Das vierte Jahr

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Der anfängliche Mensch

 

Der anfängliche Mensch ist nicht von Anfang an da. Jetzt beginnt er. Dieser Tage beginnt er, gerade jetzt, gerade heute. Unser Baby, haben wir immer gedacht, ist immer unser Baby. Tatsächlich denken wir das immer noch, es ist ein Hintergrundgedanke, den zu löschen wir nicht in der Lage sind und ein Gedanke, der – wie so viele andere – sich niemals selbst löschen wird. Er entspricht auch einer gewissen Trägheit unseres Gefühls, das gerne umfängt und umfasst und nicht wieder frei gibt, wenn es sich für die Ursache und den Urheber, die Urheberin hält. Wir sind durchaus ein Anfangspunkt für unser Kind, zwei Anfangspunkte in einem (du, ich, wir). Dorthin kehren wir oftmals zurück, manchmal haben wir sogar den Eindruck, wir bräuchten diesen Anfangspunkt nie wieder zu verlassen oder es sei unmöglich. Aber heute, gestern, vor einer Minute oder gerade eben ist unser Kind anfänglicher Mensch geworden, wir haben bemerkt, seine Vollkommenheit ist ein bißchen geschrumpft, dann sogar, dass sie auf einmal wie weggeblasen war, vergangen wie das Baby vergangen ist. Es ist noch kein eindeutiger Zustand, den wir beobachten, aber einer, der uns höchst vertraut ist, denn der anfängliche Mensch ist uns näher als das (stillschweigend unanfängliche) Baby. So ist eine geradezu greifbare Nachdenklichkeit in unser Kind eingezogen, ein Sinnen und Zweifeln, das das Baby nicht kannte. Sein Sinnen und Zweifeln war von entwaffnender Unschuld, ein Sinnen und Zweifeln, das nie das Ganze befragte oder in Frage stellte, ein Sinnen und Zweifeln, das nicht mehr und nicht weniger war als das Ganze selbst, vollkommenes Sinnen und Zweifeln. Heute aber hat sich das Sinnen und Zweifeln abgetrennt und sieht sich dem Ganzen gegenübergestellt. So fängt der Mensch an, denken wir, so haben auch wir angefangen und sind dabei geblieben. Unser Kind heftet das Warum? an jede Beobachtung, jedes Ding, jede Person, jeden Gedanken. Oder es sagt: Was ist das? Fragen, die in die Unendlichkeit führen, die uns auf die Unendlichkeit hinweisen wollen, aber ewig kann es dauern, bis wir das begreifen, nachdem wir ersteinmal tausend Antworten gegeben haben. Und am nächsten Tag fallen wir auf diese nachdrücklich unsere Eitelkeit stimulierende Art ein weiteres Mal herein. Der Hinweis auf die Unendlichkeit gilt aber nur uns (auch in diesem Punkt hat sich unser Kind von uns abgetrennt); für der anfänglichen Menschen selber ist das Fragen zuerst Ausdruck einer geringen Vertrautheit mit dieser Welt, mit unserer Welt. Es scheint wirklich zu glauben, dass wir (du, ich) uns hierin und hierin auskennen. Man kann uns immer fragen, auch dasselbe kann man mit uns zehnmal hintereinander erörtern, wir sind durchaus ausdauernd was das Befragtwerden angeht. Es ist, als würde der anfängliche Mensch aus unserem anfänglichen Meister (unserem Baby) einen Lehrer entstehen lassen, der nun plötzlich wir sind. Wir sind von der Schüler- auf die Lehrerseite gewechselt! Wirklich? fragen wir uns. Geben wir dem nach, folgen wir dem Lehrerruf, fängt unser Kind plötzlich an Ich kann das! zu rufen. Mit einer so deutlichen Betonung des Ich, das unseres, unser Lehrerich leichthin übertönt und überstimmt. Also sind wir weniger fürs Tun zuständig, als fürs Denken. Erklären gehört zum Denken und das Tun ist ein Vorrecht, in dem unser Kind Schüler und Meister in einem ist. Wir also, fragen wir uns (du fragst es mich, ich frage es dich), was sind wir? Nicht nur im eigentlichen, sondern im jeweils besonderen Sinn: was sind wir? (Wenn wir ein Ei mit der Messerklinge aufschlagen, wenn wir unser Kind zu überzeugen versuchen, dass die linke Sandale an den linken Fuß gehört und die rechte Sandale an den rechten Fuß, wenn wir gedrängt werden in die Kunknàszrolle zu schlüpfen.) Kunknàsz wurde unbemerkt geboren. Ein Verwirrung stiftendes Wesen, in dem Sinn, dass sein Aufenthaltshort schnell und dramatisch wechseln kann. Gerade eben war er noch im Auto, jetzt sitzt er oben auf der Vorhangstange. Kunknàsz: ein Wesen von wechselndem Alter. Meist ist er älter als unser Kind, aber er kann auch ein kleines Baby sein. Kunknàsz macht einiges falsch, er fährt einfach mit dem Laufrad über die Straße, obwohl er stehenbleiben sollte. Dann bekommt er mit unserem Kind Ärger und Belehrung. Kunknàsz ist auch guter Freund, der oft schon im Voraus zu wissen scheint, was unser Kind als nächstes unternehmen will. Kunknàsz ist kein anfänglicher Mensch, er ist überhaupt kein Mensch, er ist ein Kunknàsz. Er ist von größter Bedeutung, dann wieder hat er überhaupt keine Bedeutung, weil er nämlich verschwunden ist. Vom Erdboden und auch von der Vorhangstange. Kunknàsz wirkt wie das Alter Ego unseres Kindes, dann wieder scheint unser Kind das Alter Ego von Kunknàsz zu sein. Der anfängliche Mensch ist ein geübter Verschieber der Wirklichkeiten. Die Rolle zu wechseln fällt ihm leicht. Das unterscheidet ihn sehr vom Baby, das sich selbst immer treu geblieben, Baby geblieben ist. Kunknàsz ist sich genauso untreu wie unser Kind, beide könne kleine Känguruhs sein oder ganz kleine Rehe. Während wir also die Welt erklären, spielt unser Kind mit ihr, schlüpft in all das hinein, was wir erklären, oder zu erklären versuchen, jongliert mit der Bestimmung der Dinge, um uns die Mängel unserer Erklärungen aufzuzeigen. Oder geschieht nicht etwas ganz Anders? Ist es nicht der Intellekt, der immer und immer nach Zusammenhang sucht und forscht, der Verbindung entdeckt, wo scheinbar Unverbundenes war, der Rätsel lösen muss, eine Million Rätsel pro Tag und der nichts mehr fürchtet, als die Entstehung neuer Rätsel und nichts mehr herbeisehnt, als auch diese aufzulösen. Ein Verdacht verstärkt sich. In unserem Kind, in unserem anfänglichen Menschen ist der Intellekt erwacht, oder anders herum, als der Intellekt in ihm erwachte wurde es zum anfänglichen Menschen. Und nun treibt es mit seinem Warum? und Was ist das? und seinem Ich kann das! – und das ist die Pointe – ein Spiel mit unserem Intellekt, um ihn aus seiner Beschränktheit (gleichsam ein zweites Mal) erwachen zu lassen. Das kann unser Kind, weil es uns spürt. Es spürt uns in unserer physischen Dichte, ebenso wie in unserer Leere. Es ist so sehr Körper bei all seinen intellektuellen Tollereien, dass es die Selbstvergessenheit des Körpers noch nicht kennt (die, auf eine ganz andere, fortgeschrittene Weise, die Selbstvergessenheit des Intellekts ist). Irgendwann, heute, in dieser anfänglichen Zeit, sitzt unser Kind nach Ankündigung, Wunsch, Befehl: Ich will auf den Schoß, eben dort, ganz nah bei uns (bei dir oder bei mir), in dieser wärmenden und nährenden Nähe, die man sich von jedem guten Lehrer, der sich als Schüler verkleidet hat, wünscht. Dat is komisch, sagt unser Kind und deutet auf etwas, das wir nicht sehen können, das wir noch nicht entdeckt haben, das scheinbar spurlos um uns ist.

 

 

 

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Nachahmung

 

