeder seiner Äußerungen verblüfft und uns irgendwie anregt, es zu unterlassen diese Verblüffung auflösen zu wollen. Die angenommene Wissenschaftlichkeit des Kleinkinddenkens kommt uns vor wie ein unnötiger und unsinniger Rückschluß vom Erwachsenen aus, der eher dem allgemeinen Wunsch nach Verschüttung dient als dem nach Aufklärung, Verständnis, Wissen. Nein, unser Kind ist kein kleiner Wissenschaftler (die kleinen Wissenschaftler lassen sich, glauben wir, nur unter den großen Wissenschaftlern finden). Unser Kind hat natürlich nichts gegen Kausalität im Allgemeinen und schon gar nicht im Besonderen einzuwenden, aber es ist noch lange nicht so korrumpiert von ihr, dass es an die eingerosteten Verhältnisse zwischen Ursachen und Wirkungen glauben würde. Gerade das ist es, was uns fasziniert: dass Denken flüssig sein kann. Unsere private Universität und ihr Departement Psychologie würde Eltern einladen zur Untersuchung des flüssigen Denkens und zum Beispiel der Frage (oder nur der Anregung zur Beobachtung) wie sich Flüssiges in Festes verwandelt und damit dem Leben womöglich auf Dauer einen komplett neuen Anstrich (innen wie außen) verpasst, der nicht selten ein eigenartiges Leiden erzeugt, ähnlich dem des an Land gespülten Fisches. Also willst du jetzt eine Hose anziehen? Soll ich eine Hose anziehen? Ja! Warum? Warum soll ich eine Hose anziehen? Von der Tautologie zur Gegenfrage (wir müssen gut zuhören, ermahnen wir uns, die Tautologie und die Gegenfrage sind auf eine vertrackte Weise verwandt miteinander). Die Gegenfrage ist womöglich auch eine Falle, am besten antworten wir auf Warum soll ich eine Hose anziehen? so: Weil du eine Hose anziehen sollst. Diese Antwort erzeugt in uns einen – wir können es nicht anders ausdrücken – nüchternen Rausch. Den tautologischen Rausch, den Rausch der Ewigkeit, einen ziselierten Tanz, mit dem wir uns kunstvoll in den Untergrund, der uns trägt, immerfort einschreiben, nicht nur heute, nicht nur gestern, nicht nur morgen. Ja, die tautologische Antwort unseres Kindes macht uns zu Tänzern, und plötzlich bemerken wir: Unser Sohn hat eine Hose angezogen!

 

 

 

 

 

