Das vierte Jahr

Das erste Jahr Babybuddha jetzt auf:

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Wir Tautologen!

 

Ich möchte keine Hose anziehen! Warum nicht? Weil ich keine Hose anziehen möchte. Kann der eigene Wille eindeutiger, klarer, heller, weiser begründet werden? Die Wahrheit ist unverschämt, sie nimmt keine Rücksicht auf unsere Gewohnheiten. Wo wir eine passable Erklärung erwarten (ich noch mehr als du), wird uns mit einem großen Rätsel erwidert. Soll die Wahrheit sich ruhig rätselhaft geben, aber könnte sie uns nicht ein wenig entgegenkommen? Ich möchte etwas nicht, weil ich es nicht möchte! Das ist die totale Erklärung, vollständig und so gewaltig groß, dass sie uns nicht einmal einschüchtert (das auch), sondern heillos und unheilbar überfordert. Das, wonach wir uns sehnen (zu sehnen glauben), unhinterfragbare Erkenntnis, ist das Letzte, das wir ertragen könnten. Und es entgeht uns nicht, dass wir so eine einfache Antwort unseres Kindes auch niemals zu begreifen in der Lage sein werden. Die Tautologie ist die Schnur, die unseren Verstand auf ewig zuschnürt. (Diesen Knoten werden wir nicht lösen, weil wir ihn nicht lösen werden.) Haben wir solch eine Antwort empfangen (so kommt sie uns vor: als ein Empfängnis, dessen Absender mindestens ein enger Verwandter unseres meisterhaften Babys sein muss), stehen wir stumm und reglos, selbst ein Fels, der von einem Felsen in Felsensprache kurz und knapp etwas erfahren hat, das keinen Widerhall in ihm, dem durchaus aufmerksamen Hörer, weder erzeugt, noch erzeugen kann. Einmal gehört ist wie ins Ohr gemeißelt. Wir könnten die Antwort unseres Kindes auch als Spaß herunterspielen, doch ist es zu offensichtlich, dass ihm ernst mit ihr ist. Vielleicht ist unser Nachfragen dumm: wieso willst du keine Hose anziehen? Tatsächlich, wenn wir so fragen, was schwebt uns als mögliche Antwort vor? Glauben wir unser Kind würde uns seine Vorlieben und Abneigungen verraten, so einsichtig begründet, dass wir uns zufrieden zurücklehnen könnten? Doch welche Vorlieben und Abneigungen? Scheint die tautologische Antwort nicht nahezulegen, jeder Vorliebe und jeder Abneigung läge ein spontanter Entschluss zugrunde, der das Gerede von Vorlieben und Abneigungen ad absurdum führt oder mehr noch ins Reich der Fabel verweist? Kaum zu glauben, unser Kind möchte keine Hose anziehen und es möchte für diese Entscheidung keine Begründung liefern, weil es dafür keine Begründung gibt! (Nebenbei fragen wir uns: was nützen Begründungen eigentlich, und wem, und wozu?) So kommt uns jetzt aufeinmal das tautologische Beisammensein, das unbegründet begründete Beisammensein und Miteinanderreden vor wie die glücklichste Art des Beisammenseins, völlig unbelastet, nicht einmal frei von Irgendetwas, sondern ohne Irgendetwas und wir könnten uns unsere Frage Warum nicht? getrost sparen. Aber auch wieder nicht, weil wir uns dann des Segens der tautologischen Antwort berauben würden. Da flattert uns ein Brief ins Haus, ein Brief an uns sehr geehrte Eltern. Die Universität, Departement Psychologie, Baby- und Kinderstudien lädt uns ein, an einer Kinderstudie mit unserem Kind teilzunehmen, die sich der Erforschung der frühen Entwicklung des wissenschaftlichen Denkens widmet. Wie denken Kinder? Was wissen sie über die Welt? Wie erforschen Kinder die Welt? Wie erklären sich Kinder Ereignisse? Sicher haben Sie sich schon irgendwann einmal derartige Fragen gestellt … Das wissenschaftliche Denken unseres Kindes hat uns bisher nicht interessiert. Auch die Meilensteine der Entwicklung des Denkens im Vorschulalter waren noch kein Gegenstand unserer Bemühungen unser Kind zu verstehen. Wir scheuen uns nicht zuzugeben, dass wir im Sinn dieser wissenschaftlichen Studie Banausen sind. Banausen im wörtlichen Sinn: Wir sind die am Kinderofen arbeitenden Eltern, die sich von seiner Wärmestrahlung belehren und inspirieren lassen. Nicht dass wir es schlimm fänden, unserem Kind wissenschaftliches Denken zu unterstellen, aber es scheint uns für unsere Betrachtungen unnötig und entbehrlich zu sein. Viel größer finden wir den Reiz, der Unwissenschaftlichkeit unseres Kindes zu folgen, diesem geheimnisreichen Denken, das uns in jeder seiner Äußerungen verblüfft und uns irgendwie anregt, es zu unterlassen diese Verblüffung auflösen zu wollen. Die angenommene Wissenschaftlichkeit des Kleinkinddenkens kommt uns vor wie ein unnötiger und unsinniger Rückschluß vom Erwachsenen aus, der eher dem allgemeinen Wunsch nach Verschüttung dient als dem nach Aufklärung, Verständnis, Wissen. Nein, unser Kind ist kein kleiner Wissenschaftler (die kleinen Wissenschaftler lassen sich, glauben wir, nur unter den großen Wissenschaftlern finden). Unser Kind hat natürlich nichts gegen Kausalität im Allgemeinen und schon gar nicht im Besonderen einzuwenden, aber es ist noch lange nicht so korrumpiert von ihr, dass es an die eingerosteten Verhältnisse zwischen Ursachen und Wirkungen glauben würde. Gerade das ist es, was uns fasziniert: dass Denken flüssig sein kann. Unsere private Universität und ihr Departement Psychologie würde Eltern einladen zur Untersuchung des flüssigen Denkens und zum Beispiel der Frage (oder nur der Anregung zur Beobachtung) wie sich Flüssiges in Festes verwandelt und damit dem Leben womöglich auf Dauer einen komplett neuen Anstrich (innen wie außen) verpasst, der nicht selten ein eigenartiges Leiden erzeugt, ähnlich dem des an Land gespülten Fisches. Also willst du jetzt eine Hose anziehen? Soll ich eine Hose anziehen? Ja! Warum? Warum soll ich eine Hose anziehen? Von der Tautologie zur Gegenfrage (wir müssen gut zuhören, ermahnen wir uns, die Tautologie und die Gegenfrage sind auf eine vertrackte Weise verwandt miteinander). Die Gegenfrage ist womöglich auch eine Falle, am besten antworten wir auf Warum soll ich eine Hose anziehen? so: Weil du eine Hose anziehen sollst. Diese Antwort erzeugt in uns einen – wir können es nicht anders ausdrücken – nüchternen Rausch. Den tautologischen Rausch, den Rausch der Ewigkeit, einen ziselierten Tanz, mit dem wir uns kunstvoll in den Untergrund, der uns trägt, immerfort einschreiben, nicht nur heute, nicht nur gestern, nicht nur morgen. Ja, die tautologische Antwort unseres Kindes macht uns zu Tänzern, und plötzlich bemerken wir: Unser Sohn hat eine Hose angezogen!

 

 

 

 

 

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