Ein durchaus selbsterschütternder Augenblick, wenn uns bewußt wird, dass unser Kind uns nachahmt. Diese Erschütterung hat aber nichts von einem Beben, dessen schreckliche Folgen wir fürchten oder einer schmerzlichen seelischen Verletzung, die wir jahrelang in uns tragen und mit uns herumtragen werden. Aber doch packt sie uns mit der gleichen Gewalt. Sie packt uns und rückt uns von der Stelle, an der wir uns bisher sicher und zuhause geglaubt haben. Blicken wir nur hinüber zu unserem Kind, das auf dem Sofa sitzt und in einem seiner Bücher liest, tatsächlich liest, auch wenn das, was es liest, seiner Fantasie entspringt und seinem Gedächtnis und achten darauf, in welcher Art und Weise es Sätze bildet und dabei die Füße übereinanderschlägt, erkennen wir Spuren unseres eigenen Seins in eben dieser Art und Weise wie es Sätze bildet und die Füße übereinanderschlägt. Die Anmutung ist fast: wir sind mehr als einmal (dieses Einemal, das wir selbst sind) da, aber nicht so, dass wir uns komplett verdoppelt hätten, sondern mehrfach (zumindest zweifach) in diesen deutlichen Lautfolgen oder Gesten, die auf eine sonderbare Weise auf die ganze Person hinweisen, ohne die ganze Person zu sein. Vielleicht erhöht diese Unvollständigkeit den leicht gespenstischen Eindruck, der uns vermuten lässt, alle menschlichen Eigenarten sind nur geliehene. Andererseits liegt darin auch etwas Beruhigendes: wir sind nicht dafür verantwortlich, wie wir Sätze bilden und die Füße übereinanderschlagen. Wir sind auch verantwortlich, aber da gibt es aus den sich kreuzenden Strömen der Generationen entstandene Vorfahren und Vorvorfahren, die ein gewichtiges Wort dabei mitreden. Wir überschätzen unsere eigene Mitbestimmung in unseren Angelegenheiten gerne, da schadet es nicht, wenn unser Kind wieder einmal Zweifel an der Festigkeit unseres eigenen Selbst sät. „Im Alter des Exhibitionismus“, schreibt Harold Brodkey in Profane Freundschaft, „wenn man klein ist, schimmert die Seele durch die Haut – die letztlich nur ein Wasserschleier über der Unschuld ist, welche durchscheint und auf anderen spielt wie ein Licht knapp unter der Wasseroberfläche.“ Wessen Seele so durchscheint, kann sie anreichern lassen, ohne ihre Schönheit zu beeinträchtigen. Nein, sie wird noch schöner, da sie aufnimmt, und sei es nur den Sound einer Stimme oder das Bild sich überkreuzender Füße. Sie fürchtet sich nicht, vor dem, was da draußen (an Land) sich so herumtreibt, aber sie nimmt auch nicht wahllos. Und sie nimmt, wenn sie nimmt, ganz. Das sind meine überkreuzten Füße dort drüben auf dem Sofa, denke ich, so detailgetreu in ihrer Haltung nachgemacht, nachempfunden, wie es nur ein Künstler vermag. Alles darin bin ich, alles darin ist mein Sohn. Es ist nichts, was man sonst im Leben mag oder sich gefallen lässt. Niemand darf uns nachmachen, dagegen sind wir allergisch, schon von früh an. Kein Pausenhof, auf dem nicht nachgeäfft würde, kein Kabarettist, der nicht mindestens einen Spruch oder eine Sprechweise einer bekannten Persönlichkeit in der Nachahmung konterkariert. Nachahmung ist gemein, sie trifft bis ins Mark, weil sie etwas in Frage stellt, was niemand in Frage gestellt sehen will: die eigene Integrität, kaum auf einer inhaltlichen, vielmehr auf der selbstischen Ebene. Ich bin, der ich bin, macht mich jemand nach, verunsichert er mich: so leicht bin ich zu durchschauen, so leicht kann jemand anderes sein wie ich, wo es mich doch soviel Mühe gekostet hat! Und hier das Gegenteil von all dem. Nach anfänglicher Irritation, stimmen wir (du, ich) zu, dass unser Kind Elemente unseres Ausdrucks kopiert, an sich anwendet und sich zu eigen macht. Ja, wir fühlen uns durch die Nachahmung geschmeichelt, was wir, würden wir sie durch andere als unser Kind erfahren, als Beleidigung empfänden. Das ist eben der große Unterschied: unser Kind verfolgt keine Absicht mit der Aneignung unserer Art zu sprechen, unserer Art die Füße zu kreuzen. Es nimmt uns, Teile von uns in sich auf, in Körper und Geist, nicht, weil es nicht anders kann, weil es muss, sondern freiwillig und bereitwillig. Diese Art der Osmose scheint mit Befriedigung und Freude einherzugehen, denn die Fröhlichkeit mit der unser Kind seine (deine) Sätze (nach) bildet und seine (meine) Füße überkreuzt, ist unüberhörbar, unübersehbar. Eine solche Nachahmung, frei von jeglichem Ressentiment, steht nur im uneitlen Dienste der Menschwerdung. Für uns (dich, mich) bedeutet sie – indem wir die Nachgeahmten sind – sogar eine zweite und neuerliche Menschwerdung, die uns vorkommt wie die Erlaubnis, ein neues Reich zu betreten, ein Schattenreich, in dem wir selbst die Schatten sind, Sommerschatten freilich, argloses Lichtflattern in einer überraschend geraden Allee, die dort hinaufführt, wo wir doch eigentlich herkommen. Und auf diesem Weg beginnt, dank der Nachahmung unseres Kindes, unsere Seele zu schimmern unter dem Wasserschleier unserer einstmals opaken Haut. (Und jetzt, in diesem Augenblick, als unser Kind etwas völlig Unerwartetes auf eine völlig unbekannte Art von sich gibt, einen Satz von so eleganter Schönheit und Sinnlichkeit, der uns verblüfft aufhorchen lässt, entdecke ich an dir eine nie zuvor gesehene Geste, mit der du mich darauf hinweist, und du gibst mir mit deinem Blick zu verstehen, dass auch du an mir ein nie zuvor bemerktes Lauschen entdeckt hast – Unnachgeahmtes?, fragen wir uns beide).

Imitation
 
Confounding, staggering, upsetting — these words certainly apply to the moment when we become conscious that our child is mimicking us. But this upheaval is nothing like an earthquake whose terrible afterschocks we might dread, or a painful injury to the soul that we will carry inside us and carry around with us for years. And yet it grips us with comparable force. It seizes hold and displaces us from the spot where previously we thought ourselves safe and at home. Now, when we look over to where our child sits on the couch reading in one of his books, actually reading, even if what he is reading springs from his imagination and memory, and when we take note of the way in which he forms sentences while crossing his feet, we recognize traces of our own existence precisely in the manner in which he forms his sentences and crosses his feet. Our impression is almost: we are there more than once (this Onlyness that we ourselves are), but not in such a way that we have completely doubled, but rather we see ourselves replicated (at least twice) in these clearly articulated sequences of sound or gesture that oddly suggest the whole person without being the whole person. Perhaps this incompleteness amplifies the slightly spooky impression that makes us suspect that all human idiosyncrasies are merely borrowed. On the other hand, there is something reassuring in it: we are not responsible for the way we form sentences and cross our feet. We are also responsible, but there are predecessors and pre-predecessors, born of the crisscrossing streams of the generations, who have a weighty say in the matter. We like to overestimate our own part in shaping our affairs, so there’s no harm if our child once again sows doubts in the solidity of our own selves. “In the age of exhibitionism,” Harold Brodkey writes in Profane Friendship, “when one is small the color of the soul is reflected luminously outward — the skin is, after all, merely a film of water over one’s innocence which comes and plays on others like a light from barely underwater.” One whose soul shines through like this can allow it to augment without compromising its beauty. No, the soul’s beuty is increased by whatever it takes in, be it merely the sound of a voice or the sight of crossed feet. It does not fear what is drifting about out there (on shore). But what it takes in is not taken randomly.  And whatever it takes in is taken whole, in its entirety. Those are my crossed feet over there on the couch, I think, imitated, recreated, in every detail, with an accuracy that only an artist could achieve. Everything in that gesture is myself, everything in it is my son. This is not something one usually likes to encounter in life. No one should imitate us; we are allergic to this sort of thing, from an early age on. There is no schoolyard without mimicry, no cabaret artist who does not impersonate or caricature some celebrity’s way of talking. Imitation is nasty, it strikes our core, because it puts something in question that no one wants to see put in question: one’s own integrity, hardly on the level of content, but rather on the level of self. I am who I am, and if someone imitates me, I am unsettled: that it is so easy to see through me, so easy for someone else to be like me, when it took me so much effort! And here, the opposite of all that. After an initial irritation, we (you, I) agree that our child is copying elements of our expression, applying them to himself and making them his own. Yes, we feel flattered by the imitation, which is something that would insult us if it were done by someone other than our child. Just that is the big difference: our child is not pursuing an intention in appropriating our way of speaking, our way of crossing our feet. He is incorporating us, parts of us, in body and mind, not because he cannot help it, because he has to, but voluntarily and willingly. This kind of osmosis seems to go hand in hand with satisfaction and joy, for the cheerfulness with which our child forms his (reproduces your) sentences and crosses his (my) feet, is unmistakeable. Such imitation, devoid of any resentment, is performed in the unpretentious service of becoming a human being. For us (you, me) — in that we are the ones imitated — it even represents a second and new incarnation, which feels to us like a permission to enter a new kingdom, a realm of shadows in which we ourselves are the shadows: summer shadows, admittedly, a harmless flickering of light in a surprisingly straight avenue that leads up to where we essentially come from. And on this path, thanks to our child’s imitation, our soul begins to shimmer beneath the watery veil of our formerly opaque skin. (And now, at this moment, as our child utters something completely unexpected in a completely unfamiliar manner, a sentence of such elegant beauty and sensuality that it startles us into astonished listening, I discover in you a gesture I have never seen in you before, with which you draw my attention to that, and you indicate with a glance that you too have discovered in me a kind of listening you never noticed before — something unimitated?, we both ask ourselves).

 

