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Nachahmung
Ein durchaus selbsterschütternder Augenblick, wenn uns bewußt wird, dass unser Kind uns nachahmt. Diese Erschütterung hat aber nichts von einem Beben, dessen schreckliche Folgen wir fürchten oder einer schmerzlichen seelischen Verletzung, die wir jahrelang in uns tragen und mit uns herumtragen werden. Aber doch packt sie uns mit der gleichen Gewalt. Sie packt uns und rückt uns von der Stelle, an der wir uns bisher sicher und zuhause geglaubt haben. Blicken wir nur hinüber zu unserem Kind, das auf dem Sofa sitzt und in einem seiner Bücher liest, tatsächlich liest, auch wenn das, was es liest, seiner Fantasie entspringt und seinem Gedächtnis und achten darauf, in welcher Art und Weise es Sätze bildet und dabei die Füße übereinanderschlägt, erkennen wir Spuren unseres eigenen Seins in eben dieser Art und Weise wie es Sätze bildet und die Füße übereinanderschlägt. Die Anmutung ist fast: wir sind mehr als einmal (dieses Einemal, das wir selbst sind) da, aber nicht so, dass wir uns komplett verdoppelt hätten, sondern mehrfach (zumindest zweifach) in diesen deutlichen Lautfolgen oder Gesten, die auf eine sonderbare Weise auf die ganze Person hinweisen, ohne die ganze Person zu sein. Vielleicht erhöht diese Unvollständigkeit den leicht gespenstischen Eindruck, der uns vermuten lässt, alle menschlichen Eigenarten sind nur geliehene. Andererseits liegt darin auch etwas Beruhigendes: wir sind nicht dafür verantwortlich, wie wir Sätze bilden und die Füße übereinanderschlagen. Wir sind auch verantwortlich, aber da gibt es aus den sich kreuzenden Strömen der Generationen entstandene Vorfahren und Vorvorfahren, die ein gewichtiges Wort dabei mitreden. Wir überschätzen unsere eigene Mitbestimmung in unseren Angelegenheiten gerne, da schadet es nicht, wenn unser Kind wieder einmal Zweifel an der Festigkeit unseres eigenen Selbst sät. „Im Alter des Exhibitionismus“, schreibt Harold Brodkey in Profane Freundschaft, „wenn man klein ist, schimmert die Seele durch die Haut – die letztlich nur ein Wasserschleier über der Unschuld ist, welche durchscheint und auf anderen spielt wie ein Licht knapp unter der Wasseroberfläche.“ Wessen Seele so durchscheint, kann sie anreichern lassen, ohne ihre Schönheit zu beeinträchtigen. Nein, sie wird noch schöner, da sie aufnimmt, und sei es nur den Sound einer Stimme oder das Bild sich überkreuzender Füße. Sie fürchtet sich nicht, vor dem, was da draußen (an Land) sich so herumtreibt, aber sie nimmt auch nicht wahllos. Und sie nimmt, wenn sie nimmt, ganz. Das sind meine überkreuzten Füße dort drüben auf dem Sofa, denke ich, so detailgetreu in ihrer Haltung nachgemacht, nachempfunden, wie es nur ein Künstler vermag. Alles darin bin ich, alles darin ist mein Sohn. Es ist nichts, was man sonst im Leben mag oder sich gefallen lässt. Niemand darf uns nachmachen, dagegen sind wir allergisch, schon von früh an. Kein Pausenhof, auf dem nicht nachgeäfft würde, kein Kabarettist, der nicht mindestens einen Spruch oder eine Sprechweise einer bekannten Persönlichkeit in der Nachahmung konterkariert. Nachahmung ist gemein, sie trifft bis ins Mark, weil sie etwas in Frage stellt, was niemand in Frage gestellt sehen will: die eigene Integrität, kaum auf einer inhaltlichen, vielmehr auf der selbstischen Ebene. Ich bin, der ich bin, macht mich jemand nach, verunsichert er mich: so leicht bin ich zu durchschauen, so leicht kann jemand anderes sein wie ich, wo es mich doch soviel Mühe gekostet hat! Und hier das Gegenteil von all dem. Nach anfänglicher Irritation, stimmen wir (du, ich) zu, dass unser Kind Elemente unseres Ausdrucks kopiert, an sich anwendet und sich zu eigen macht. Ja, wir fühlen uns durch die Nachahmung geschmeichelt, was wir, würden wir sie durch andere als unser Kind erfahren, als Beleidigung empfänden. Das ist eben der große Unterschied: unser Kind verfolgt keine Absicht mit der Aneignung unserer Art zu sprechen, unserer Art die Füße zu kreuzen. Es nimmt uns, Teile von uns in sich auf, in Körper und Geist, nicht, weil es nicht anders kann, weil es muss, sondern freiwillig und bereitwillig. Diese Art der Osmose scheint mit Befriedigung und Freude einherzugehen, denn die Fröhlichkeit mit der unser Kind seine (deine) Sätze (nach) bildet und seine (meine) Füße überkreuzt, ist unüberhörbar, unübersehbar. Eine solche Nachahmung, frei von jeglichem Ressentiment, steht nur im uneitlen Dienste der Menschwerdung. Für uns (dich, mich) bedeutet sie – indem wir die Nachgeahmten sind – sogar eine zweite und neuerliche Menschwerdung, die uns vorkommt wie die Erlaubnis, ein neues Reich zu betreten, ein Schattenreich, in dem wir selbst die Schatten sind, Sommerschatten freilich, argloses Lichtflattern in einer überraschend geraden Allee, die dort hinaufführt, wo wir doch eigentlich herkommen. Und auf diesem Weg beginnt, dank der Nachahmung unseres Kindes, unsere Seele zu schimmern unter dem Wasserschleier unserer einstmals opaken Haut. (Und jetzt, in diesem Augenblick, als unser Kind etwas völlig Unerwartetes auf eine völlig unbekannte Art von sich gibt, einen Satz von so eleganter Schönheit und Sinnlichkeit, der uns verblüfft aufhorchen lässt, entdecke ich an dir eine nie zuvor gesehene Geste, mit der du mich darauf hinweist, und du gibst mir mit deinem Blick zu verstehen, dass auch du an mir ein nie zuvor bemerktes Lauschen entdeckt hast – Unnachgeahmtes?, fragen wir uns beide).