Das vierte Jahr

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Mit den Anderen

Was sieht unser Kind in den anderen Kindern? Nicht das, was wir (du, ich) in den Anderen sehen. Sehen können. Unser Blick weicht in die Gedanken aus. Wir überlegen: unser Kind braucht die anderen Kinder, die Kinder brauchen einander, um zu lernen, zu spielen, zur Anregung, zur Erbauung. Und komplizierter: fürs Gemeinschaftsgefühl. Mit dem Größerwerden nimmt die Vereinzelung zu, die Gemeinschaft fängt den Einzelnen auf, macht aus seinem Schmerz des Fürsichseins die Freude des Miteinanderseins. Denken wir zurück an unser Baby, an sein umfassendes Babysein, das sich der Gemeinschaft mit anderen Babys gegenüber vollkommen gleichgültig gab, so kommt uns diese Verwandlung zum Interesse, zur Neugier und Gier zu und nach anderen Kindern fast vor wie ein Austausch des Wesens unseres Kindes. Nein, nicht  seines eigenen Wesens, vielmehr wie ein grundsätzlicher Austausch, wie eine Verwandlung, eine Metamorphose, deren Ergebnis kaum eine Erinnerung an das Vorangegangene übriglässt. Aber: sowenig das Baby uns ähnelt und sowenig das Kind dem Baby ähnelt, sowenig ähnelt das Kind nun uns. Uns, das heißt, unserer Gemeinschaft mit den Anderen, unserer Erwachsenengemeinschaft, die wir nicht müde werden auf alle Formen der Gemeinschaft zu übertragen. Was wir (in Gemeinschaft) erleben, scheint uns wahres Erleben zu sein. In langer Entwicklung unserer Person erreichtes Erleben, spezifisch genug, allgemein genug, dass es uns doch den Blick unseres Kindes auf die anderen Kinder wenigstens leidlich verständlich machen könnte. Aber ehrlicherweise stoßen wir auf eine Vagheit in unseren Betrachtungen und Beobachtungen der Gemeinschaftsanwandlungen unseres Kindes, die uns befremdet (unser Kind sollten wir doch verstehen) und neugierig macht (wir verstehen unser Kind nicht). Vielleicht, überlegen wir, ist es so wie wenn wir träumen von bekannten und unbekannten Menschen, von uns selbst, wenn wir ganz intensiv aufgehen in Anderen und doch nichts von ihnen begreifen, als wären wir ein mit Text bedrucktes Blatt Papier, das dicht auf einem anderen mit Text bedrucktem Blatt Papier aufliegt, dabei das andere Blatt Papier spürt wie sich selbst, aber nichts von dem Text des anderen Papiers in sich überfließen bemerkt, keinen Sinn, schon gar keinen gemeinsamen. Übertreiben wir nicht ein bißchen (ich mehr, du weniger)? Dort drüben sitzt unser Kind auf der großen silbernen Kugel, die bis zur Hälfte aus dem Sand ragt (wahrscheinlich ist die im Sand verborgen Hälfte gar nicht ganz vorhanden, aber der Eindruck einer ganzen Kugel ist nicht wegzudenken). Viele Kinder wollen hinauf auf die Kugel, manchen gelingt es mit großem Anlauf quer über den Spielplatz, am besten noch über die Wiese, damit die bloßen Füßen ein bißchen Feuchtigkeit aufsammeln, die sie weniger an der glatten Kugelwand abrutschen lässt. Nur den wenigsten und den größeren gelingt es. Die meisten Kinder lassen sich von den Eltern die Kugelwand hinaufschieben, vorwärts oder rückwärts, ganz hinauf reichen die Elternhände nicht; oben, wo es scheint, als wäre dort die Kugel flacher, steht erstaunlich viel Platz zur Verfügung. Alle Kinder setzen sich so hin, dass sie von der Kugel wegblicken können, hinaus in die baumumstandene Spielplatzwelt der Klettergerüste, mit Fußabdrücken übersäten Sandkästen und wie Masten herumstehenden Mamas und Papas. Wirklich, sie blicken weit hinaus, weit darüber hinaus und oft werden die Kleineren wie unser Junge beim Blicken ganz still. Niemand hebt und kippt den Kopf, um in den Himmel zu schauen. Eng sitzen sie auf ihrer Kugel, natürlich eng, im Körperkontakt, der kein Kontakt ist: er ist eine Zufälligkeit, die nicht bemerkt wird. Der silberne Kugelrücken ist bedeckt mit Kindern, und noch eines und noch eines findet einen Ort, weniger mit, als in den anderen. Die höchste Mitte des Kugelrückens bleib leer. Gleichsam leer, denn auch dort sitzt manchmal ein Kind, dann rückt die leere Mitte ein Stückchen kugelabwärts. So verschiebt sich die Mitter der Rücken an Rücken sitzenden Kinderschar oft unmerklich und offenbart ihre kindische Wahrheit: es gibt sie gar nicht, die Mitte. Ich oder du, wir elterlichen Betrachter werden durchsichtig für unser Kind. Wer vom hohen Kugelrücken in die Weite blickt, kann, senkt er den Blick, die Weite in ihm bewahrend, durch seine Eltern hindurchsehen. Die Kinderwelt und die Erwachsenenwelt durchdringen sich eben nicht. Die Kugel Erde, auf der wir (du, ich) stehen, ist eine ganz andere Kugel als die, auf der unser Kind hockt. Mit den anderen Kindern zusammen. Die Anderen sind wichtig. Übung in Gemeinschaft, ohne allzuviel Gemeinschaftliches zu haben. Jetzt gerade, das Sitzen dort oben. Aber es kann schnell wechseln. Das Gemeinschaftliche kann wechseln und nur im Wechsel findet es zu seiner Substanz. Die Kinder sind vertraut mit dieser Substanz, die sie auf keine Fall festzuhalten brauchen. Vielleicht ist es diese Substanz, die in uns manchmal ein Entzücken hervorruft, wenn wir den Kindern zusehen bei ihrem gemeinsamen Spiel, das niemanden weniger als Mitspieler gebrauchen könnte als uns. Wir, denken wir, spielen dieses Spiel nicht mehr, wir spielen überhaupt nicht mehr, wenn wir spielen, dann tun wir nur als ob. Jetzt will unser Kind herunterrutschen von der Kugel. Da es nach unten hin steil wird, sollen wir der Auffänger und die Auffängerin sein. Das können wir gut. Und dann, kaum unten angekommen, noch einmal! (der wichtigeste Schlachtruf aller Kinder). Das Kind auf die Kugel schieben und es wieder auffangen. So geschieht es ein paar Mal. Dann gehen wir. Ohne Gruß. Wir gehen und grüßen nicht einen der Anderen. Plötzlich, höchstens für einen Lidschlag, verstehen wir den Sinn der Grußlosigkeit.