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Der Nerv, der wir sind

Einen Bogen nerven, das bedeutet ihn mit einer Sehne zu bespannen. Sind wir nicht starre Bögen, die sich erst biegen und unter Spannung bringen lassen, wenn die Sehne unsere Enden miteinander verbindet? Oder sind wir (ursprünglich tonloser) Resonanzkörper, in den ein Nerv, eine Saite eingespannt wird, oder mehrere Nerven, mehrere Saiten, die uns zum klingen bringen? Der erzeugte Ton kann durchaus schmerzhaft sein, ein besonderer Ton ist das, weil er uns lebendig macht, was wir begrüßen, andererseits aber so sehr in das Lebendige hineinzieht, das wir uns manchmal überspannt vorkommen und den Wunsch verspüren, in den tonlosen Raum zurückzukehren. Unser Kind ist jetzt ein fleißiger Bogenbieger und Saiteneinspanner geworden, kaum zu glauben, wieviel Kraft in ihm steckt (oder sind wir so schwach? Gerne schwach?) Auch mit einem Pullover lässt sich randalieren. Umso mehr, wenn unser Kind den Schwung ohne die geringste Rücksicht ausführt. Ein ums andere Mal, wieder und wieder wirbelt der Pullover durch die Wohnung, bis er eine Stehlampe so zu Boden wirft, dass ein Gelenk bricht (irreperabel, ganze Arbeit). Genausogut kann unser Kind den Spiegel im Flur mit dem Schuhlöffel malträtieren oder den Küchentisch mit Messer und Gabel. Mit dem selben Messer, mit dem man sich doch auch das Essen in den Mund schieben oder es von der Klinge abschlecken kann. Überhaupt klopfen, alles lässt sich mit allem beklopfen, aber nicht allem bekommt das gut. Manchmal geschieht es aus dem wissenschaftlichen Impuls heraus, die Reaktion der Dinge zu untersuchen, manchmal ist es aggressive Lust (oh ja, unser Kind ist kein Lämmchen), manchmal steckt der Wunsch dahinter, auf die gerade lähmende Langeweile hinzuweisen, manchmal ist es Provokation, die sich dem Studium unseres Gleichmutes und unseres Neins widmet. In jedem Fall steigert sich unsere Erregung (glücklicherweise anders und zu anderem Zeitpunkt in dir als in mir), bringt uns heftig in Schwingung, lässt uns durchaus laut werden. Entfährt uns ein Schrei, zucken wir selbst zusammen; häßlich ist der Ton des Schreis, die Saite schwingt zu heftig, schlägt an den Körper, der sie trägt, biegt den Bogen nahe bis ans Brechen; der Schrei ist ein Ungeschick, in dem wir uns verlieren. Aber der Schrei ist auch interessant für alle Beteiligten. Denn wir können uns in ihm durchaus wiederfinden, wenn wir ihn ohne schlechtes Gewissen, volltönend, in klarem Bewußtsein hervorbringen. Wenn wir uns von einem bösen Dämon nicht zum schreien verführen lassen, sondern bei dem einen Schrei bleiben, bei dem einen deutlichen Wort, das sich rasch ausdeht, platzt und als kurzer, kräftiger Regenguss über den Angeschrienen niedergeht. Es kommt selten vor, auch wenn uns öfter danach zumute ist. Wir könnten den Eindruck gewinnen, dass unser Meister urplötzlich mit gesteigerter Kraft uns auf die nächste Stufe der Belehrung führt. Alles, was bisher geschah, war ein Kinderspiel (oder Babyspiel; es ist nichts ganz Neues, wir kennen die sich steigernde Anforderung unseres Meisters schon, wir wissen, er geht so sorgsam mit uns um, will uns nicht überfordern, trotzdem überraschen uns die Sprünge jedesmal wieder und wir denken, wie können wir diese Aufgabe lösen?). Die erworbene Sprache stärkt unser Kind zusätzlich. Jetzt steht es vor uns da und wirft uns einen Gegenstand vor die Füße, das Telefon. Beim ersten Mal landet es noch weich auf dem Teppich, beim zweiten Mal – mittlerweile haben wir unseren Unmut über diesen Telefonwurf geäußert – verteilt es sich auf dem Parkett. Der hintere Deckel fliegt durchs Zimmer und die beiden Akkus hinterher. Das Funkeln in den Augen unseres Sohnes beim zweiten Wurf ist voller Erwartung. Es ist überaus spannend, Eltern zu haben, was werden sie tun, was werden sie sagen, wie finden sie es, wenn ich dem, was sie sagen, nicht zustimme? scheint unser Kind zu denken. Ja, es fordert unseren tieferen pädagogischen Sinn heraus, der uns ersteinmal auf unseren Atem achten lässt. Wir sind keine Automaten, die sofort (ohne zuvor zu atmen) reagieren müssen. Überdehnt unser Kind unseren Nerv, schaffen wir mit unserem Atem einen geweiteten Raum, in dem dieser Nerv seine ganze Amplitude nutzen darf. So lassen uns nicht von unseren eigenen Nerven auspeitschen. Unser Kind mag einen Nutzen daraus ziehen, wie klug und deutlich wir uns verhalten. Wie wir unsere Stimme mäßigen und ihr dadurch Klarheit verschaffen, wie wir das, was unser Kind tut, nicht persönlich nehmen (wir sind Schüler! wir sind Schüler! rufen wir uns dabei zu), wie wir bekannt geben, was erlaubt und was nicht erlaubt ist, ohne uns als Götter aufzuspielen. Ja, unser Kind wird einen Nutzen aus unserem Verhalten ziehen, wenn wir selbst aus unserem Verhalten das Nützliche filtrieren. Die richtigen Regeln des Tuns, die notwendige Moral locken uns nur zu gern in die Falle, uns in ihnen und in ihr zu verlieren. Erst in dem Moment, in dem wir die Erregung, die uns angesichts einer ungeheuren Provokation eines winzigen Menschleins packt, ins Weite, Leere schwingen lassen, können wir zu uns selbst zurückkehren. (Das kommt uns noch besser vor als der bewußte Schrei.) Unser großer Nutzen dieser Übung ist, zum richtigen Sprechen zurückzufinden. Dazu treibt unser Meister uns an. Immer wieder und wieder und wieder. Mit ungeheurer Energie und Kraft stößt er uns in die gleichen, nervigen Situationen. Es ist, als müssten wir die Vielfalt der Zumutungen erst ertragen, dann abschütteln, um zu unserer heilige Einfalt zurückkehren zu können. Ein Telefon ist dann nicht mehr als ein Telefon. Ein zu Boden geworfenes Telefon ist nicht mehr als ein zu Boden geworfenes Telefon. Ein vor meine, deine Füße geworfenes Telefon ist nicht mehr als ein vor meine, deine Füße geworfenes Telefon. Und dann sprechen wir ganz einfach, den Ton, den wir anschlagen, halten wir schlicht, gut hörbar, unüberhörbar, glauben nicht an seine Einzigartigkeit, wissen, wir müssen ihn oftmals, vielmals in uns bilden, finden in der Wiederholung nicht Schwächung, sondern Kraft, bis uns endlich die Augen aufgehen, und wir sehen, weshalb wir sagen und tun, was wir sagen und tun: es ist der Kontakt zu unserem Kind, die Verbindung zu ihm, die Begegnung mit ihm (wir dachten, dies sei selbstverständlich, hätte natürlicherweise schon immer stattgefunden, jetzt erkennen wir, der Kontakt, die Verbindung, die Begegnung ist Arbeit des Schülers, so schwer, wie die richtige Stimmung einer Saite das beste Gehör erfordert; wir dürfen nicht vergessen: wir besitzen kein Stimmgerät, auch würde es uns nichts nützen. Unser Eigenklang, denken wir, kleben den angebrochenen Deckel des Telefons mit Tesafilm fest und tragen es zurück auf seine Ladeschale, während unser Kind uns bei alldem aufmerksam zusieht).

 

The nerve that we are

In German, the phrase “to string a bow” — “einen Bogen nerven” — acquires an odd ambiguity, allowing the “string” to double as a “nerve.” Are we not rigid bows that can only be bent and brought into pliant tension when a taut string connects our ends to each other? Or are we an (originally toneless) soundbox, into which a nerve, a string, is strung, or several nerves, several strings, that cause us to resonate? The tone that is produced may very well be painful, a special tone in that it makes us alive, an effect which we welcome, even as, on the other hand, it draws us into aliveness to such an extent that we sometimes feel stretched beyond comfort and wish we could return to toneless space. Our child has now become a busy bender and stringer of bows, hard to believe how much strength there is in him (or are we so weak? Liking to be weak?) Even a sweater can serve for a rampage. All the more when our child swings the garment without the slightest consideration. Time and again, over and over, the sweater whirls through the apartment, until it topples a standing lamp so effectively that a joint breaks (irreparably, god job). Our child can just as well abuse the hallway mirror with a shoe horn or the kitchen table with a knife and a fork. With the same knife one can use to shove food into one’s mouth or to lick it off the blade. Knocking is the general procedure, everything can be knocked against anything, but not everything fares well in the process. Sometimes the act springs from the scientific impulse to explore the way things react, sometimes it is an act of aggressive pleasure (yes, our child is not a little lamb), sometimes what’s behind it is the desire to point out the paralyzing boredom that may be prevailing at a given moment, sometimes it’s a provocation dedicated to the study of our equanimity and our No. Each time, our excitation increases (fortunately in a different manner and at different times in you than in me), setting off intense vibrations within us, which in turn incite us to become quite loud. Whenever a shout escapes us, we cringe, the sound of a shout is ugly, the string is vibrating too intensely, it springs back against the body that holds it, bends the bow close to the breaking point; the shout is a mishap, an awkwardness we get lost in. But the shout is also interesting for all participants. For we can definitely rediscover ourselves in such a shout if we produce it without a bad conscience, sonorously, in clear awareness. If we don’t permit ourselves to be lured into ranting by some evil demon but remain with the single shout, the one clear word, which expands quickly, bursts, and descends upon the one shouted at as a brief, energetic downpour. It happens rarely, even though we often feel like doing it. This could lead us to suppose that all of a sudden our master is taking us to the next level of instruction with increased vigor. Everything that happened until now was child’s play (or baby’s play; it’s not something completely new, we are already familiar with our master’s increasing demands, we know he is treating us with such solicitous care and does not want to expect too much of us, but nevertheless these transitionless leaps surprise us every time, and we think: how can we solve this task?). The acquisition of language fortifies our child additionally. Now he stands in front of us and throws an object at our feet, the telephone. The first time, it still lands softly on the rug; the second time – by now we have voiced our displeasure at this tossing of the phone – its constituent parts scatter across the parquet floor. The back cover flies through the room, followed by the two batteries. The gleam in our son’s eyes at the second throw is full of expectation. It’s quite exciting to have parents, our chuld seems to be thinking, what will they do, what will they say, how do they respond when I don’t agree with what they say? Yes, he is calling upon our deeper pedagogic instincts, which have us attend to our breathing before anything else. We are not robots who must react instantly (without breathing first). If our child strikes a nerve with what seems undue stress, we use our breath to create an expanded space in which this nerve can find its full amplitude. In this way we don’t allow ourselves to be whipped by our own nerves. Our child may derive some benefit from the clear and intelligent way we comport ourselves. The way in which we moderate our voice and thereby endow it with clarity, the way we don’t take what our child does personally (we are pupils! we are pupils! We call out to each other), the way we disclose what is permitted and what is not permitted without pretending to be gods. Yes, our child will derive benefit from our comportment if we ourselves distil what is useful in our comportment. The right rules of behavior, the necessary morality all too gladly lure us into the trap of losing ourselves in them and in it. Only at the moment when, in the grip of an agitation that has seized hold of us in view of an enormous provocation on the part of a tiny human being, we let that arousal vibrate out into vast empty space, can we return to ourselves. (This seems even better to us that the conscious shout.) The great benefit of this exercise for us is that it guides us back to true speech. That is what our master is impelling us to do, again and again and again. With tremendous strength and energy he pushes us into the same nerve-wracking situations. It’s as if we had to first endure and then shake off tall the varieties of annoyance in order to return to our own holy simplicity. Then a telephone is no more than a telephone. A telephone thrown to the ground is no more than telephone thrown to the ground. A telephone thrown at my, your feet is no more than a telephone thrown at my, your feet. And then we speak very simply, and the tone we strike is level, audible, unmistakable, we don’t believe in its unique significance, we know we must form this tone often, many times, within ourselves, finding in its repetition not a weakening but strength, until finally our eyes open and we see why we are saying and doing what we say and do: it is our contact with our child, our connection with him, our engagement with him (we thought this was obvious, that it had been happening all along in a natural course, but now we realize that contact, connection, engagement are the pupil’s work, as difficult as tuning the string of an instrument requires the most acute sense of hearing; we must not forget: we do not posses a tuner, nor would it help us if we did. Our own innermost sound, we think, pasting together the cracked back of the telephone with scotch tape and carrying it back to its charging tray, while our child watches us attentively).

 

 

 

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Oh du süße Gewohnheit des Daseins!

