172

Die raumlose Herkunft des Babys (unsere Vermutung ist mittlerweile zur Gewissheit angewachsen) begleitet uns bis an die Grenzen des Schlafs. Wir suchen unsere eigene Raumlosigkeit, aber die Dunkelheit des Schlafzimmers verstärkt das räumliche Empfinden so stark, dass wir aufgeben wollen. Da gibt das Baby einen Laut von sich, von dem wir glauben, er könnte genauso gut und zur gleichen Zeit von uns ausgestoßen worden sein und damit finden wir ganz leicht, was wir eben angestrengt suchten: nichts Eigenes.

The baby’s spaceless origin (our assumption has by now become a certainty) accompanies us to borders of sleep. We seek our own spacelessness, but the darkness of the bedroom intensifies the sensation of space to strongly that we are inclined to give up. Then the baby produces a sound which we believe could just as well have been expelled by us at the same time, and thus we very easily find what we were strenuously seeking a moment ago: nothing we could call our own.

171

Das Greifen des Babys: als käme es von einem Ort, an dem es keinen Raum gibt. So greift es in die Leere über ihm wie in die kleine Wolldecke, unter der es liegt, mit dem gleichen Unglauben, dass sich dort etwas befindet, das es nicht selbst ist. Unserer Neigung, dem Baby den Willen zu unterstellen, auf diese Weise die Welt zu entdecken (gar im Greifen zu lernen), können wir kaum widerstehen (unser Wunsch nach Erklärung raubt uns gerne die kurzen absoluten Einblicke). Doch noch einmal öffnet unser Baby ein Fenster. Es berührt seinen eigenen Körper auf die gleiche Weise, wie es eben die Leere und die Wolldecke berührt hat.

The baby’s grasping: as if it came from a place where there is no space. So he reaches into the emptiness above him as he does into the little woolen blanket under which he lies, with the same disbelief that something is there that is not himself. Our tendency to attribute to the baby a will to discover the world in this manner (or even to learn by grasping) is almost irresistible  (our desire for explanation likes to rob us of our brief absolute insights). But once again our baby opens a window. He touches his own body in the same way that he touched empty space and the woolen blanket a moment ago.

170

Unser Leben vertieft sich. Was früher Vertiefung war, erweist sich jetzt als Verbreiterung: Bücher, Filme, Kunst, Diskussionen, Politik, Bildung und Fortbildung. Die Vertiefung kommt mit dem fast andächtigen Staunen über das Interesse unseres Babys an unserem täglichen Tun. Mit seiner Freude etwas von unserem Teller in den Mund geschoben zu bekommen. Mit einem Zischlaut, der die ganze Welt bedeuten kann. Mit dem Schimmern eines ersten Zahnes in der rosigen Bucht seines Mundes (es kommt uns vor wie eine Morgendämmerung in der Mitte eines hellen Tages). Unser Leben vertieft sich (und eines Tages werden wir mit unserem Kind Bücher lesen, Filme ansehen, Bilder betrachten …).

Our life is deepening. What used to be a deepening, turns out now to have been a broadening: books, films, art, discussions, politics, education and training. The deepening comes with the almost reverent astonishment at the baby’s interest in our daily activities. With his joy at having something pushed from our plate into his mouth. With a hissing sound that can mean the whole world. With the gleam of a first tooth in the rosy bay of his mouth (it seems to us like dawn at high noon). Our life is deepening (and one day we will read books with our child. View films, look at pictures . . .).

169

Die Tücke der Babylosigkeit. Nicht zu wissen, was einem fehlt. Fehlt es? Ist es nicht dennoch da? Es ist überhaupt die Tücke des Nichtwissens: eine unschließbare Lücke. Wie macht das Baby das? Es scheint befreit von dieser Unwissenheit. Als unser Baby noch nicht bei uns war, wußten wir nichts von ihm. Wir litten daran (ohne es zu wissen). Und das Baby? Litt es daran, dass es nichts von uns wußte? (So gern würden wir etwas darüber wissen. Aber der Nebel der Unwissenheit hängt tief. Wir müssen die Unwissenheit üben.)

The pitfall of babylessness. Not to know what you’re missing. Is it missing? Is it not there nonetheless? The pitfall of not knowing is an unfillable gap, always. How does the baby do it? He seems to be free of this ignorance. When our baby was not yet with us, we knew nothing about him. We suffered from that (unknowingly). And the baby? Did he suffer from knowing nothing about us? (How we wish we knew something about that. But the fog of unknowing hangs deep. We must practice not knowing.)

168

Nichts. Kein Gedanke stellt sich ein. Das Baby hat alle verschluckt: Seligkeit (wie der Ausdruck in seinem Gesicht). Selbst im Wunsch zu denken, obwohl es nichts zu denken gibt, lässt das Baby mich nicht allein. Ich lege mich neben das Baby und löse mich auf in seinem Versuch zu Krabbeln.

Nothing. No thought shows up. The baby swallowed them all. Bliss (like the expression on his face). Even in wanting to think, although there is nothing to think about, the baby doesn’t leave me alone. I lie down next to the baby and dissolve in his attempt to crawl.

167

Keine Macht, die uns plötzlich ergreift, denn wir erleben ihre Geburt, die noch lange andauern wird: Eros, der uns alle mit Scheu erfüllt (überall unter den Frauen und Männer und ihren Babys das Gleiche: ängstlich und geduckt vermeiden wir dem ersten Gott in unserem Leben in die Augen zu schauen. Aufrecht und festen Blickes behaupten wir strikt die Harmlosigkeit der Babys in all dem, was – später, viel später erst – machtvoll in ihr Leben treten soll. Eine merkwürdige Feigheit lässt uns leugnen, was sich sichtbar unsichtbar zwischen uns (den Babys, euch, uns) – oder sollen wir nicht besser sagen über unseren Köpfen – entfaltet: der Zauber der Sinnlichkeit.