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Kind und Ding

Woher kommen die neuen Dinge? Kommen sie irgendwo her? Sie kommen irgendwo her, ja, und dann sind sie plötzlich da. Aber zwischen ihrem Herkommen und ihrem Dasein ist gar keine Zeit vergangen! Dinge schenken sich selbst. Wir denken, wir sind es, die Dinge schenken. Wir sind in einem Auto unterwegs. Du, ich, unser Kind. Eine lange Reise in einem großen Ding. Es ist nicht unser Ding, aber schon nach wenigen Stunden Fahrt fühlt es sich an wie unser Ding. Das ist ein bedeutender Unterschied: wir wissen, dass es nicht unser Auto, unser Ding ist, doch wir fühlen das Gegenteil, es ist unser Auto, unser Ding (und unser Gefühl ist nicht dümmer als unser Wissen). Unser Kind hat das Auto viel schneller in Besitz genommen als wir. Schon im Moment seines Erblickens, als ich es vom Autoverleih geholt und in unsere Straße abgestellt hatte, war es, nach kurzer, sich gleichsam selbstbestätigender Nachfrage, zu unserem Auto geworden (und die eigentlichen Besitzverhältnisse und die der Vergangenheit waren ausgelöscht). Bei uns dauert es, bis wir vergessen, dass ein Ding uns nicht gehört, doch der stete Gebrauch unterstützt uns dabei kräftig. Unser Kind hat eine CD mit Kinderliedern dabei und ein Heft dazu mit Bildern und den Texten zu den Liedern. Es ist seine CD und sein Heft, in dem es beim Hören der CD ordentlich blättert, um jeweils die richtige Seite des Heftes aufgeschlagen zu haben zum passenden Lied. Wir haben das auf den ersten Stunden unserer Fahrt geübt. Unser Kind hat gefragt: und welches Lied kommt jetzt? Und wir haben auf die richtige Seite und das entsprechende Bild gedeutet. Jetzt kennt es die Reihenfolge und kündigt das nächste Lied schon beim Hören des Vorhergehenden an. Diese CD ist sein Ding. Kaum hatte es sie in die Hand genommen, schon war es sein Ding. Unser Hinweis, die CD sei ein Geschenk von Opa, hat es zur Kenntnis genommen, aber nicht so, als würde dieser Hinweis etwas über die Herkunft des Dings aussagen. Oder doch: ja, diese CD ist von Opa. Unser Kind wiederholt: die CD vom Opa. Da gibt es schon eine Verbindung, aber eher ist „Opa“ ein Attribut wie das Hellblau von CD und CD-Hülle. „Opa“ sagt etwas aus über das Ding, die CD, doch seine, ihre Herkunft klärt sie nicht. Auf unserer langen Reise folgen wir alle (du, ich, unser Junge) der strengen Reihenfolge der Lieder auf dieser CD, der CD unseres Kindes. Diese Ordnung ist wichtig, als wäre sie das, was das Ding, die CD, im Inneren zusammenhält. Allerdings lässt sich die Ordung am besten beim vierten Lied beginnen, dem Lieblingslied unseres Kindes. Machen wir eine Kaffee- und Kindercappuccinopause, müssen wir die CD neu mit Lied Nummer vier starten: Jimba, Jimba. (Jimba, jimba, jimba papaluschka. Jimba, jimba, jimba papagei. La la la la la la la, jimba papaluschka, la la la la lal la la, jimba papagei. Hey! – singen wir mit, unser Kind singt nicht, oder nur sehr zurückhaltend, singen ist schwer.) Bald ist das Ding, die CD so in unserer Welt, als wäre es, sie schon immer mit und bei uns gewesen. So sind die Dinge: schnell familiär. Das heißt, es besteht die Sicherheit, dass sie nicht wieder verschwinden werden. Dass sie nicht verschwunden sind, wenn wir ins Auto zurückkehren nach einem Tag am Strand oder einem Ausflug auf die Burg auf dem Berg. Es sind ja unsere Dinge, wo wollten sie auch hingehen! Unser Kind ist sich weit mehr als sicher: die Dinge, unsere Dinge, seine Dinge können nicht verschwinden, genausowenig wie seine Eltern. Sollte ein Ding einmal verschwunden sein, so versteckt es sich bloß. Oder es hat sich verirrt. Sind die Dinge da, sind sie gleichsam ewig: so scheint es uns unser Kind zu lehren. Dem Gedanken an die Vergänglichkeit der Dinge gibt es keinen Raum. Seine Dinge altern auch nicht. Der Riss im Deckblatt des Booklets zur CD ist kein Zeichen eines Verfalls. Auch dieser Riss ist ewig. (Die über den Augenblick hinausgedehnte Ewigkeit lehnt unser Kind ab. Es hat berechtigte Gründe dafür, verrät uns aber keinen: das wäre eine Lehre für Fortgeschrittene.) Woher kommen die Dinge? Die neuen Dinge? Dinge, tauchen sie auf, sind immer neu. Alte Dinge gibt es nicht. Alt und neu, davon reden wir (du, ich), und manchmal plappert unser Kind es nach (wie so oft: ist das Nachplappern unseres Kindes nicht vielmehr ein mildes Sichlustigmachen über seine Eltern als fleißig übender Spracherwerb?). Eine neue CD auf der Heimfahrt (die Reise ist fast vorüber, die Schwimmflügel wieder ohne Luft, in allen Schuhen und Kleidern verstecken sich Sandkörner, wir drei sind, jeder in seinem eigenen Ton, gut gebräunt), eine anderen CD, eine neue CD, zur Abwechslung etwas mit einem kleinen Tier und seinen Tiereltern. Plötzlich holst du sie hervor. Für einen Moment scheint sie im engen Raum unter dem matten, düsteren Autodachhimmel zu schweben, leicht gehalten von deiner Hand, als wäre die neue CD, das neue Ding gerade eben in diesem Raum entstanden. Unser Kind greift schnell nach der neuen CD. Meine CD, ruft es, halb fragend, halb die Antwort gebend. Die Schnelligkeit seiner Inbesitznahme überrascht uns wieder. Seine Aufmerksamkeit ist so spürbar hoch (oder weit oder tief oder frei), dass ihm durch sie etwas bewusst (ja, bewusst) zu sein scheint, das zu bemerken uns große Mühe bereitet. Darin ist es dem Philosphen, der sich so sehr um die Dinge bemüht hat, so nah und so weit voraus. Gerade im Aufmerken auf etwas, das in uns wach wird, ist ein Sichfreigeben für die Dinge, damit sie sich zeigen können, wie sie sind, heißt es in einer Heidegger-Vorlesung im Abschnitt Wahrheit und Sein. Das ist vielleicht der heimliche Ursprung der Dinge: die Wachheit in uns (eine Wachheit, die wir kaum zu ahnen in der Lage sind, sind wir doch viel zu schläfrig, als dass wir uns die Herkunft der Dinge anders erklären könnten, als dass sie ein Produkt irgendeines technischen Prozesses, einer Fabrikation sein müssen). Unser Kind begreift das neue Ding sofort, der Blick für das Wesen des Dings ist ihm unverstellt und natürlich unausdrückbar (uns auch, aber wir versuchen es trotzdem immer wieder). Das ist eben das Schlaue am Ding: dass es ganz und gar da ist und dennoch sein Wesen verbirgt. Und so tut, als wäre nichts dabei, als spielte das keine Rolle. Unser Kind aber vermag das Ding nicht zu täuschen. Schon wie es nach der CD greift, zeigt, dass es das Ding ganz erfasst. Die Wachheit unseres Kindes ist so hoch, dass es sich sogar erlauben kann mit der CD-Hülle in der Hand einzuschlafen (während das kleine Tier im Hörspiel mit seinen Tiereltern eine Reise zur Großmutter unternimmt), ohne dass sein Schlaf etwas an seiner grundsätzlichen Offenheit für die Dinge ändern würde. Die Dinge und unser Kind: es würde uns nicht wundern, wenn sie gemeinsam träumten.