Im Fall unseres Kindes scheint die Gewohnheit nicht der Dauer zu entspringen. Seine Lust am Leben lässt sich nur anders erklären. Dort, wo schon das Baby herkam, und welche Herkunft das Kind weiter in sich trägt, war es gewohnt, sich durchgehend am Dasein zu erfreuen. Am Dasein, das noch ein Vordemdasein war. Die Freude war gewohnt wie gewöhnlich. Nichts musste sie erst erregen, niemand brauchte sie zu befeuern, kein Ding oder Ereignis oder Wesen konnte sie schmälern. Aus dieser Gewohnheit heraus geschah die Geburt. Die Gewohnheit konnte ungeschmälert das Tor der Geburt passieren. Eine leichte Mitgift ist sie, die sich bis heute noch nicht verbraucht hat. Die Kratzer, die sie erworben hat, blässen nicht ihren Glanz, im Gegenteil, lassen sie sie noch interessanter erscheinen. Ohne Scheu und Scham feiert unser Kind das Leben. Was soll man sonst anfangen mit dem Leben? Keine Scheu: das, was das Leben anbietet oder wie es sich zur Verfügung stellt, wird genommen. Das andere Leben, ein anderes Leben gibt es nicht. (Wir, du, ich, die wir nicht selten im anderen Leben unterwegs sind oder glauben das Leben umgestalten zu können, und dann tatsächlich Umgestaltung finden oder an Umgestaltung arbeiten, um vielleicht gleich wieder das Umgestaltete umzugestalten – wir rätseln über den Blick unseres Kindes, der nur dem einen Leben gilt, so als gäbe es kein anderes. Ein größerer, weiterer Blick als unser eigener, dessen Enge wir manchmal spüren, wenn er sich zusammenzieht, fokusiert, ein körperliches Kleinerwerden, den mit unserem kleinen Blick werden wir selbst kleiner. Deshalb also erscheint uns unser Kind, dank seines großen Blicks, oft größer, weit größer als wir es sind.) Ohne Scheu: nichts stößt ab. Die angetrocknete Hundekacke an einem Bodengitter erweckt das gleich große Interesse wie die ersten Erdbeeren beim Obst- und Gemüsehändler. Dass die einen schmackhaft sind, das andere ungenießbar, ist mehr Beweis, dass die ganze Welt begrüßt wird, als dass wir von Anfang an in einen (am Ende der Vermutung noch objektiven) Dualismus hineingeboren worden sind, der fortan unser Trachten und Sinnen beherrscht. Oh ja, unser Kind lehnt auch ab, viel besser, viel eindeutiger, als wir ablehnen (da wir doch leicht umzustimmen sind, uns leicht ins Wanken bringen und uns von Argumenten verwirren lassen), seine Ablehnung ist kolossal, laut, direkt, ungehemmt, aus der Lust heraus, die nur die süße Gewohnheit des Daseins hervorzubringen vermag. Nein zu sagen, ist die eleganteste Weise dem Dasein zu schmeicheln (eine Kunst, die uns Erwachsenen abhanden gekommen ist, weshalb wir dem Kindernein, so es uns nicht auf dem falschen, erwachsenen Fuß erwischt, mit großem Entzücken unsere Aufmerksamkeit schenken), wie das Ja sagen die nicht weniger elegante Weise ist, dem Dasein die Stirn zu bieten (wir erinnern uns, wie unser Kind kaum konnte es seinen Kopf halten, eine große Neigung entwickelte, seine Stirn an unsere zu lehnen; der unter dem Druck der Schädelknochen entstehenden Hitze, verdankte sich der Eindruck eines Ineinanderverschmelzens ohne dabei den Abstand zueinander  zu verlieren). Vielleicht noch bedeutsamer als die Unscheu ist der Mangel an Scham. Nicht schamlos, sondern ohne Scham. Ohne Scham zeigt das Kind sich selbst, in Rede, Wort und Tat, mit der Kraft seiner Stimme, der Beweglichkeit seines Körpers. Nur wer sich selbst zeigt, dem zeigt sich die Welt. Nichts wissen wir vom Reichtum, den unser Kind empfängt, wenn es scheinbar ziellos herumläuft oder nur auf dem selben Fleck steht. Wo wir denken, es sei nichts, dort ist die Fülle. Ohne Scham heißt nicht nur, sich selbst der Welt zeigen, sondern auch die Welt in deren Schamlosigkeit empfangen (ja, die Welt ist schamlos, roh, wüst, wild, überfließend, ungerecht, tödlich ungerecht, gemein, kalt wie überhitzt). In der Unkenntnis der Regeln und Zusammenhänge (wir sind ehrlich: hat sich nicht in uns ein Widerwille gegen diese Regeln und Zusammenhänge in unser Erwachsensein hinübergerettet, der manchmal in den kindischten Momenten ausbricht?) erkennt unser Kind das Detail wie den Kosmos. Regeln und Zusammenhänge verstellen den Blick, sie sind eitel und pochen wir auf sie, wird unser Kind seinerseits darauf pochen, sie in Frage zu stellen. Allgemein denken wir, in der regellosen, zusammenhanglosen Welt des Kindes, müsste es ohne unseren Beistand zugrunde gehen. Finden wir nicht in seiner Nachahmung unserer Regeln und Zusammenhänge  Bestätigung dieser Annahme? (Oh ja, natürlich, das Kind braucht Zügel, aber aus welchem Material sollen sie geflochten sein, wo an ihm befestigt werden?) Und schamlos erkundet es seinen Körper, mögen wir oder sonst jemand neben ihm stehen oder nicht. Sein Körper ist eines der unzähligen Dinge, die zu betrachten sich lohnt. Das allein verbindet ihn mit der ganzen dinglichen Welt, dass es kaum unterscheidet zwischen dem Ding, das es selbst ist und all den anderen, die es nicht ist. So kann es gleichsam alle Dinge sein, vielleicht nur für einen Moment, doch ein Kindermoment dauert ewig. Deshalb spricht es gern von sich in der dritten Person, auch wenn es die erste verwendet, von seinem Schmerz und seinen Tränen nach einem Sturz mit dem Laufrad wie von einem anderen: da mutte ich weinen. Der Schmerz, die Tränen: so gut sie seine sind, sind sie Schmerz und Tränen der anderen, aller anderen. Groß ist das Interesse am Körper, am Schmerz, an den Tränen der anderen (wie klein dagegen unseres). So ist die süße Gewohnheit des Daseins womöglich nichts Eigenes, nichts, das einem bestimmten Kind zuzusprechen wäre, so ist die süße Gewohnheit des Daseins nur erfahrbar in der Ungetrenntheit aller Wesen, höchstens noch einer sehr mäßigen Getrenntheit, die fast noch ein Spiel ist. Spielt nicht unser Kind alles, was es ist und was es sein kann mit der gleichen Inbrunst mit der es ein Päckchen Himbeeren verspeist? Großer Spieler, der es ist, hat es sich seinen tiefen Schlaf nach des Tages süßer Gewohnheit verdient. (Den tiefen Schlaf, den es selten unterbricht. Einmal, neulich, war so eine Unterbrechung. Es erhob sich aus seinem Bett, tappste durch den Flur, drückte die Wohnzimmertür auf, lächelte und ließ sich zurückbegleiten in sein Zimmer. Am nächsten Morgen, es war das erste Mal, dass es von solch einem Vorgang sprach. Es erinnerte sich: dann bin ich ins Wotala gekommen, da warst du, und dann bin it wieder schrafen gegangen. – Es kennt jetzt also den Unterschied zwischen Wachen und Schlafen, wird dies seine süße Gewohnheit verändern?)

 

Oh you sweet habit of being!

In our child’s case, habit does not seem to have its source in continuity. There is no other way to explain his pleasure in living. Wherever the baby came from, an origin the child continues to bear within himself, he was in the habit of thoroughly enjoying the bare fact of existence. An existence that was still pre-existent. This pleasure was as habitual as it was ordinary. Nothing was needed to bring it into being, no one needed to ignite it, no thing or event or creature could diminish it. This habit was the matrix in which and from which his birth took place. The habit was able to pass through the gate of birth undiminished. It is an all but weightless endowment that has not been depleted as of this day. It has received some scratches, but these do not diminish its luster; on the contrary, they make it more interesting. Our child celebrates life without inhibition or shame. What else should one do with life? No inhibition: Whatever life has to offer, is taken. The other life, another kind of life, does not exist. (We, you, I, who are not infrequently engaged in another life or think we could rearrange the life that we have, and then actually find or work at such rearrangement, in order perhaps to rearrange that rearrangement again — we puzzle over our child’s gaze, which is directed only at the one life, as if there were no other life to consider. A larger, more ample view than our own, whose narrowness we sometimes feel as it contracts and focuses, a physical shrinking, for with our small view we ourselves become smaller. That is why our child, thanks to his large view, often seems bigger, much bigger than we are.) No inhibition: nothing repels him. Dried dog shit on a floor grill awakens the same interest as the first strawberries at the greengrocer’s. That the shit is unpalatable and the berries taste good is more evidence that the whole world is welcomed than that from the beginning we were born into a (presumably objective) dualism that henceforth governs all our wants and desires. Oh yes, our child knows how to reject as well, and much better, more unequivocally than we do (since we are easily dissuaded, shaken, confused by arguments), his rejection is colossal, loud, direct, unrestrained, out of the pleasure that only the sweet habit of being can produce. Saying no is the most elegant way of flattering existence (an art that we adults have lost, which is why the child’s No, when it does not catch us on the wrong, adult foot, elicits our most delighted attention), just as saying yes is the no less elegant way of confronting existence (we remember how our child, when he was barely able to hold up his head, liked to press his forehead against ours, the heat produced by the pressure of the skull bones resulting in an impression of blending into each other). What is perhaps even more significant than a lack of inhibition is the absence of shame. Not shamelessness, just a lack of shame. Our child shows himself without shame, in speech, word, and deed, by the strength of his voice, the mobility of his body. Only to him who shows himself does the world show itself. We know nothing of the wealth our child receives in his seemingly aimless running around, or when he merely stands still in one spot. Where we think there is nothing, there is plenitude. To be without shame means not only to show oneself to the world but also to receive the world in its shamelessness (yes, the world is shameless, rough, heedless, wild, overflowing, unjust, lethally unjust, nasty, as cold as it is overheated). In his ignorance of the rules and reasons (honestly: hasn’t a repugnance against these rules and reasons stayed with us into our adulthood and sometimes break out at the most childish moments?) our child recognizes both detail and cosmos. Rules and reasons obstruct the view, they are vain and when we insist on them, our child will likewise insist on putting them in question. Generally we think that in our child’s random, disjointed world he would perish without our assistance. Don’t we find confirmation of this supposition in his imitation of our rules and reasons? (Oh yes, of course, the child needs to have reins put on him, but of what material should they be woven, and on what part of him should they be fastened?) And he explores his body, shamelessly, no matter who is standing next to him. His body is one of the countles things that are worth observing. That alone connects him to the whole tangible world, so that he barely distinguishes between the thing he himself is and all the other things he is not. So he can, as it were, be all things, if ony for a moment, but a child’s moment is eternal. That is why he likes to refer to himself in the third person, even when he is using the first, to tell of his pain and his tears after a fall on his strider bike as if he were someone else: then I had to cry! The pain, the tears: as much as they are his, they are the pain and the tears of others, of all others. Great is his interest in the body, the pain, the tears of others (how small is ours by comparison). Thus the sweet habit of being is perhaps not anyone’s own, not something that could be attributed to a particular child, thus the sweet habit of being can only be experienced in the inseparability of all beings or at best in a very moderate separateness that is almost still play. Does our child not play at everything that he is and can be with the same passion with which he devours a package of raspberries? Great player that he is, by the end of a day of sweet habit he has earned his deep sleep. (The deep sleep which he rarely interrupts. Once, recently, there was such an interruption. He rose from his bed, toddled down the hallway, pressed the latch of the living room door, opening it, smiled, and let himself glide back into his room. The next morning — it was the first time he spoke about such an event — he remembered: then I went to the libbyroo, you were there, then I went back to sweep. — So now that he knows the difference between sleeping and waking, will this sweet habit of his change?)

