Das vierte Jahr

Das erste Jahr Babybuddha jetzt auf:

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Ein Kind verschwindet

Wir wähnten uns in Sicherheit. Wir (du, ich). Sicherheit ist Folge von Gewohnheit. Unser Kind war anhänglich, treu als wären das die ersten Tugenden, die ein Mensch entwickelt. Die er schon mitbringt. (Stets war das Baby an unserer Seite. Es dachte nicht daran, von dort zu weichen. Ich bin bei euch, immer! Und wir dachten, es wäre so: wir, du, ich sind bei dir, immer! Gleich wie: wir blieben stets zusammen, wenn wir gemeinsam unterwegs waren. Unsere Trennungen waren klein, überwanden nie eine Entfernung, die ins Uneinsehbare geführt hätten. Und taten sie es manchmal, selten doch, so zog es uns schon bald wieder zueinander, gleichsam so, als könnten wir nicht fünf Minuten voneinander lassen. Nein, das Baby ist und war kein Freund von Trennungen und es wusste, auch wir sind keine Freunde von Trennungen. Das Baby blieb in unserer unmittelbaren Nähe, bis wir begriffen hatten, warum, bis wir es durchschaut hatten: es blieb um unserer Willen. Wir wären ohne diesen neuen kleinen Menschen verloren gewesen, jetzt, da er zu uns gekommen war. Tatsächlich glauben wir beobachten zu können, dass den Eltern, die früh ihre Kleinsten aus den Händen geben, eine gewisse Verlorenheit im Gesicht zurückbleibt, ein merkwürdig eiserner Ausdruck, zu dem sich im Laufe der Jahre fragende Blicke und ein unmerklich kopfschüttelndes Rätseln gesellen. Wollte man eine Geschichte lesen, würde dabei aber auf den Anfang verzichten, ihn zu großen Teilen auslassen, würde man nicht ewig, jeden Tag aufs Neue sich fragen, warum diese Geschichte sich einfach nicht runden will, keinen befriedigenden Sinn ergibt? Später, denken wir, im Fortlauf der Geschichte, kann man getrost Teile überspringen, aber doch niemals am Anfang, den Anfang muss man komplett lesen, mindestens soll man nach Vollständigkeit streben. – Ein übrigens interessanter Moment. Denken wir so über die anderen, lassen wir uns überhaupt über die Anderen nachdenken, die anderen Mütter und Väter und Babys und Kinder, so gibt es im Blick unseres eigenen Kindes ein festes, hartnäckiges Schweigen, das uns dieses Nachdenken untersagt; selbst wenn wir darin der Wahrheit ganz nah gekommen wären.) Und dann plötzlich verschwindet unser Kind. Das ist wie eine gefallene Entscheidung. Offenbar sind wir (du, ich) jetzt reif für die erste Trennung, die ersten Trennungen. Im Nachhinein zeigt sich: so plötzlich ist diese Entscheidung nicht gefallen. Sie hat sich angekündigt, doch so leise und luftig, dass wir sie mehrmals übersehen haben. Unser Kind geht. Einen eigenen Weg. Einen richtig eigenen Weg, es erspäht ein Ziel, hat einen Plan, folgt einer, seiner Absicht. Es ist weg, unser Blick hat es verloren: heute in Stuttgart auf dem Kleinen Schloßplatz. Die zwei unbeweglichen, gelb gekleideten Straßenkünstler, der eine den anderen nur auf der Handfläche in der Luft haltend, dabei selbst auf einem Luftstuhl hockend – dort steht unser Sohn ganz gebannt, dicht am Blechkelch, der die Münzgabe der Zuschauer aufnimmt, dort steht er, die ganze Zeit steht er dort, also kann ich ihn ruhig aus den Augen lassen, ich weiß ja, dass er dort steht, ich muss nicht immer hinsehen, ich kann ein Stück Zeitung lesen, in einem Buch blättern, und dann sehe ich manchmal auf und sehe ihn dort drüben stehen, in der ersten Reihe, die großen Zuschauer stehen hinter ihm und wieder wende ich den Blick ab, beruhigt und voller Vertrauen. Beim nächsten Hinblicken ist unser Sohn verschwunden, das heißt, erst denke ich, da steht er noch, doch dann wird diese Folie des Glaubens weggezogen und ich erkenne das darunter liegende Bild, ähnlich dem Vorhergehenden, nur er fehlt, unser Kind befindet sich nicht mehr dort, wo es sich eben befand. Der erste eisige Schrecken lässt sich leicht