 

Child and Thing

Where do new things come from? Do they come from somewhere? They do come from somewhere, and then they’re suddenly here. But no time has passed between their coming from somewhere and their being here! Things give themselves. We think it’s we who are the givers of things. We’re traveling in a car. You, I. our child. A long trip in a big thing. It’s not our thing, but after a few hours it feels like our thing. This is a significant difference: we know it’s not our car, our thing, but we feel the opposite, it’s our car, our thing (and our feeling is not more stupid than our knowledge). Our child has taken possession of the car much soner than we have. Already at the moment of seeing it, after I had picked it up at the car rental and parked on our street and after a single,virtually self-affirming question, it has become our car (and its actual ownership status, now and in the past, is extinguished). For us, it takes a while before we forget that a thing does not belong to us, but constant use is a vigorous aid toward that end. Our child has taken along a CD with children’s songs and a booklet with pictures and the lyrics of the songs. It’s his CD and his booklet, and he turns its pages properly as he listens, so as to always have the right page before, the one matching the song. We practiced this during the first hours of our drive. Our child asked: and which song comes now? And we pointed to the right page and the corresponding picture. Now he knows the sequence and announces the next song even as he is hearing the previous one. This CD is his thing. As soon as he held it in his hand it was his thing. He took in our statement that this was a present from Grandpa, but not as if that information meant anything with respect to the thing’s provenance. Or rather, he did hear it that way: yes, this CD is from Grandpa. Our child repeats: the CD from Grandpa. There certainly is a connection, but it’s more as if “Grandpa” were an attribute like the color blue on the CD and the CD cover. “Grandpa” says something about the thing, the CD, but it doesn’t say anything about where it comes from. On our long trip we all (you, I, our boy) follow the strict sequence of the songs on the CD, our child’s CD. This sequence is important, as if it were what holds the thing, the CD, together.  To be sure, it’s best to begin that sequence with the fourth song, our child’s favorite. When we stop for a coffee and children’s capuccino break, we have to restart the CD with song number four: Jimba, jimba. (Jimba, jimba, jimba papalushka. Jimba, jimba, jimba papagei. La la la la la la la, jimba papalushka, la la la la la la la, jimba papagei. Hey! – we sing along, our child doesn’t sing, or only very reticently, singing is hard.) Soon the thing, the CD, is so thoroughly in our world as if it had always been with us. This is how things are: they become familair quickly. That is, there’s a certainty that they won’t diappear again. That they won’t be gone when we return to the car after a day at the beach or an excursion to the castle on the mountain. They’re our things, after all, where would they go! Our child is more than sure about this: things, our things, his things can’t disappear, any more than his parents can disappear. If a thing should ever disappear, it’s just hiding. Or it lost its way. Once things are there, they’re eternal: that is what our child seems to be teaching us. He does not entertain the idea that things are transient. His things don’t age either. The tear in the cover of the CD’s booklet is not a sign of deterioration. This tear too is eternal. (Our child rejects the notion of an eternity that extends beyond the moment. He has legitimate reasons for this, but won’t let us know what they are: that would be a teaching for the higher grades.) Where do things come from? The new things? Things, once they show up, are always new. There are no old things. Old and new, that’s something we talk about  (you, I), and sometimes our child mimics what we say (it happens a lot: isn’t our child’s parroting of our speech a mild mockery of his parents rather than an assiduous exercise in acquiring language?). A new CD on the way home (the trip is almost over, the water wings are deflated, grains of sand lie hidden in all our shoes and clothes, the three of us are well tanned, each his own shade), another CD, a new CD, something about an animal with its animal parents for the sake of variety. Suddenly you pull it out. For a moment it seems to be floating in the narrow space beneath the dull, dark sky of the car’s roof, lightly held by your hand, as if the new CD, the new thing, had just come into being in this space. Our child quickly reaches for the new CD. My CD, he exclaims, half asking, half answering the question. The quickness of his appropriation surprises us once again. His attention is so palpably high (or large or deep or free) that it enables him to be conscious (yes, conscious) of something that we only notice at the cost of much effort. In this respect he is so close and so far ahead of the philosopher who was so intent on exploring the nature of things. Precisely in hearkening to something that is becoming awake within us, there is a self-opening in favor of things, so that they can show themselves as they are, it says in a lecture by Heidegger in the section titled Truth and Being. This may be the secret source of things: the awakeness in us (an awakeness whose presence we are scarcely able to even surmise, as we are much too drowsy to imagine the source of things as being anything other than the result of some technical process, a fabrication). Our child understands the new thing right away, his view of the nature of things is unclouded and of course not expressible (not for us either, but we make the attempt anyway, again and again). That is what’s so clever about things: that a thing is utterly there and nevertheless conceals its nature. Pretending there is nothing to it, and that it doesn’t matter. But the thing cannot deceive our child. Already the way he reaches for the CD shows that he has a complete grasp of the thing. Our child’s awakeness is so high that he can even afford to fall asleep with the CD cover in his hand (while the little animal in the audio play sets out on a trip with his parents to visit his grandma), without sleep altering in the slightest his fundamental openness toward things. Things and our child: we would not be surprised if they dreamed together.