Das vierte Jahr

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Von oben nach unten und zurück

Das Kind. Über den Dächern von Paris. Es steht vor der getönten Scheibe der obersten Etage des Centre George Pompidou und blickt still nach unten. Sein Kopf sinkt langsam nach vorne, bis die Stirn am Glas lehnt. Die Hände, die bisher noch in den Hosentaschen der gestreiften Latzhose steckten, kommen hervor, öffnen sich und legen sich links und rechts seitlich des Kopfes an die Scheibe. Jetzt sagt das Kind leise etwas zu sich, aber wir können es nicht verstehen. Langsam wandern wir durch die Ausstellung, entfernen uns mal mehr, mal weniger von unserem Kind, ohne uns je zu sorgen, wir könnten es verlieren. Wie auch könnte ein kleines Kind inmitten von Bildern verschwinden? Unser Kind? Ein Bild von einem Kind? Es gibt diese Momente, da wir weniger das reale Kind sehen, als vielmehr das Bild eines Kindes, das dadurch aufhört, zu jemandem zu gehören. Aber so genau wissen wir nicht, was ein Bild ist, nein, wir wissen es überhaupt nicht, können es nicht wissen, da kommt uns diese große Ausstellung mit Bildern von Cy Twombly hier oben ganz recht. (Wir könnten uns auf der Stelle widersprechen und behaupten, wir wissen ganz genau, was ein Bild ist, es ist das, was wir am allerbesten wissen, doch wir heben uns unseren Widerspruch für später auf.) „Es ist ein auffallendes Paradoxon in allen Kindermythen, dass einerseits das »Kind« übermächtigen Feinden ohnmächtig ausgeliefert und von beständiger Auslöschungsgefahr bedroht ist, andererseits aber über Kräfte verfügt, welche menschliches Maß weit übersteigen.“ schreibt C. G. Jung in Zur Psychologie des Kinderarchetypus. Ein Kinderarchetypus ist nichts anderes als ein Bild, das alle Menschen in sich tragen. Gerade kommt uns vor, als hätte dieses Bild konkrete Form angenommen, als könnten wir es außerhalb unserer selbst betrachten, wodurch unser Kind – obwohl es dort drüben steht – gleichsam verschwindet. So wird unser Kind, unser echtes, eigenes Kind zu etwas Inwendigem, das sich dort drüben vor den tausend sandfarbenen Schornsteinen (eigenartig kantige Gewächse, die aus dem dächernen Urgrund der Stadt emporwachsen) materialisiert hat: es kommt uns wie ein Fremder vor. Wie jemand, dem wir noch nie begegnet sind, ein ganz und gar Fremder. Weniger noch als ein Fremder, oder weit mehr als ein Fremder: Bilder sind viel weniger stabil, als es scheint, sogar diesem konkreten Bild eines Kindes droht seine Unfassbarkeit, wenn wir es anschauen. Andererseits sind Bilder viel stabiler, viel hartnäckiger, wetterbeständiger, unübertrefflicher, konkreter als konkret, als alles, was nicht Bild ist. Das Kind ist unsere Schwäche, die verletzbarste aller menschlichen Entwicklungsstufen, es ist unsagbar klein, aber dann ist es Supermensch, kann fliegen und durch Wände laufen, dank eines unbesiegbaren Willens, gegen den unser eigener nur ein Willchen ist. Im Bild des Kindes, das wir innen wie außen betrachten können, finden wir uns wieder: „kleiner als klein und größer als groß“. Sehen wir allerdings wieder hinüber zu unserem Kind, hat es sich schon wieder verwandelt. Es ist die Tücke (und durchaus gütige Heimtücke) des Bildes, dass es nur zu gerne seine Festigkeit vorgaukelt, um uns im nächsten Augenblick mit vollständiger Wandlung zu überraschen. (Wir haben Lust zu behaupten, Cy Twombly malt Archetypen, oder anders, so wie er malt, zeigt er uns, dass auch der Kindarchetypus etwas ist, das unter unserem Blick schmilzt, dass Bilder immer irgendetwas erkennen lassen, dass das Bildhafte die wundersamsten Verwandlungen durchläuft und sich doch immer gleich bleibt. Es wird uns besonders deutlich in Nine Discourses on Commodus, vor allem im sechsten Bild. Ist es nicht bezaubernd, dass unser Kind nichts einbüßt, wenn wir es als wenig gefüllte graue Leinwand betrachten, auf der es gerade explodiert ohne dabei seine Gestalt einzubüßen?) Unser Kind: wir rutschen von dem einen Bild ins andere, vom Konkreten ins Gefühlte, Geglaubte, Gedachte. Die Dächer von Paris: hier oben sein ist wie auf den Dächern leben; vielleicht ist gar nichts unter den Dächern. Zurück bei unserem Kind (es ist nicht durch die große Scheibe hinausgetreten, um nach einem kleinen Rundflug in einen der tausend Schornsteine hinaubzutauchen), beschließen wir, im Café etwas zu trinken, Wasser und Kindercappuccino. Erst kleckert es mit dem Milchschaum, dann verschüttet es Wasser, als es nach dem Glas greift. Eine kurze harmlose Auflösung eines ordentlichen Cafébesuchs ist das, was uns sofort glücklich macht. Es ist die Fortsetzung eines guten, gelungenen Ausstellungsbesuchs. In diesem Augenblick kommt das Allgemeine unseres Kindes mit seinem Besonderen zur Deckung. Wußten wir nicht schon immer, dass Kinder gefährlich sind? (Weil sie über allen Dächern stehen?)

 

From top to bottom and back again

The child over the roofs of Paris. Standing in front of the tinted plate glass window on the top floor of the Centre George Pompidou and gazing down silently. His head sinks slowly forward until his forehead is leaning against the glass. His hands, which a moment ago were still stuck inside the pockets of his striped overalls, come out, spread and lay themselves to the left and right of his head against the glass. Now the child softly says something to himself, but we cannot make it out. Slowly we walk through the exhibition, moving away from our child at times, then moving closer to him again, without worrying that we might lose him. How could a little child get lost in the midst of pictures? Our child? A picture of a child? There are moments when we don’t see our child so much as an image of a child, which thereby ceases to belong to anyone. But we’re not all that certain as to what is an image, in fact we don’t know it at all, cannot know it, and so this large exhibition of pictures by Cy Twombly seems well-timed indeed. (We could immediately contradict ourselves and assert that we know very well what an image is, it’s precisely what we know better than anything else, but we set our objection aside for later.) “It is a striking paradox in all the myths of childhood that on one hand the ‘child’ is helplessly at the mercy of all-powerful foes and constantly threatened with extinction, while on the other hand he possesses powers that far exceed all human capacity,” writes C. G. Jung in The Psychology of the Child Archetype. A child archetype is nothing other than an image that all human beings carry within themselves. Just now it seems to us as if this image had assumed concrete form, as if we could observe it outside ourselves; consequently our child — though he is standing over there – disappears, as it were. Thus our child, our genuine, own child, becomes something inner that has materialized out there in front of the thousand sand-colored chimneys (oddly hard-edged plants that have grown from the roofy ground of the city): he seems like a stranger. Like someone we have never met before, or far more than a stranger: images are much less stable than they appear to be, even this concrete image of a child is threatened by its incomprehensibility when we look at it. On the other hand, images are much more stable, much more stubborn, weather-resistant, unsurpassable, more concrete than concrete, than anything that is not an image. The child is our weakness, the most vulnerable of all human stages of development; it can fly and walk through walls, thanks to an unconquerable will, compared to which our will is a tiny thing. In the image of a child, which we can consider from outside and inside, we find ourselves again: “smaller than small and greater than great.” If we now look back at our child, however, he has already changed. It is the guile (and the thoroughly kindly insidiousness) of the image, that it loves to tease us with its apparent solidity only to surprise us at the next moment with a complete transformation. (We are tempted to assert that Cy Twombly paints archetypes, or, to put it differently, that the way he paints shows us that the child archetype, too, is something that melts beneath our gaze, that images always indicate something, that imagery undergoes the most wondrous transformations and yet never ceases to be itself. This becomes particularly obvious to is in Nine discourses on Commodus, especially in the sixth painting. Is it not marvelous that our child loses nothing if we regard him as a sparsely filled gray canvas on which, just now, he is exploding without thereby losing his likeness?) Our child: we slide from one configuration to the next, from the concrete, to the felt, the believed, the imagined. The roofs of Paris: to be up here is to be living on the roofs; maybe there is nothing beneath the roofs. Back with our child (he did not step through the great window to sail around and dive into one of the chimneys), we decide to drink something in the café, water and a children’s cappuccino. First he makes a small mess with the foamed milk, then he spills the water as he reaches for the glass — a brief harmless dissolution of our well-mannered café visit, which immediately makes us happy. It is the continuation of a good, successful visit of an exhibition. At this moment the universality and the particularity of our child become one and the same. Didn’t we always know that children are dangerous? (Because they stand above all roofs?)

