Das vierte Jahr

Das erste Jahr Babybuddha jetzt auf:

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Nachahmung

 

Ein durchaus selbsterschütternder Augenblick, wenn uns bewußt wird, dass unser Kind uns nachahmt. Diese Erschütterung hat aber nichts von einem Beben, dessen schreckliche Folgen wir fürchten oder einer schmerzlichen seelischen Verletzung, die wir jahrelang in uns tragen und mit uns herumtragen werden. Aber doch packt sie uns mit der gleichen Gewalt. Sie packt uns und rückt uns von der Stelle, an der wir uns bisher sicher und zuhause geglaubt haben. Blicken wir nur hinüber zu unserem Kind, das auf dem Sofa sitzt und in einem seiner Bücher liest, tatsächlich liest, auch wenn das, was es liest, seiner Fantasie entspringt und seinem Gedächtnis und achten darauf, in welcher Art und Weise es Sätze bildet und dabei die Füße übereinanderschlägt, erkennen wir Spuren unseres eigenen Seins in eben dieser Art und Weise wie es Sätze bildet und die Füße übereinanderschlägt. Die Anmutung ist fast: wir sind mehr als einmal (dieses Einemal, das wir selbst sind) da, aber nicht so, dass wir uns komplett verdoppelt hätten, sondern mehrfach (zumindest zweifach) in diesen deutlichen Lautfolgen oder Gesten, die auf eine sonderbare Weise auf die ganze Person hinweisen, ohne die ganze Person zu sein. Vielleicht erhöht diese Unvollständigkeit den leicht gespenstischen Eindruck, der uns vermuten lässt, alle menschlichen Eigenarten sind nur geliehene. Andererseits liegt darin auch etwas Beruhigendes: wir sind nicht dafür verantwortlich, wie wir Sätze bilden und die Füße übereinanderschlagen. Wir sind auch verantwortlich, aber da gibt es aus den sich kreuzenden Strömen der Generationen entstandene Vorfahren und Vorvorfahren, die ein gewichtiges Wort dabei mitreden. Wir überschätzen unsere eigene Mitbestimmung in unseren Angelegenheiten gerne, da schadet es nicht, wenn unser Kind wieder einmal Zweifel an der Festigkeit unseres eigenen Selbst sät. „Im Alter des Exhibitionismus“, schreibt Harold Brodkey in Profane Freundschaft, „wenn man klein ist, schimmert die Seele durch die Haut – die letztlich nur ein Wasserschleier über der Unschuld ist, welche durchscheint und auf anderen spielt wie ein Licht knapp unter der Wasseroberfläche.“ Wessen Seele so durchscheint, kann sie anreichern lassen, ohne ihre Schönheit zu beeinträchtigen. Nein, sie wird noch schöner, da sie aufnimmt, und sei es nur den Sound einer Stimme oder das Bild sich überkreuzender Füße. Sie fürchtet sich nicht, vor dem, was da draußen (an Land) sich so herumtreibt, aber sie nimmt auch nicht wahllos. Und sie nimmt, wenn sie nimmt, ganz. Das sind meine überkreuzten Füße dort drüben auf dem Sofa, denke ich, so detailgetreu in ihrer Haltung nachgemacht, nachempfunden, wie es nur ein Künstler vermag. Alles darin bin ich, alles darin ist mein Sohn. Es ist nichts, was man sonst im Leben mag oder sich gefallen lässt. Niemand darf uns nachmachen, dagegen sind wir allergisch, schon von früh an. Kein Pausenhof, auf dem nicht nachgeäfft würde, kein Kabarettist, der nicht mindestens einen Spruch oder eine Sprechweise einer bekannten Persönlichkeit in der Nachahmung konterkariert. Nachahmung ist gemein, sie trifft bis ins Mark, weil sie etwas in Frage stellt, was niemand in Frage gestellt sehen will: die eigene Integrität, kaum auf einer inhaltlichen, vielmehr auf der selbstischen Ebene. Ich bin, der ich bin, macht mich jemand nach, verunsichert er mich: so leicht bin ich zu durchschauen, so leicht kann jemand anderes sein wie ich, wo es mich doch soviel Mühe gekostet hat! Und hier das Gegenteil von all dem. Nach anfänglicher Irritation, stimmen wir (du, ich) zu, dass unser Kind Elemente unseres Ausdrucks kopiert, an sich anwendet und sich zu eigen macht. Ja, wir fühlen uns durch die Nachahmung geschmeichelt, was wir, würden wir sie durch andere als unser Kind erfahren, als Beleidigung empfänden. Das ist eben der große Unterschied: unser Kind verfolgt keine Absicht mit der Aneignung unserer Art zu sprechen, unserer Art die Füße zu kreuzen. Es nimmt uns, Teile von uns in sich auf, in Körper und Geist, nicht, weil es nicht anders kann, weil es muss, sondern freiwillig und bereitwillig. Diese Art der Osmose scheint mit Befriedigung und Freude einherzugehen, denn die Fröhlichkeit mit der unser Kind seine (deine) Sätze (nach) bildet und seine (meine) Füße überkreuzt, ist unüberhörbar, unübersehbar. Eine solche Nachahmung, frei von jeglichem Ressentiment, steht nur im uneitlen Dienste der Menschwerdung. Für uns (dich, mich) bedeutet sie – indem wir die Nachgeahmten sind – sogar eine zweite und neuerliche Menschwerdung, die uns vorkommt wie die Erlaubnis, ein neues Reich zu betreten, ein Schattenreich, in dem wir selbst die Schatten sind, Sommerschatten freilich, argloses Lichtflattern in einer überraschend geraden Allee, die dort hinaufführt, wo wir doch eigentlich herkommen. Und auf diesem Weg beginnt, dank der Nachahmung unseres Kindes, unsere Seele zu schimmern unter dem Wasserschleier unserer einstmals opaken Haut. (Und jetzt, in diesem Augenblick, als unser Kind etwas völlig Unerwartetes auf eine völlig unbekannte Art von sich gibt, einen Satz von so eleganter Schönheit und Sinnlichkeit, der uns verblüfft aufhorchen lässt, entdecke ich an dir eine nie zuvor gesehene Geste, mit der du mich darauf hinweist, und du gibst mir mit deinem Blick zu verstehen, dass auch du an mir ein nie zuvor bemerktes Lauschen entdeckt hast – Unnachgeahmtes?, fragen wir uns beide).