 

 

DAS VIERTE JAHR

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Pipimeer und Kackiland

Groß ist das Meer, in das wir alle uns ergießen: portionsweise, dezent, still und heimlich. Verschwindet etwa einer der Strandurlauber für diese kleine Erledigung nicht im Meer? Offensichtlich, sichtbar und doch nicht offensichtlich. Unser Kind folgt einem unmittelbaren Impuls, der es sich face-to-face dem Meer gegenüberstellen lässt. Warum erst untertauchen mit dem Körper bis zur Entsorgungslinie? Das ist seine angeborene Art das Meer herauszufordern: auch ich bestehe aus Wasser und jetzt fließe ich in dich hinein. Das Meer antwortet mit Güte, Meeresgüte, die wie jede echte Güte, nichts von sich selber weiß, Güte entspricht seiner Natur. Und wüßte es von seiner Güte, würde es kein Aufhebens darum machen. Und doch greifen wir (du,ich) in diese harmlose Entsorgung ein. Pinkeln ja, aber nur unter Wasser. Das machen alle hier so, so wie alle kleinen Kinder nicht nackt, sondern in Badekleidung unterwegs sind. Ein bißchen lenkt uns moralischer Druck, ein Wunsch, uns friedfertig anzupassen, gleich zu sein unter Gleichen. Und bald schon ist das Unterwasserpinkeln die gleiche nüchterne, doch durchaus lustvolle Berichterstattung wert, die seit einiger Zeit jeden dieser Entsorgungsvorgänge begleitet. Die Welt will sich entsorgen, muss sich entsorgen, soll sie weiterbestehen. Entsorgung ist eine schwierige, langwierige Übung, sie braucht mehr Zeit als der Spracherwerb, vielleicht sogar als die Selbstfindung. Aus einer gewissen Perspektive scheint alles darauf hinauszulaufen: Entsorgung. Überall, immer, täglich, Pipi und Kacki, Müll. Den privaten Müll einfach fallen und stehen lassen, dort, wo man sich gerade befindet, geht gut, wenn man eine Windel trägt und jemanden hinter sich weiß, der das Fallengelassene aufhebt. Aber bald wird der, der hinterhergeht eigene Anstrengung anregen. Und plötzlich ist die Windel kein notwendiges Kleidungsstück mehr, plötzlich wird gerne Unterhose getragen (auch, wenn ebenso plötzlich bisweilen eine Sehnsucht nach eben der abgelegten Windel aufspringt). Die Entsorgung ist jetzt Kindsache, zumindest auch Kindsache. Ein sensibles Geschäft, eine oft wiederholte Übung, die wir mit viel Zurückhaltung begleiten. Unser Kind lernt, weil es selbst lernen will, nicht, weil wir es wollen. Es kennt den richtigen Zeitpunkt, den wir durchaus ahnen. Der Pipiunfall ist Teil dieser Lossagung von der Windel und wir, als die ersten Beobachter dieses Unfalls, sind auch die Zuständigen, für seine Folgen. Auch sind wir die, denen jeder Unfall Prüfung unserer Geduld wie Ungeduld auferlegt. Der Pipiunfall ist ein sensibles Thema, das auch unser ganzes Gefühl für Nachdrücklichkeit und Schweigen fordert. So gesehen ist die Entsorgung etwas, das uns alle betrifft (unser Kind, dich, mich). Eine lange Übungszeit, die dann doch ganz kurz erscheint, wenn sie vorübergegangen ist. Jetzt in Meernähe (das jeden Unfall verzeiht), ist die Entsorgung sprachlich bereits geregelt. Unser Junge weiß, wenn es soweit ist. Seine Mitteilungen sind klar und eindeutig: Ich muss Pipi machen. Gleiches gilt auch für das andere Geschäft, auch wenn der Weg dorthin naturgemäß mühsamer war. Für die Kackientsorgung steht das Meer nicht zur Verfügung. Dort dürfen nur unsere Vorfahren die Fische. (Manche Strandurlauber verschwinden hierzu in den Dünen oder den Pinienwäldern; es macht Wald und Dünen nicht schöner, zeigt nur, wie problematisch dieses Geschäft der Entsorgung ist.) Entsorgung, die uns das ganze Leben begleitet, muss selbst von Anfang an umsorgt und kultiviert werden. Letztlich vielleicht eine Frage der Zeit. Bedeutet nicht diese körperliche Entsorgung unseren stärksten Zugriff auf die Zeit? Und legt damit das Fundament für all die strukturierten Dinge, die in einem Menschenleben folgen werden? Zum richtigen Zeitpunkt zu entsorgen, die Fähigkeit die Zeit in dieser Sache zu beugen und sensibler Muskulatur ihren Übermut und Freigeist auszutreiben – was für eine stille, epochale, wegweisende Entwicklung! Ist die Zeit in diesem frühen Kindesalter erstmal gefügig gemacht, steht die Tür zum Kindergarten weit offen (am Ende des Sommers ist es soweit, unser Kind wird einen ersten großen Schritt in die regulierte Welt unternehmen; das Gedächtnis, sein Gedächtnis, unser Gedächtnis ans Meer aber wird und soll bleiben).