 

Das vierte Jahr

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Doppelte Umkehr

(Wir hören auf zu zählen, die Lebensjahre unseres Kindes zu zählen, für einen Moment zumindest, der allerdings länger dauern kann. Dennoch nennen wir das vierte Jahr das vierte Jahr, betrachten diese Nennung aber nicht als Zählung. Es ist, sagen wir uns, das vierte Jahr, sonst nichts, wir denken dabei nicht an die drei vorhergehenden und nicht an die die nachfolgen mögen. Es mag paradox klingen, unser Nichtzählen, doch ein Blick auf die Finger unseres Kindes genügt, um uns berechtigt dazu zu fühlen). Unser Kind ist jetzt ein großer Aufnullsteller geworden (unser Kind: das Baby ist jetzt so vollständig im Kind verschluckt, das keiner der vier Buchstaben, K, i, n, d noch an es erinnert. Dass es in beiden Wörtern vier unterschiedliche Buchstaben sind, scheint uns nicht unbedeutend als die leiseste Erinnerung des Babys im Kind, die möglich ist). Auf Nullstellen geht so: Wir stecken den Schlüssel ins Schloß der Wohnungstür, sperren mit einer und einer halben Drehung des Schlüssels im Schloß die Tür auf, drücken sie in den Flur und betreten die Wohnung, gefolgt von unserem Kind. Als wir die Tür gerade im Begriff sind von innen wieder zu schließen, beginnt der Protest (der offenbar schon eher begonnen hat, den wir aber überhört haben). Ik wollte det makken, sagt es, ruft es, jammert es und beginnt mit der ersten Umkehr. Die Tür wird wieder geöffnet, der Schlüssel, der schon am Schlüsselbrett hängt, wird gefordert und dann müssen wir alle wieder nach draußen gehen, vor die Tür und jetzt, da wir eine vergangene Situation auf Null gestellt haben, will unser Kind sie unter seiner Regie noch einmal durchspielen. Nein, es ist kein Spiel, diese Wiederholung ist auch keine Wiederholung, es ist eine neue Situation, in der wir uns befinden, unser Kind hat die alte einfach gestrichen, wie ein nie veröffentliches Kapitel aus einem Buch, wie eine entfallene Szene in einem Film, aber auch das ist vielleicht zu schwach für die Beschreibung: für unser Kind lauert keine alte Situation im Hintergrund oder eine ähnliche, die anders abgelaufen wäre, unser Kind betrachtet unser gemeinsames Stehen vor der Wohnungstür als die wahre Szene unseres Heimkommens, als eben entstandene Szene, die keine vorhergehende überschrieben hätte, die vorhergehende, ihm ungenehme war nicht wirklich, hat nie stattgefunden, nur wir beide (du, ich) erinnern sie. Gemeinsam sind wir mit unserem Kind in der Zeit zurückgelaufen (wir physikalisch leidlich gebildeten dachten bisher, das sei unmöglich), sind umgekehrt in der Zeit, um uns jetzt ein weiteres Mal umzukehren und wieder der Zukunft des Türöffnens und zu Hause Eintretens zuzuwenden. Wir wundern uns: die Umkehr, unsere Umkehr ist wirklich. Sollte es ein Glaube sein, nehmen wir diesen Glauben unseres Kindes an, übernehmen ihn, als wäre er unser eigener. Wir sind bereit einzugestehen, dass wir unsererseits in unserer Ansicht, die Umkehr sei unmöglich, genauso gut uns als Gläubige betrachten können. Wir versuchen, den Zweifel an unserem neuen Glauben (dem Glauben an die Umkehr), ein Zweifel, den unsere Erfahrung gebiert (und nicht müde wird ihn zu gebären) nicht erbarmungslos zu behandeln. Denn wir Neugläubigen entdecken eine Heiterkeit in der Umkehr, die sich der Entschlossenheit und Unbeirrbarkeit unseres Kindes verdankt. Und der Überraschung über die Möglichkeit einer Umkehr. Auf Nullstellen: durchaus komisch und komisch, dass es uns bisher in dieser Radikalität entgangen ist. Also kehren wir jetzt heim, wir drei, unser Kind, du, ich.

 

Double reversal

(We have stopped counting the years of our child’s life, at least for a moment, which, however, may last for a while. Nevertheless, we call the fourth year the fourth year, but we don’t count this naming as a counting. It’s the fourth year, we tell ourselves, nothing other than that; and in thinking this, we don’t think of the three years that came before or the years that may follow. It may sound paradoxical, our not-counting, but a glance at our child’s fingers is sufficient justification for us.) Our child has now become a great and perpetual reset to zero (our child: the baby is now so completely swallowed up in the child that none of the five letters c-h-i-l-d still remind us of who he is. The fact that each of these five letters and each of the four in b-a-b-y are different seems not insignificant as the slightest possible recollection of the baby in the child). The reset to zero works like this: We put the key in the lock of the door of our apartment, open the lock with one and a half turns of the key, push the door into the hallway and step into the apartment, followed by our child. Just as we are about to shut the door from inside, the protest (which apparently started earlier, but which we didn’t notice) begins. Me do dat, he says, crying out, imploring, and sets out on the first reversal. The door is opened again, there is a demand for the key, which is already hanging from the key hook, and then we all have to go out again, and now that we have set a past situation to zero, our child wants to replay it again under his direction. No, it’s not play, nor is this repetition a repetition, it is a new situation we are in, our child has simply annulled the old one, like a previously unpublished chapter from a book, a scene edited out of a movie, but even that may too weak a description: because for our child there is no old situation lurking in the background, nor a similar one that would have happened differently, our child regards our standing together in front of our door as the true scene of our coming home, a scene that has just come about, and not one written over a previous one; rather, the previous one, th ine that didn’t suit him, wasn’t real and never happened; only the two of us (you, I) remember it. Together with our child we have walked back in time (something we, being reasonably well educated in physics have always considered impossible), turned back in time in order now to turn around again and toward the future of opening the door and entering the house. We are surprised: the turning back, our turning back, is real. If it s a belief, we accept this belief of our child, and adopt it as if it were our own. We are now prepared to admit that we, in holding the view that a reversal is not possible, could just as well regard ourselves as believers. We try not to treat our doubt in our new belief (the belief in reversal), a doubt born of experience (which never tires of giving birth to doubt), without mercy. For we new converts discover a gaiety in reversal that is entirely due to our child’s determination and perseverance. And to the surprise at finding that a reversal is indeed possible. A reset to zero: quite funny, and funny, too, that until now it escaped us in this radicality. And so now we come home again, the three of us, our child, you, I.

 

 

 

Das zweite & dritte Jahr 52

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52

Nach einer Woche Abwesenheit treffe ich bei meiner Rückkehr auf ein neues Kind. Dasselbe Kind ist ein ganz anderes. Die Stimme kommt mir etwas höher vor und seine Worte finden leichter ins Gelenk der vorangehenden (tatsächlich suche ich am Abend nach einer Videoaufnahme des knapp Einjährigen und staune über die tiefen Rufe, die eine herunterfallende Senftube begleiten; nach weiteren Aufnahmen bis zur jüngeren Vergangenheit finde ich Bestätigung für die Beobachtung, dass die Stimme im Körper unseres Kindes nach oben, aber nicht unbedingt Richtung Kopf gewandert sein muss. Ihr Glöckchenklang erinnert an die Schellen der Ministranten, die sie bei der Wandlung schwenken. Und das Sprechen ist in seiner Tonhöhe auch ein Jubilieren, dass ich glaube, jetzt wurde der Engel geboren, der vielleicht den Meister, unser Baby als Meister abgelöst hat). Ein neues Kind, dem ich mit leichtem Befremden begegne, um so mehr, als es mich sofort als den nimmt, der ich auch vor einer Woche war: der Papa. Ich scheine in dieser Woche kein anderer geworden zu sein, meine Stimme ist die selbe und mein Benehmen ist wie immer. Keine Veränderung? Womöglich ist das, was ich an unserem Kind zu bemerken glaube, ein Hinweis auf eine leichte Verschiebung in mir selbst (oder auf ein leichtes Verschobenwordensein. Hat unser Meister nicht schon mehrmals mit diesem Mittel gearbeitet, an sich etwas zu zeigen, was sich genauso gut in uns ereignet haben kann?) Ein anderes Kind? Größer, reifer, selbstsicherer? Zugleich unübersehbar: unser Sohn ist noch mehr der, der er ist. Ein Art Bekräftigung seines Wesens hat sich vollzogen, sein Selbst ist weiter emporgestiegen, er ist noch mehr der, der er von Anfang an war. Es scheint so zu sein: erst durch die Verwandlung gelangt unser Kind zu sich selbst, die Verwandlung ist die wiederholte Offenbarung seines Wesens, das aber bereits von Anfang an unverstellt und unverborgen sich zeigt und Lust hat, sich zu zeigen. Damals (nach ein paar Tagen, Wochen Eingewöhnung) haben wir unser Kind erkannt, doch das Erkennen war nichts Endgültiges, es rief nach Wiederholung, nach neuem Erkennen (als würde das Erkennen erst dann gültiges Erkennen, wenn es sich aufs Neue ereignet, selbst etwas Neues geworden ist). Dem ließ uns unser Meister schon öfter begegnen: uns nicht mit dem einmal Gewußten, Geglaubten, Erfahrenen zufrieden zu geben, uns aber auch nicht in bloßer Wiederholung zu verlieren. Die Aufforderung lautet: bei jeder Begegnung, jedem Blick, jeder Berührung uns nicht davon abbringen zu lassen, dass wir diese noch niemals zuvor gemacht haben. Dass wir nicht unseren Glauben an das Neue von der Erinnerung an das Alte verdrängen lassen. Das ist auch eine Frage des Erlebens. Theoretisch erfasst bedeutet der Glaube an das augenblicklich Neue wenig, wenn nichts. Praktisch muss er sich erweisen, wie jeder Glaube. Selbst mit Baby und Engel fällt diese Übung nicht leicht. Überhaupt ist es die schwerste Übung von allen Übungen. Diejenigen, die zwischen Seele und Körper irgendeinen Unterschied machen, besitzen weder das eine noch das andere, heißt es bei Oscar Wilde. Fast müßig zu sagen, dass unserem Sohn leicht gelingt, diesen Unterschied nicht zu machen, und uns es meist mißlingt. Und da das so ist, fällt uns das Neue, das immer Neue so schwer (unser gewohntes Denken geht meist einher mit einem Vergessen des Augenblicks, wie einem Vergessen unseres Körpers. Wir sind gut im Trennen des Untrennbaren. Unser Trost: wir sind Schüler). Andererseits: Sich selbst zu lieben, ist der Beginn einer lebenslangen Liebesbeziehung (noch einmal Oscar Wilde). Brauchen wir uns keine Sorgen zu machen? Sind wir uns, einmal verfallen, doch immer verfallen? Aber unser Kind liebt sich so unaufgeregt, unangestrengt, geradezu lässig, und seine Selbstliebe scheint unserer höchstens ferne verwandt, sollten wir uns nicht beeilen, jemand anderer zu werden? Vergeht doch die Kindheit wie im Fluge (schon ist das dritte Jahr vorüber) und nur das Leben dauert ewig. Oder verhält es sich umgekehrt: Die Kindheit dauert ewig (erst das dritte Jahr ist vorüber), und das Leben vergeht im Flug? Da ruft mich unser Kind. Was ist? frage ich. Nichts ist, antwortet es nach einer langen Pause (in der ich fast nachgefragt hätte, aber heute bin ich guter Schüler, guter Schüler dieses ganz neuen Kindes). Die Voraussetzung für Vollkommenheit ist Müßiggang (ein drittes Mal Oscar Wilde). Jetzt habe ich das alte Kind wiedergefunden, lasse mich auf den Stufen des Kirchenportals nieder, während unser Sohn wieder und wieder übt, sich auf den Stufen eines Kirchenportals hinzusetzen. Es kann auch sein, dass er nicht übt, sich auf den Stufen eines Kirchenportals hinzusetzen, sondern etwas ganz Anderes.