Not a power that seizes us suddenly, for we experience its birth, which will endure for a long time: Eros, who fills us all with awe (everywhere among the women and men with their babies the same advent: the fear and humbled shyness with which we avoid gazing into the eyes of the first god in our lives. Rigidly, with an upright stance and a firm gaze we declare the harmlessness of babies in all that will eventually – later, much later – powerfully enter their lives. A strange cowardice leads us to deny the visibly invisible  enchantment that is unfolding between us (the babies, all of you, us) – or perhaps rather, above our heads: the spell of sensuality.

166

Unsere Geborgenheit im Baby: wie wir sie dem Baby geben, gibt es sie uns. Wir wollen das recht verstehen: wir sind im Geben die Nehmenden. Aber das, was wir geben, ist nicht dasselbe, wie das, was wir nehmen, obwohl wir beides Geborgenheit nennen. Doch ist die eine Geborgenheit nicht ohne die andere. Unserer ständigen Versuchung, Geborgenheit zu geben, widerspricht das Baby, indem es nichts in dieser Art versucht. Darin üben wir uns: unser Baby liegt da, greift seine Füße, zieht sie zu sich, sie rutschen aus seinen Händen und es ergreift sie erneut; vielmals wiederholt es dieses Tun, dann lässt es davon ab.

Our comfort in the baby: as we give it to him, he gives it to us. We want to understand this: in giving, we are the receivers. But what we give is not the same as what we receive, even though we call them both comfort. Yet one kind of comfort depends on the other. The baby contradicts our constant temptation to provide comfort by not trying to do anything of the sort. We take it on as a practice: our baby lies there, grabs his feet, pulls them toward himself, they slip from his hands, he seizes them again, repeats this activity many times, until he finally stops.

165

Im Schieben des Kinderwagens finde ich mein Tempo (endgültig als das Baby einschläft). So ziehen wir zusammen über einen staubigen Weg unter Linden und Kastanien. Wenn wir eben noch ein Ziel hatten, so haben wir jetzt keines mehr. Die Hände auf dem Bügel des Kinderwagens, den Schlaf (das schlafende Kind) vor mir her schiebend, glaube ich an die Endlosigkeit unseres Weges: auf diese Weise möchte ich immer voran kommen. Das Glück zu wissen, dass mein Wunsch sich nicht erfüllen wird, wirkt betäubend auf mich: ich vergesse, unterwegs zu sein.

Pushing a stroller, I find my proper speed (conclusively when the baby falls asleep). Thus we travel together along a dusty road beneath linden and chestnut trees. If we had a destination a moment ago, now we no longer have one. Hands on the handlebar, pushing sleep along before me (the sleeping baby), I believe in the endlessness of our path: this is how I would like to get ahead at all times. The bliss of knowing that my wish will not be fulfilled has a stunning effect: I forget to be on my way.

164

Pause. Pause von allem. In allem. Das Baby ist eng vertraut mit dem Innehalten (wir wissen nicht, wie lange es dauert): es geschieht unerwartet, ohne Vorankündigung, einfach so (so sind wir: manchmal schrecken wir deshalb auf, denken uns etwas, wenn wir es bemerken. Denken an Gefahr und das Unheimliche). Aber es ist doch nur das Dasein ohne nur. Wir finden in der Pause eine winzige Absicht, die allein seiner Verdeutlichung zu dienen scheint. Pause: wir lassen uns nicht mehr abschrecken und machen mit.

A pause. A pause of everything. In everything. The baby is intimately acquainted with this halting (we don’t know how long it will last): it happens unexpectedly, unannounced, just like that (it’s how we are: sometimes it startles us, and we imagine something when we notice it. Some danger, something uncanny). But all it is is existence without only. In the pause we find a tiny intention, which seems to serve only to make the halting evident. A pause: we no longer flinch at its sudden arrival. We play along.

163

Sprache ist wirklich überflüssig, wir (das Baby, du, ich) verstehen uns auch ohne sie. Es sind nicht Übermut und Hochmut, die uns so denken lassen, sondern die tägliche Erfahrung unseres Sprechens. Nein, sie ist natürlich nicht überflüssig, im Sprechen mit unserem Baby aber ist die Sprache ihrem Wesen viel näher: sie ist Gesang, an dem wir (das Baby, du, ich) uns wärmen. Die Bedeutung unserer Worte ist nur wie eine Tonfarbe, ein Klang, den wir mögen. Will uns jemand diese Zeit des uneitlen, bedeutungslosen Redens schlecht machen? Später dann wird die andere Sprache erscheinen und wir werden uns nicht mehr erinnern können, wie es einst war zwischen uns (dem Baby, dir, mir): als jedes Wort ein Vergnügen war.

Language is truly superfluous. We (the baby, you, I) understand each other without it. It is not cockiness or arrogance that make us think this, it is our daily experience with speaking. No, of course language is not superfluous, but in talking to our baby language is much closer to its true nature: it is a singing in which we (the baby, you, I) warm ourselves. The meaning of our words is no more than tonal color is in music, it is a sound we enjoy. Is there anyone who would begrudge us this time of unassuming, meaningless talk? Eventually the other language will arrive and we will no longer remember how it once was between us (the baby, you, me): when every word was a pleasure.