 

Peepee sea and doodoo land

Great is the sea into which we all pour ourselves: little by little, discreetly, quietly and secretly. Isn’t that why the beachgoer swims out for a dip, to dispose of this matter? Apparently, visibly, and yet not apparently. Our child, taking up a position face to face with the sea, is obeying a spontaneous impulse. Why descend with one’s body to the level of the disposal line? This is his innate way of confronting the sea: I, too, consist of water and now I flow into you. The sea answers with benevolent goodness, an ocean-sized goodness that, like all true goodness, knows nothing of itself. Goodness, benevolence, is the sea’s nature. And if it knew of its goodness, it would not make a fuss about it. And yet we (you, I) interfere with this harmless act of waste disposal. Peeing is OK, but only under water. Everyone does it like that here, just as all the little children are wearing swimsuits and not running around naked. It’s moral pressure that drives us, the desire to adapt peacefully, to be equals among equals. And it isn’t long before underwater peeing receives the same kind of matter-of-fact but nonetheless relishful report that has lately accompanied every one of these eliminations. The world wants to and needs to dispose of its waste if it is to continue. Elimination is a difficult, exacting exercise, it takes more time to learn than the acquisition of language, perhaps even than finding oneself. From a certain perspective, everything seems to amount to this: elimination. Everywhere, always, every day: peepee and doodoo, waste matter. Letting one’s private waste fall and stand wherever one happens to be is easy when you’re wearing a diaper and know there is someone behind you who will pick up what you dropped. But soon, the person behind you will prompt you to make efforts of your own. And suddenly the diaper is no longer a necessary article of clothing, suddenly it’s nice to wear underpants (even if, from time to time, you feel a longing for the diaper you used to wear). Elimination is something for children to do now, not only for children but also. A sensitive business, a frequently repeated exercise, which we accompany with a great deal of reserve. Our child learns because he himself wants to learn, not because we want him to. He knows the right moment, which we are quite able to anticipate. The peepee accident is part of this renouncing of the diaper, and we, the first witnesses of this accident, are also the ones responsible for its consequences. And we are also those for whom every accident becomes a test of our patience and impatience. The peepee accident is a sensitive subject that demands all our feeling for insistence and silence. From this point of view, elimination is something that concerns us all (our child, you, me). A long training period, which however seems short once it is accomplished. Now, in proximity to the sea (which forgives every acident), elimination is already linguisitically regulated. Our boy knows when it is time.  His communications are clear and definite: I have to peepee. The same is true for the other operation, though the path to its mastery was of course more demanding. The sea is not available for the disposal of doodoo. Only our ancestors, the fish, have permission. (Some beach goers withdraw among the dunes or to the pinewoods for this purpose; this does not beautify the dunes or the woods, it only shows how problematic the business of waste disposal is.) This production of waste and its elimination, which attends our lives from beginning to end, must be cared for and cultivated from the beginning. Ultimately, perhaps, it is a question of time. Does the disposal of bodily waste not constitute our most powerful grip on the element of time? Thereby laying a foundation for all the structured things that will ensue in a human life? To eliminate at the right time, the ability to bend time to this task and to exorcise from a sensitive musculature its exuberance and free spirit — what a quiet, epochal, pathbreaking development! Once time has been made subservient in early childhood, the door to nursery school stands wide open (by the end of the summer the time will have come, our child will take a step into the regulated world; but memory, his memory, our memory of the sea will and shall remain).

 