Coming home after a week’s absence, I encounter a new child. The same child is a completely different one. His voice sounds a little higher and his words fit more easily into the hinges of the words that preceded them (in the evening I actually look for a video taken when he was a year old and am astonished by the deep cries that accompany the fall of a mustard bowl; further videos taken through time until the recent past confirm my observation that the voice in our child’s body must have wandered upwards, but not necessarily in the direction of the head. Its sound reminds me of the bells swung by altar boys at at the moment of transsubstantiation. And his speech at this pitch is also a rejoicing that makes me think that now the angel was born who has taken the place of the Master, ojur baby as Master). A new child, whom I now meet with a slight sense of estrangement, all the more so as he regards me as the one I was a week ago: Papa. I don’t seem to have turned into a different person during this week, my voice is the same, and I act the way I always do. No change? Conceivably the change I seem to observe in our child is an indication of a slight shift in myself (or rather, of having been slightly shifted. Has our Master not repeatedly used this method to show us something in himself that could just as well have happened in us?) A different child? Bigger, more mature, more confident? At the same time our son is unmistakeably even more who he is than he was. A kind of reinforcement of his nature has taken place, his self has risen higher, he is even more who he was from the beginning. It seems to be like this: that our child arrives at himself only through transformation, and transformation is the repeated revelation of his nature, which however was happy from the beginning to show itself as it is, undisguised and unconcealed.. Back then (after a few days, weeks of familiarization) we recongnized our child, but this recognition was nothing final, it called for repetition, for a re-recognition (as if recognition were not truly recognition it it does not happen anew and does not itself become something new). This was something our Master confronted us with many times: not to rest content with what we had known, believed, experienced in the past, but also not to get lost in mere repetition. The injunction is: at every encounter, with every glance, every touch, not to be deflected from realizing that we have never experienced these before. That our faith in the new must not be displaced by the memory of the old. This is also a question of practical experience. Theoretically, faith in the newness of the moment means little, if not nothing. It must be borne out in practice, like every faith. Even in dealing with babies and angels, this practice is not easy. It is in truth the most difficult of all practices. Those who see any difference between soul and body have neither, says Oscar Wilde. It almost goes without saying that our son has no difficulty in not making this distinction, and that we usually fail to do so. And because this is how it is, the new, that which is always new, is difficult for us (our habitual thinking usually goes along with a forgetting of the moment as well as a forgetting of our body. We are good at separating the inseparable. Our consolation is :we are students). On the other hand: To love oneself is the beginning of a lifelong romance (again Oscar Wilde). So there’s noting to wory about? Once fallen for ourselves, are we forever in love? But our child loves himself in such an unexcited manner, almost casually, and his sefllove seems at best remotely related to ours, should we not hurry to become someone else? After all, childhood passes in the blink of an eye (the third year is over already), and only life is eternal. Or perhaps it is the other way around: childhood lasts forever (only three years have transpired), and life passes in the blink of an eye? At this moment our child calls. What? I ask. Nothing, he says after a long pause (during which I almost repeated my question, but today I am a good student of this completely new child). The condition of perfection is idleness (for a third time, Oscar Wilde). Now I have found the old child again, and sit down on the steps of the church portal, while our son practices sitting down on the steps of a church portal, over and over. It could be, though, that he is not practicing sitting down on the stes of a church portal but something else.

Das zweite & dritte Jahr 51

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51

Wir laufen durch die Stadt, munter, verwegen, nicht immer mit einem Ziel und doch mit einer starken Vorwärtsbewegung, einem Drang zum Voran, wir laufen nebeneinander, oder ich laufe hinterher, oder unser Sohn läuft mir hinterher. (Bisweilen ist es so, als wäre ich die lebendige Steuerung einer Videofigur, die sich durch den Beinedschungel eiliger Riesenwesen zu schlängeln versucht, um ruckartig vor dem Blinken in einer Schaufensterauslage Halt zu machen, um dort intensive Augenblicke zu sammeln. Ich, die Steuerung, bin meinerseits gesteuert, setzt sich mein kleiner Avatar in Bewegung, setze ich mich ohne zu zögern ebenfalls in Bewegung und bin keiner Richtung abgeneigt.) Zwischendurch besorgen wir in einem Geschäft einen Gegenstand, den wir unbedingt benötigen und bei dieser Gelegenheit zieht sich unser Sohn an der Wasserstation einen der spitzen Pappbecher aus der Halterung und füllt ihn halb, halb lässt er ihn füllen mit herrlichem Nass (hier gibt es für den Avatar und seine Steuerung Extrapunkte, wenn sie nichts verschütten und den Becher ordentlich in der Abfallsäule entsorgen). Wieder draußen, nimmt unser Stadtspaziergang eine Wendung, die der Dämmerung und aufkommender Müdigkeit geschuldet ist. Der Sohn will auf die Schultern des Vaters (Steuerung und Avatar koppeln sich aufeinander, werden eine Figur, fast), was seine Müdigkeit augenblicklich abschwächt. Unbewegt bewegt beschwingt ihn sein hoher Aussichtspunkt, sein schaukelnder Hochsitz, und er ruft hinunter und hinein in die nach unten geschrumpfte Innenstadtabendwelt, die sich rege zu seinen Füßen ausbreitet. Was ruft er da, mit hell tönender Stimme, die keinen Zweifel kennt? Er ruft seinen eigenen Namen, den ganzen, Vor- und Nachname und danach ruft er den Namen seines Trägers (und Schülers, seiner gesteuerten Steuerung), mit gleicher Inbrunst und Freude. Ja, Freude ist sein unüberhörbares Rufen, und ein seliger Übermut lacht hervor, der durchaus ansteckend ist (erst jetzt regen sich manche der Mitspieler, Passanten, Geschäftigen, heben ihren Kopf und zeigen ihr Gesicht, in das die Stimme unseres Sohns Fröhlichkeit zaubert). Herrlich ist diese enge Verknüpfung von Vater und Sohn, auch wenn dem Vater der Nacken nach einiger Zeit als Träger zu schmerzen beginnt. Aber was ist der Schmerz gegen das Gekraule der Kinderhände an seinen Ohren, oder das kindliche Fingerspiel in seinem Haar oder gar gegen das Bedecken seiner Augen mit Kinderhänden, deren Finger viele Spalten freilassen, um hindurchzuspähen. Die Körper sind Vertraute (obwohl sie sich doch noch gar nicht solange kennen), als wäre das Vertrauen zuerst einmal eine körperliche Angelegenheit. Dann, zuhause, läuft unser Kind nackt durch die Wohnung, sein Quietschen scheint unmittelbar verbunden mit der Geschmeidigkeit seiner Bewegungen und direkt aus der unverbrauchten Spannung seiner zarten Haut zu strömen. Der kleine, nach nichts Fremdem und nichts Eigenem duftende Hautmensch stürzt plötzlich auf meinen Bauch oder hängt sich an meinen Rücken, liegt quer über meinem Gesicht: der Körper ist alles, was unser Sohn ist, und der Geist hat sich noch nicht in den Kopf geflüchtet, gedacht und gelacht wird auch mit dem großen Zeh, dem Papazeh. Der kleine Körper: von dem sich nicht sagen lässt, er ließe sich gerne und ohne Scheu berühren, denn die Berührung ist ihm das Selbstverständliche (wie auch das Ende der Berührung). Der kleine Körper: von dem sich Hingabe lernen lässt und auch das, dass der Körper ursprünglich nicht die Grenze zwischen uns war. Der kleine Körper: der die Sicherheit unserer antwortenden Hände spüren möchte, die sich an ihm zu willenlosen Gefährten wandeln. Bevor wir alles andere sind, sind wir Körper, der aus dem Geist geschlüpft ist; der Körper ist ihm entkommen wie der wunderbarste aller Gedanken. Geht der Körper dann zu Bett, will der Geist nicht länger aufbleiben. Das Liegen macht beide schläfrig, noch wird gezappelt und geplappert, Zappelplappern und Plapperzappeln – und mit einemmal sind Vater und Sohn wieder zwei, das Kind schläft, der Vater träumt ein bißchen vor sich hin, bevor er sich erhebt und aus dem Zimmer geht. Lust, einen Gedanken umzudrehen. Lust, weil sie das Leben ist. Palinurus (alias Cyril Connolly – oder umgekehrt): Das Leben ist ein Irrgarten, in dem wir schon den falschen Weg einschlagen, ehe wir gehen gelernt haben. So: Das Leben ist ein Irrgarten, in dem wir schon den richtigen Weg einschlagen, ehe wir gehen gelernt haben. Sogar auf den Schultern des Vaters.