bannen: weit kann unser Kind ja nicht sein, es ist nur eine Minute vergangen seit unserem letzten Aufblicken – oder? Noch bevor ich handle, aufspringe und zu suchen beginne, fällt mich eine Erinnerung an. Ich selbst als verschwundenes Kind. Einmal um mich selbst gedreht, auf einem Jahrmarkt, am Strand, im Kaufhaus – und schon bin ich verschwunden, aus der sicheren Welt mit den Eltern in die unsichere Welt ohne Eltern gewechselt, in eine Welt, in der ich Kind mich nicht auskenne, nichts kommt mir mehr bekannt vor, keine Richtung, in die ich Kind gehen könnte, macht mir Sinn und flößt mir Vertrauen ein, ich bin aus der richtigen Welt in eine falsche Welt gefallen, und obwohl so viele Menschen hier sind, habe ich keine Ahnung, wo ich bin. – Ich springe auf von meinem stahlgeflochtenen Fußgängerzonenstuhl. Das Kind, unser Kind ist verschwunden – das ist wie etwas Absolutes. Ein verschwundenes Kind ist kein Kind mehr. Ein verschwundenes Kind ist ein zu früh, unnatürlicherweise verschwundenes Kind. Ein verschwundenes Kind erschrickt zu Tode, selbst vom stärksten Vertrauen fordert es Respekt, es ist die größte Prüfung überhaupt, sich nicht vom Verschwinden überwältigen zu lassen und weiterhin an ein Fortbestehen, ein Dasein und Wiederfinden des Kindes zu glauben. Noch ein anderer Aspekt des verschwindenden Kindes zeigt sich: dieses Kind, jedes Kind würde irgendwann verschwinden, sich aus unserem Sichtbereich entfernen, dorthin, wo unsere Rufe ungehört bleiben. Es gibt eine starke Tendenz des Kindes, zu verschwinden, vielleicht sogar gegen seine eigene Absicht, denn das verschwundene Kind wird irgendwann des Unglücks seines Verschwindens gewahr werden und ein großes Geschrei und Geheule wird anheben. Dennoch verschwindet es, gegen alle Vernunft. Ein Reiz lockt es, das Unbekannte lockt, die Welt lockt mit dem Raum, den sie vor dem Kind ausbreitet, der vielversprechende Raum des Tausenderlei, in dem es sich verlieren möchte, denn noch gehört ihm die ganze Welt. Ja, es ist seine Welt, die ganze Welt, in der es verschwindet. Warum sollte es sich also sorgen? Wäre da nicht unser Blick, unser letztlich fester, unnachgiebiger, wachsamer Blick, der unser Kind möglicherweise erst sich unser erinnern lässt, und das obwohl es sich außerhalb unseres Blickes zu befinden scheint. Nein, unser Blick ist stark und durchdringend, er hält sich nicht an räumliche Gegebenheiten oder Hindernisse, die sich ihm in den Weg stellen, es ist ein Blick, den unser Kind braucht wie wir ihn brauchen, ein notwendiger Blick, ohne den das Kind nicht existieren kann. (Und kommt es uns nicht so vor, dass wir selbst diesen Blick nur zu gut kennen und ihn niemals wieder verloren haben, dass wir diesen Blick nur werfen können, weil wir ihn selbst empfangen haben und – das ist das Merkwürdigste – immer noch empfangen?) Unser Blick garantiert das Werden unseres Kindes, ein nachdenklicher, bedenklicher, auch dankbarer Blick, den wir zur Verfügung stellen, den wir zur Verfügung stellen müssen, wollen wir unserer möglichen Ganzheit gerecht werden. Suche in das Innere jedes Menschen einzudringen; aber gestatte auch jedem anderen in deine Seele einzudringen, heißt es bei Marc Aurel und so betrachten wir unseren Blick: als einen Eindringling, notwendigerweise, natürlicherweise. – Da taucht unser Kind wieder auf. Wie aus dem Nichts ist es wieder da. Als wäre es nie verschwunden gewesen. Plötzlichkeit und Kontinuität in einem. Schon ein Stück von den beiden gelben Straßenkünstlern (die sich, wie es den Anschein hat, weder bewegen, noch fortbewegen können, die Armen, die Glücklichen) entfernt, im Café vor dem Kunstmuseum, wo es sich mit der Kellnerin unterhält und es gerade, als ich hineile (obwohl Eile gar nicht nötig wäre), einen Kindercappuccino bestellt. Es hat mich nicht vermisst, aber jetzt komme ich gerade recht, denn ich soll bezahlen.