Imitation
 
Confounding, staggering, upsetting — these words certainly apply to the moment when we become conscious that our child is mimicking us. But this upheaval is nothing like an earthquake whose terrible afterschocks we might dread, or a painful injury to the soul that we will carry inside us and carry around with us for years. And yet it grips us with comparable force. It seizes hold and displaces us from the spot where previously we thought ourselves safe and at home. Now, when we look over to where our child sits on the couch reading in one of his books, actually reading, even if what he is reading springs from his imagination and memory, and when we take note of the way in which he forms sentences while crossing his feet, we recognize traces of our own existence precisely in the manner in which he forms his sentences and crosses his feet. Our impression is almost: we are there more than once (this Onlyness that we ourselves are), but not in such a way that we have completely doubled, but rather we see ourselves replicated (at least twice) in these clearly articulated sequences of sound or gesture that oddly suggest the whole person without being the whole person. Perhaps this incompleteness amplifies the slightly spooky impression that makes us suspect that all human idiosyncrasies are merely borrowed. On the other hand, there is something reassuring in it: we are not responsible for the way we form sentences and cross our feet. We are also responsible, but there are predecessors and pre-predecessors, born of the crisscrossing streams of the generations, who have a weighty say in the matter. We like to overestimate our own part in shaping our affairs, so there’s no harm if our child once again sows doubts in the solidity of our own selves. “In the age of exhibitionism,” Harold Brodkey writes in Profane Friendship, “when one is small the color of the soul is reflected luminously outward — the skin is, after all, merely a film of water over one’s innocence which comes and plays on others like a light from barely underwater.” One whose soul shines through like this can allow it to augment without compromising its beauty. No, the soul’s beuty is increased by whatever it takes in, be it merely the sound of a voice or the sight of crossed feet. It does not fear what is drifting about out there (on shore). But what it takes in is not taken randomly.  And whatever it takes in is taken whole, in its entirety. Those are my crossed feet over there on the couch, I think, imitated, recreated, in every detail, with an accuracy that only an artist could achieve. Everything in that gesture is myself, everything in it is my son. This is not something one usually likes to encounter in life. No one should imitate us; we are allergic to this sort of thing, from an early age on. There is no schoolyard without mimicry, no cabaret artist who does not impersonate or caricature some celebrity’s way of talking. Imitation is nasty, it strikes our core, because it puts something in question that no one wants to see put in question: one’s own integrity, hardly on the level of content, but rather on the level of self. I am who I am, and if someone imitates me, I am unsettled: that it is so easy to see through me, so easy for someone else to be like me, when it took me so much effort! And here, the opposite of all that. After an initial irritation, we (you, I) agree that our child is copying elements of our expression, applying them to himself and making them his own. Yes, we feel flattered by the imitation, which is something that would insult us if it were done by someone other than our child. Just that is the big difference: our child is not pursuing an intention in appropriating our way of speaking, our way of crossing our feet. He is incorporating us, parts of us, in body and mind, not because he cannot help it, because he has to, but voluntarily and willingly. This kind of osmosis seems to go hand in hand with satisfaction and joy, for the cheerfulness with which our child forms his (reproduces your) sentences and crosses his (my) feet, is unmistakeable. Such imitation, devoid of any resentment, is performed in the unpretentious service of becoming a human being. For us (you, me) — in that we are the ones imitated — it even represents a second and new incarnation, which feels to us like a permission to enter a new kingdom, a realm of shadows in which we ourselves are the shadows: summer shadows, admittedly, a harmless flickering of light in a surprisingly straight avenue that leads up to where we essentially come from. And on this path, thanks to our child’s imitation, our soul begins to shimmer beneath the watery veil of our formerly opaque skin. (And now, at this moment, as our child utters something completely unexpected in a completely unfamiliar manner, a sentence of such elegant beauty and sensuality that it startles us into astonished listening, I discover in you a gesture I have never seen in you before, with which you draw my attention to that, and you indicate with a glance that you too have discovered in me a kind of listening you never noticed before — something unimitated?, we both ask ourselves).

 

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