Das zweite & dritte Jahr 50

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50

Die einzige Zeit ist die Ewigkeit. Keinem Davor oder Danach gelingt es, ihren Rahmen zu sprengen. Alles ist Jetzt, Ewigkeit ist Jetztzeit, ausgedehnte, unausgedehnte, kurze, lange, schnelle, langsame Zeit. Überhaupt keine Zeit. Unser Kind befindet sich ganz und gar außerhalb der Zeit, weil es so tief in die Zeit zu versinken oder so hoch auf ihr hinaufzusteigen versteht (so erklären wir uns das und auf die gleiche Weise könnten wir uns das Gegenteil erklären: Unser Kind befindet sich ganz und gar innerhalb der Zeit, weil es so tief in die Zeit zu versinken oder so hoch auf ihr hinaufzusteigen versteht). Uns wundernd (und es bewundernd) blicken wir auf unsere Kind und können es nicht begreifen: wie kann es diese andere Zeit, diese Kindzeit geben? Wie kann es sein, dass uns kein Zugreifen auf diese Zeit gelingt, dass wir weite, weite Umwege in unserer Zeit gehen müssen, um gemeinsam mit unserem Sohn rechtzeitig in der Spielgruppe (oder überhaupt nur an der nächsten Straßenecke) ankommen zu können? Wie ist es möglich, dass das Baby, das Kind in unsere Welt geboren wurde, aber nicht in unsere Zeit? Sind wir nicht deshalb alt und altmodisch, weil wir noch so eng verhaftet sind unserer Zeitlichkeit, die uns so oft auf die Uhr blicken und den Zeitfluss kontrollieren lässt, uns wenig Spielraum ermöglicht, die Tage eng macht und schnell? Et wird dunkell! ruft unser Kind, als die Sonne untergegangen ist, aber es sagt nicht: Gerade war es doch noch hell, nun wird es schon wieder dunkel, wie schnell der Tag vergeht, vergangen ist! – es ruft nur: es wird dunkel!, wie es gerade eben, gestern, vorgestern, irgendwann gerufen hat: ein Stein! oder: ik will eine Mango etten! oder: will nit schrafen! (So finden wir uns fassungslos dieser Kindzeit gegenüber und manchmal retten wir uns in die kleine heimliche Diffamierung seiner Zeit, der Zeit unseres Kindes, wir schieben alles auf sein geringes Alter, seine mangelnde Erfahrung, seine große und grobe Unwissenheit; es wird sie schon noch kennenlernen unsere Zeit, es führt kein Weg daran vorbei für unser Kind, sich auch unserer Zeit zu unterwerfen, wir können reden über die Zeit, lamentieren und uns ärgern, wir können sie anklagen und uns über sie lustig machen, aber sie wird uns niemals wieder in die Kindzeit zurücklassen, so ist es.) Kein Schmerz kann die Ewigkeit unseres Kindes verkürzen. Ein Schnitt mit seinem kleinen Messer in den Handteller wird zum Ereignis. Kaum Blut, doch der Wunsch nach einem großen Pflaster. Wie ein wertvolles, zerbrechliches Heiligtum trägt unser Sohn seine Hand herum und zeigt jedem, der es wissen will und auch denen, die es nicht wissen wollen, sein Aua. Im Schmerz ist die Ewigkeit am einfachsten zu spüren, gerade für uns Erwachsene kann den Schmerz an sich das Wissen um sein Vergehen nicht oder nur kaum lindern. Empfundener Schmerz dauert: ein starkes Stück Leben, deutlich, überdeutlich, spricht es aus, dass nichts sonst genau jetzt sein kann. Aber der kleine Schmerzkult unsers Sohnes heute ist inszeniert (ganz anders als der Zahnungsschmerz oder der Bienenstichschmerz, der die Welt in ihren Grundfesten erschüttern ließ). Inszeniert für uns. Auch für uns. Vielleicht hauptsächlich für uns (vergessen wir nie: nur weil unser Baby verschwunden ist, ist noch lange nicht unser täglicher Meister verschwunden). Im Schmerz unseres Kindes fällt der Schleier unserer Zeit. Im inszenierten Schmerz unseres Kindes fällt es uns leichter, dies zu bemerken. Die Zeit ist ein Schleier, denken wir, nur das Kind geht unverschleiert. (Vielleicht ist jetzt ein bißchen Rilke angebracht, sagts du zu mir oder ich sags zu dir. Du mußt das Leben nicht verstehen, / dann wird es werden wie ein Fest. / Und laß dir jeden Tag geschehen / so wie ein Kind im Weitergehen / von jedem Wehen / sich viele Blüten schenken lässt. Und gleich danach ist uns nach einer Abwandlung eines Rilkesatzes aus den Geschichten vom lieben Gott. Es ist immer schlimm für die Eltern, wenn die Kinder plötzlich etwas wissen, was sie ihnen nicht erzählt haben. Oh, ja, es ist schlimm, lass uns nicht so tun – sagst du zu mir, sage ich zu dir – als wäre es nicht schlimm. Ja, es ist schlimm, dass unser unwissendes Kind etwas über die Zeit weiß, was wir wissenden Eltern nicht wissen. Es ist schlimm, bekräftigen wir noch einmal, und jetzt spüren wir den Schmerz, einen deutlichen, aber weit von uns wie ein Stern entfernten Schmerz, ein Aufleuchten eines Schmerzes, sein Pulsieren und Pochen. Die Sache mit der Zeit nicht zu wissen ist Schmerz. Alles und jedes hat unser Kind untersucht bisher und alles und jedes will es untersuchen, aber nie die Uhren. Nicht die auf dem Kirchturm findet sein Interesse, nicht die an meinem Handgelenk, nicht die vielen an den U-Bahnhöfen, schon gar nicht die Hunderte in der Auslage des Uhrengeschäfts. Es hat einen Sinn für jeden Gegenstand, aber keinen für die Uhr. Und merkwürdig, als unser Kind auf unsere dumme Frage, wie lange es noch Eisenbahn spielen will, denn wir müssen jetzt los, haben eine Verabredung, ohne Nachdenken antwortet: vier Stunden, bemerken wir, das wir dabei sind, eine gewisse Freude an unserer Unwissenheit zu entwickeln. Das Echo des Tickens unseres Schmerzes.)

Das zweite & dritte Jahr 49

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49

Auch gibt es den Moment, da wir (du, ich) uns verlieren. Wir entfallen uns. Unser ehemaliges Baby (so nennen wir es jetzt, ehemalig, damit wir danach noch einmal Baby sagen können, ohne uns etwas anzumaßen und unser Kind kleiner zu machen, als es ist) hilft uns dabei. Genau genommen ist unser Sohn die Ursache unseres Gedächtnisverlustes. Er erleichtert uns um uns selbst. Unser Gedächtnis wird wirklich leichter, und mit einemmal fällt ihm das Erinnern gleichsam in den Schoß. Jede Anstrengung ist verloren, jeder Schatten hat sich mit der großen Wolke, die sie geworfen hatte, verzogen. Wir Wolken haben uns im klaren Himmel, den unser Kind ohne Mühe aufzuspannen versteht, aufgelöst. Jetzt erst erinnern wir uns richtig, sogar und auch an uns selbst. Wie anders sind wir doch geworden, wie anders sind wir, als wir zu sein dachten! Die wohltuende Aufgabe unseres alten Selbst (das natürlich und jetzt erst recht wiederkehren wird, neugierig, nichts sonst: sehen will es, was aus uns wurde) ist Folge unserer Daseinsverwandlung in Mutter und Vater. Gewissermaßen ist es ein Zustand der Schwäche, der sich ohne moralische Bedenken genießen lässt. Kein Wunder, dass es unser Kind wenig Anstrengung kostet, uns in diesem Zustand (der uns irgendwie neu ist, auch wenn er uns mit einer zärtlichen Vertraulichkeit schmeichelt) mit seiner Sprache zu überfallen. Ja, ein Überfall. Schon lange, von Anfang an, von Babyanfang an lauerte die Sprache auf unser Ohr, aber seit heute ist es offenkundig und offenbar. Die Sprache unseres (ehemaligen) Babys ist da, bevor sie da ist, war da, bevor sie da war. Und jetzt lässt sie sich nicht länger davon abbringen, sich direkt an uns zu richten. Die ersten Laute unseres Kindes ließen uns noch viel Spielraum, sie zu interpretieren, herunterzuspielen oder zu überhöhen. Aber ab sofort wird gesprochen. Richtig und mit uns. Weit mehr als zwei Jahre hat unser Gehör gestrampelt, wenn es sich der Sprache unseres Babys ausgesetzt hörte, doch nun hilft nichts mehr: wir müssen sprechen lernen. Wir lernen noch einmal sprechen. Unser Kind redet mit uns, der Stundenplan ist voll, der einen Stunde Sprache lernen folgt ohne Pause die nächste Stunde Sprache lernen. Wir mühen uns und oft muss man uns das Gesagte wiederholen und noch einmal wiederholen und noch einmal oder fünfmal, zehnmal. Unser Baby (nennen wir es ohne Einschränkung wieder so, denn immer, wenn es uns ein so vollendeter Meister ist, scheint Baby uns das das einzig wahre Wort zu sein) ist geduldig. Es wiederholt uns, was uns einfach nicht gelingen wollte zu verstehen, und manchmal ist seine Wiederholung durchaus ärgerlich, sogar ungeduldig, ohne die grundsätzliche Geduld mit uns in Frage zu stellen. Wir sehen bald ein: wir verstehen im Grunde nichts. Unser Wortschatz ist klein (auf seine Knappheit sind wir auch noch stolz, ist er doch allgemein ein Zeichen von erwachsen sein). Der Wortschatz unseres Baby ist ein echter Schatz: aus einem Wort macht es fünfzig verschiedene Worte, Tausende, jeden Augenblick verwandelt sich das Wort und seine Bedeutung wird dadurch reich. Wir korrigieren unser Kind nie (fast nie), lassen uns jedoch gerne von ihm korrigieren (was es nicht tut). Gehen wir auf den Spigalla, betrachten wir die Brumen und fragen uns ruhig wat hat da Pedo zählt? Sprache ist Reichtum und Armut zugleich. Unser Kind lernt von uns (und den anderen) das sprechen, lernt unsere Sprache (und die der anderen) – in Wenigem stimmen alle Menschen überein, aber dies scheint doch allen einzuleuchten. Wollen wir, weil wir uns gerade vergessen haben, es einmal nicht glauben. Wollen wir nur darauf hören, wie wir von unserem Baby die Sprache lernen; wir brauchen nicht einmal die tiefe Vertrautheit der Sprache beiseite zu lassen dazu, denn die tiefe Vertrautheit der Sprache entsteht uns heute das erste Mal im unerhört gehörten Gestammel unseres Babys, in dem witzigen Sprachwunder, das aus seinem weichen, reinen Mund strömt, aus seiner Lust, sich uns verständlich zu machen, aus seiner Freude uns noch einmal dorthin zu führen, wo die Sprache geboren wird (an den Ort, an den wir uns niemals erinnern können).