 

A child disappears

We thought we were safe. We (you, I). Security follows upon habit. Our child was affectionate, faithful, as if these were the first virtues a human being develops. An inborn endowment. (The baby was always at our side, with never a thought of leaving. I am with you, always! And we thought of it the same way: we — you, I — are with you, always! Just as we always stayed together when we traveled together. Our separations were minor, never spanning distances that might have rendered us invisible to each other. And if that happened occasionally, rarely, we were soon drawn back together, quite as if we couldn’t stay away from each other for more than five minutes. No, the baby is and was no friend of separations, and he knew that we, too, are not fond of separations. The baby remained close to us and stayed in our vicinity until we saw through him and understood: he was staying for our sake. We would have been lost without this new little human being, now that he had come to us. Indeed, sometimes it seems to us that parents who release their smallest offspring too early are left with a certain desolate look in their faces, an oddly adamant expression that is accompanied, over the years, by questioning glances and an imperceptibly puzzled shaking of the head. If one were to read a story but forego the beginning, skipping large parts of it, would one not ask again and again, forever, every day, why this story absolutely refuses to come to a satisfactory conclusion? Later, we think, in the course of the story, one can confidently skip parts of it, but surely not the beginning; the beginning must be read in its entirety; one should at least strive for completeness. An interesting moment, by the way. If we think this way about the others, if we permit ourselves to think at all about the others, the other mothers and fathers and babies and children, we encounter in the gaze of our own child a firm and stubbornly taciturn silence that forbids us these reflections: even if in pursuing them we have arrived very close to the truth.) And then suddenly our child disappears. It’s as if a decision was made. Apparently we (you, I) are now ready for the first separation, the first separations. In retrospect it turns out that this decision was not made as suddenly as it seemed. It announced itself, but so quietly and with such airy lightness that we overlooked it several times. Our child is going. Going his own way, truly a way of his own. He has caught sight of a destination, has a plan, is pursuing an intention, and it is his own. He left, disappeared from our sight today in Stuttgart on the little palace square. The two motionless street performers dressed in yellow, one of them supporting the other high in the air on the palm of a single hand, while he himself sits on an inflated rubber seat – there stands our son, mesmerized, close to the tin cup that receives the spectators’ coins, there he stands, and has been standing all the while, and so I can safely leave him out my sight, for I know that he is standing there, I don’t have to keep looking in his direction, I can confidently read in a newspaper or leaf through a book, and now and then I’ll look up and see him standing in the first row, the tall spectators standing behind him, and again I avert my gaze, reassured and with complete confidence. The next time I look, our son has disappeared, that is, I think for a moment that he’s still there, but then this tissue of belief is pulled away and I recognize the underlying image, similar to the one that preceded it, except that he is missing, our child is no longer where he was a moment ago. The first icy shudder of fright is easily dispelled: our child can’t be far off, no more than a minute has passed since we raised our eyes – or? And before I act, before I leap up and start searching, a memory attacks me. I myself as a disappeared child. With a single rotation around myself, in a fair, by the beach, in a store – and already I’m gone, vanished from the safe world with my parents into an unsafe world without parents, a world in which I, a child, do not know my way, where nothing looks familiar, no direction in which I could go makes sense or fills me with trust, I have fallen from the right world into a wrong world, and even though there are so many people here, I have no idea where I am. – I leap from my seat in the pedestrian zone, an iron chair woven out of steel plaits. The child, our child, has disappeared – this is like something absolute. A disappeared child is no longer a child. A disappeared child is a child that has disappeared too early, disappeared unnaturally. A disappeared child is a deadly fright, it captures the respect of even the strongest faith, it is a tremendous test not to let oneself be overwhelmed by this disappearance and allow oneself to continue believing in a continuation, an existence and recovery of the child. And another aspect of the disappeared child becomes apparent: this child, every child, would perforce at some time disappear, remove itself from the scope of our view, from the reach of our voices. Every child has a strong tendency to disappear, perhaps even against its own intention, for the disappeared child will at some point become aware of its own disappearance and a great screaming and wailing will ensue. Even so the child disappears, against all reason. Something lures the child, it’s the unknown, an enticing world with wide open spaces and a thousand things to lose oneself in, for this world, the whole world, still belongs to the child, is in its possession. Yes, it is the child’s own world, the whole world, into which the child disappears. What reason would there be for the child to worry? Would it not be our gaze, our ultimately firm, unyielding, watchful gaze that alone, possibly, moves our child to remember us, and this even though he seems to be outside our view. No, our gaze is strong and penetrating, it is not detained by spatial conditions or obstacles that get in its way, it is a gaze that our child needs just as we need the child, a necessary gaze without which the child cannot exist. (And doesn’t it seem to us that we ourselves know this gaze only too well and, having known it once, never lost it again, that we can only cast this gaze because we ourselves have received it and – this is the strangest part of it – continue to receive it?) Our gaze guarantees the development of our child, a pensive, dubious, also grateful gaze, which we provide, which we must provide if we want to do justice to our possible wholeness. Seek to penetrate the inner being of every man; but likewise permit every man to penetrate your soul, says Marcus Aurelius, and that is how we regard our gaze: as an intruder, necessarily, naturally. – And right at this point our child reappears. As if out of nowhere, he’s there again. As though he had never disappeared. Suddenness and continuity in one. Already at a slight distance from the two yellow street performers (who appear to be neither moving nor capable of leaving their place, the unfortunate, fortunate ones), in the Café in front of the art museum, where he is talking to the waitress and, just as I’m hurrying over to him (even though no hurry was needed), orders a children’s cappuccino. He didn’t miss me, but I’m showing up just in time, because I’m supposed to pay.

 

 

 

 

 

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