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Ein Kind verschwindet

Wir wähnten uns in Sicherheit. Wir (du, ich). Sicherheit ist Folge von Gewohnheit. Unser Kind war anhänglich, treu als wären das die ersten Tugenden, die ein Mensch entwickelt. Die er schon mitbringt. (Stets war das Baby an unserer Seite. Es dachte nicht daran, von dort zu weichen. Ich bin bei euch, immer! Und wir dachten, es wäre so: wir, du, ich sind bei dir, immer! Gleich wie: wir blieben stets zusammen, wenn wir gemeinsam unterwegs waren. Unsere Trennungen waren klein, überwanden nie eine Entfernung, die ins Uneinsehbare geführt hätten. Und taten sie es manchmal, selten doch, so zog es uns schon bald wieder zueinander, gleichsam so, als könnten wir nicht fünf Minuten voneinander lassen. Nein, das Baby ist und war kein Freund von Trennungen und es wusste, auch wir sind keine Freunde von Trennungen. Das Baby blieb in unserer unmittelbaren Nähe, bis wir begriffen hatten, warum, bis wir es durchschaut hatten: es blieb um unserer Willen. Wir wären ohne diesen neuen kleinen Menschen verloren gewesen, jetzt, da er zu uns gekommen war. Tatsächlich glauben wir beobachten zu können, dass den Eltern, die früh ihre Kleinsten aus den Händen geben, eine gewisse Verlorenheit im Gesicht zurückbleibt, ein merkwürdig eiserner Ausdruck, zu dem sich im Laufe der Jahre fragende Blicke und ein unmerklich kopfschüttelndes Rätseln gesellen. Wollte man eine Geschichte lesen, würde dabei aber auf den Anfang verzichten, ihn zu großen Teilen auslassen, würde man nicht ewig, jeden Tag aufs Neue sich fragen, warum diese Geschichte sich einfach nicht runden will, keinen befriedigenden Sinn ergibt? Später, denken wir, im Fortlauf der Geschichte, kann man getrost Teile überspringen, aber doch niemals am Anfang, den Anfang muss man komplett lesen, mindestens soll man nach Vollständigkeit streben. – Ein übrigens interessanter Moment. Denken wir so über die anderen, lassen wir uns überhaupt über die Anderen nachdenken, die anderen Mütter und Väter und Babys und Kinder, so gibt es im Blick unseres eigenen Kindes ein festes, hartnäckiges Schweigen, das uns dieses Nachdenken untersagt; selbst wenn wir darin der Wahrheit ganz nah gekommen wären.) Und dann plötzlich verschwindet unser Kind. Das ist wie eine gefallene Entscheidung. Offenbar sind wir (du, ich) jetzt reif für die erste Trennung, die ersten Trennungen. Im Nachhinein zeigt sich: so plötzlich ist diese Entscheidung nicht gefallen. Sie hat sich angekündigt, doch so leise und luftig, dass wir sie mehrmals übersehen haben. Unser Kind geht. Einen eigenen Weg. Einen richtig eigenen Weg, es erspäht ein Ziel, hat einen Plan, folgt einer, seiner Absicht. Es ist weg, unser Blick hat es verloren: heute in Stuttgart auf dem Kleinen Schloßplatz. Die zwei unbeweglichen, gelb gekleideten Straßenkünstler, der eine den anderen nur auf der Handfläche in der Luft haltend, dabei selbst auf einem Luftstuhl hockend – dort steht unser Sohn ganz gebannt, dicht am Blechkelch, der die Münzgabe der Zuschauer aufnimmt, dort steht er, die ganze Zeit steht er dort, also kann ich ihn ruhig aus den Augen lassen, ich weiß ja, dass er dort steht, ich muss nicht immer hinsehen, ich kann ein Stück Zeitung lesen, in einem Buch blättern, und dann sehe ich manchmal auf und sehe ihn dort drüben stehen, in der ersten Reihe, die großen Zuschauer stehen hinter ihm und wieder wende ich den Blick ab, beruhigt und voller Vertrauen. Beim nächsten Hinblicken ist unser Sohn verschwunden, das heißt, erst denke ich, da steht er noch, doch dann wird diese Folie des Glaubens weggezogen und ich erkenne das darunter liegende Bild, ähnlich dem Vorhergehenden, nur er fehlt, unser Kind befindet sich nicht mehr dort, wo es sich eben befand. Der erste eisige Schrecken lässt sich leicht bannen: weit kann unser Kind ja nicht sein, es ist nur eine Minute vergangen seit unserem letzten Aufblicken – oder? Noch bevor ich handle, aufspringe und zu suchen beginne, fällt mich eine Erinnerung an. Ich selbst als verschwundenes Kind. Einmal um mich selbst gedreht, auf einem Jahrmarkt, am Strand, im Kaufhaus – und schon bin ich verschwunden, aus der sicheren Welt mit den Eltern in die unsichere Welt ohne Eltern gewechselt, in eine Welt, in der ich Kind mich nicht auskenne, nichts kommt mir mehr bekannt vor, keine Richtung, in die ich Kind gehen könnte, macht mir Sinn und flößt mir Vertrauen ein, ich bin aus der richtigen Welt in eine falsche Welt gefallen, und obwohl so viele Menschen hier sind, habe ich keine Ahnung, wo ich bin. – Ich springe auf von meinem stahlgeflochtenen Fußgängerzonenstuhl. Das Kind, unser Kind ist verschwunden – das ist wie etwas Absolutes. Ein verschwundenes Kind ist kein Kind mehr. Ein verschwundenes Kind ist ein zu früh, unnatürlicherweise verschwundenes Kind. Ein verschwundenes Kind erschrickt zu Tode, selbst vom stärksten Vertrauen fordert es Respekt, es ist die größte Prüfung überhaupt, sich nicht vom Verschwinden überwältigen zu lassen und weiterhin an ein Fortbestehen, ein Dasein und Wiederfinden des Kindes zu glauben. Noch ein anderer Aspekt des verschwindenden Kindes zeigt sich: dieses Kind, jedes Kind würde irgendwann verschwinden, sich aus unserem Sichtbereich entfernen, dorthin, wo unsere Rufe ungehört bleiben. Es gibt eine starke Tendenz des Kindes, zu verschwinden, vielleicht sogar gegen seine eigene Absicht, denn das verschwundene Kind wird irgendwann des Unglücks seines Verschwindens gewahr werden und ein großes Geschrei und Geheule wird anheben. Dennoch verschwindet es, gegen alle Vernunft. Ein Reiz lockt es, das Unbekannte lockt, die Welt lockt mit dem Raum, den sie vor dem Kind ausbreitet, der vielversprechende Raum des Tausenderlei, in dem es sich verlieren möchte, denn noch gehört ihm die ganze Welt. Ja, es ist seine Welt, die ganze Welt, in der es verschwindet. Warum sollte es sich also sorgen? Wäre da nicht unser Blick, unser letztlich fester, unnachgiebiger, wachsamer Blick, der unser Kind möglicherweise erst sich unser erinnern lässt, und das obwohl es sich außerhalb unseres Blickes zu befinden scheint. Nein, unser Blick ist stark und durchdringend, er hält sich nicht an räumliche Gegebenheiten oder Hindernisse, die sich ihm in den Weg stellen, es ist ein Blick, den unser Kind braucht wie wir ihn brauchen, ein notwendiger Blick, ohne den das Kind nicht existieren kann. (Und kommt es uns nicht so vor, dass wir selbst diesen Blick nur zu gut kennen und ihn niemals wieder verloren haben, dass wir diesen Blick nur werfen können, weil wir ihn selbst empfangen haben und – das ist das Merkwürdigste – immer noch empfangen?) Unser Blick garantiert das Werden unseres Kindes, ein nachdenklicher, bedenklicher, auch dankbarer Blick, den wir zur Verfügung stellen, den wir zur Verfügung stellen müssen, wollen wir unserer möglichen Ganzheit gerecht werden. Suche in das Innere jedes Menschen einzudringen; aber gestatte auch jedem anderen in deine Seele einzudringen, heißt es bei Marc Aurel und so betrachten wir unseren Blick: als einen Eindringling, notwendigerweise, natürlicherweise. – Da taucht unser Kind wieder auf. Wie aus dem Nichts ist es wieder da. Als wäre es nie verschwunden gewesen. Plötzlichkeit und Kontinuität in einem. Schon ein Stück von den beiden gelben Straßenkünstlern (die sich, wie es den Anschein hat, weder bewegen, noch fortbewegen können, die Armen, die Glücklichen) entfernt, im Café vor dem Kunstmuseum, wo es sich mit der Kellnerin unterhält und es gerade, als ich hineile (obwohl Eile gar nicht nötig wäre), einen Kindercappuccino bestellt. Es hat mich nicht vermisst, aber jetzt komme ich gerade recht, denn ich soll bezahlen.

 

A child disappears

We thought we were safe. We (you, I). Security follows upon habit. Our child was affectionate, faithful, as if these were the first virtues a human being develops. An inborn endowment. (The baby was always at our side, with never a thought of leaving. I am with you, always! And we thought of it the same way: we — you, I — are with you, always! Just as we always stayed together when we traveled together. Our separations were minor, never spanning distances that might have rendered us invisible to each other. And if that happened occasionally, rarely, we were soon drawn back together, quite as if we couldn’t stay away from each other for more than five minutes. No, the baby is and was no friend of separations, and he knew that we, too, are not fond of separations. The baby remained close to us and stayed in our vicinity until we saw through him and understood: he was staying for our sake. We would have been lost without this new little human being, now that he had come to us. Indeed, sometimes it seems to us that parents who release their smallest offspring too early are left with a certain desolate look in their faces, an oddly adamant expression that is accompanied, over the years, by questioning glances and an imperceptibly puzzled shaking of the head. If one were to read a story but forego the beginning, skipping large parts of it, would one not ask again and again, forever, every day, why this story absolutely refuses to come to a satisfactory conclusion? Later, we think, in the course of the story, one can confidently skip parts of it, but surely not the beginning; the beginning must be read in its entirety; one should at least strive for completeness. An interesting moment, by the way. If we think this way about the others, if we permit ourselves to think at all about the others, the other mothers and fathers and babies and children, we encounter in the gaze of our own child a firm and stubbornly taciturn silence that forbids us these reflections: even if in pursuing them we have arrived very close to the truth.) And then suddenly our child disappears. It’s as if a decision was made. Apparently we (you, I) are now ready for the first separation, the first separations. In retrospect it turns out that this decision was not made as suddenly as it seemed. It announced itself, but so quietly and with such airy lightness that we overlooked it several times. Our child is going. Going his own way, truly a way of his own. He has caught sight of a destination, has a plan, is pursuing an intention, and it is his own. He left, disappeared from our sight today in Stuttgart on the little palace square. The two motionless street performers dressed in yellow, one of them supporting the other high in the air on the palm of a single hand, while he himself sits on an inflated rubber seat – there stands our son, mesmerized, close to the tin cup that receives the spectators’ coins, there he stands, and has been standing all the while, and so I can safely leave him out my sight, for I know that he is standing there, I don’t have to keep looking in his direction, I can confidently read in a newspaper or leaf through a book, and now and then I’ll look up and see him standing in the first row, the tall spectators standing behind him, and again I avert my gaze, reassured and with complete confidence. The next time I look, our son has disappeared, that is, I think for a moment that he’s still there, but then this tissue of belief is pulled away and I recognize the underlying image, similar to the one that preceded it, except that he is missing, our child is no longer where he was a moment ago. The first icy shudder of fright is easily dispelled: our child can’t be far off, no more than a minute has passed since we raised our eyes – or? And before I act, before I leap up and start searching, a memory attacks me. I myself as a disappeared child. With a single rotation around myself, in a fair, by the beach, in a store – and already I’m gone, vanished from the safe world with my parents into an unsafe world without parents, a world in which I, a child, do not know my way, where nothing looks familiar, no direction in which I could go makes sense or fills me with trust, I have fallen from the right world into a wrong world, and even though there are so many people here, I have no idea where I am. – I leap from my seat in the pedestrian zone, an iron chair woven out of steel plaits. The child, our child, has disappeared – this is like something absolute. A disappeared child is no longer a child. A disappeared child is a child that has disappeared too early, disappeared unnaturally. A disappeared child is a deadly fright, it captures the respect of even the strongest faith, it is a tremendous test not to let oneself be overwhelmed by this disappearance and allow oneself to continue believing in a continuation, an existence and recovery of the child. And another aspect of the disappeared child becomes apparent: this child, every child, would perforce at some time disappear, remove itself from the scope of our view, from the reach of our voices. Every child has a strong tendency to disappear, perhaps even against its own intention, for the disappeared child will at some point become aware of its own disappearance and a great screaming and wailing will ensue. Even so the child disappears, against all reason. Something lures the child, it’s the unknown, an enticing world with wide open spaces and a thousand things to lose oneself in, for this world, the whole world, still belongs to the child, is in its possession. Yes, it is the child’s own world, the whole world, into which the child disappears. What reason would there be for the child to worry? Would it not be our gaze, our ultimately firm, unyielding, watchful gaze that alone, possibly, moves our child to remember us, and this even though he seems to be outside our view. No, our gaze is strong and penetrating, it is not detained by spatial conditions or obstacles that get in its way, it is a gaze that our child needs just as we need the child, a necessary gaze without which the child cannot exist. (And doesn’t it seem to us that we ourselves know this gaze only too well and, having known it once, never lost it again, that we can only cast this gaze because we ourselves have received it and – this is the strangest part of it – continue to receive it?) Our gaze guarantees the development of our child, a pensive, dubious, also grateful gaze, which we provide, which we must provide if we want to do justice to our possible wholeness. Seek to penetrate the inner being of every man; but likewise permit every man to penetrate your soul, says Marcus Aurelius, and that is how we regard our gaze: as an intruder, necessarily, naturally. – And right at this point our child reappears. As if out of nowhere, he’s there again. As though he had never disappeared. Suddenness and continuity in one. Already at a slight distance from the two yellow street performers (who appear to be neither moving nor capable of leaving their place, the unfortunate, fortunate ones), in the Café in front of the art museum, where he is talking to the waitress and, just as I’m hurrying over to him (even though no hurry was needed), orders a children’s cappuccino. He didn’t miss me, but I’m showing up just in time, because I’m supposed to pay.