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So kommt es uns vor (als wir die Füße des Babys kurz in den kühlen See eintauchen): ohne Bedürfnisse würden wir zugrunde gehen. Ihr Nichterfüllung allein genügt dafür nicht. Mit der Nichterfüllung kann man leben. Aber ohne etwas zu wollen nicht. Warum sonst sind wir auf die Welt gekommen, wenn dahinter nicht das Bedürfnis nach Geburt steckte? (Und während das Baby sich von uns halten lässt, spüren wir die Hände, die schon so lange nach uns greifen.)

This is how it seems to us (as we briefly dip the baby’s feet into the cool lake): Without needs we would perish. Their non-fulfillment alone would not be sufficient for that. One can live without having one’s needs fulfilled. But not without wanting something. Why did we come into the world if not to fulfill a need to be born? (And while the baby allows itself to be held by us, we feel the hands that have been reaching for us for so long.)

69

Heimatlos wie es ist, ist das Baby überall zuhause (unseren jahrhundertelangen, glücklosen Versuch, Heimat zu erwerben, überspringt es). Oben auf dem Pass, den wir gerade überqueren, berührt seine Hand die frühlingshafte Weichheit des Schnees. Es versucht ihn zu greifen. Was an seinen Fingern hängen bleibt, sind Tränen. Es sieht uns an, als würde es sich dieser Poesie verweigern: hier bin ich.

Homeless as he is, our baby is at home everywhere (skipping our centuries-old, fruitless attempt to acquire a homeland). Up here on the pass we are crossing right now, his hand touches the vernal softness of the snow. He tries to grasp it. What clings to his fingers are tears. He looks at us as if refusing this poetry: Here I am.

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Es gefällt uns eitel zu sein. Wir sonnen uns im Glanz des Babys. Eine goldene Leere, der wir uns mit Leichtigkeit hingeben, schenkt uns Zufriedenheit. Es ist keine Kunst, eitel zu sein, kein Vermögen, keine Aufgabe, kein Streben. Wir machen keine Religion aus unserer Eitelkeit, sie braucht kein bißchen Glauben. Sie ist, wie sie ist oder ganz anders (jedenfalls sind wir gewiß zu eitel, als dass wir das entscheiden wollten). Jetzt leuchtet das Baby. Ein rätselhaftes Leuchten ohne Schwankung.

We take pleasure in being vain. We bask in our baby’s radiance. A golden emptiness, to which we abandon ourselves with ease, provides us with satisfaction. Being vain takes no skill, no talent, no effort, no striving. We don’t make a religion of our vanity, it requires no faith. It is the way it is, or maybe it’s totally different (we’re probably too vain to decide one way or the other). Now the baby is glowing. A mysterious, unvarying glow.

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Ganz und gar im Tun ist die Zeit verloren. Es ist wie ein Befehl: kommt nicht zur Ruhe! Eine Übung, die uns deshalb soviel Freude bereitet, weil sie dem widerspricht, was wir als eine richtige Übung betrachten. Tag der Organisation, Planung, Vorbereitung – alles für unser Baby. Notwendige Dinge, unaufschiebbare Dinge. Keine Zeit durchzuatmen: damit können wir die Zeit überlisten. So, in allem Gleichmaß unserer Seele gestört, schimmert ein unbekannter Friede.

Time is lost in a whirlwind of action, completely and utterly. It’s like a command: Don’t come to rest! A practice that gives us such pleasure because it is the opposite of what we would consider true practice. A day of organization, planning, preparation – all for our baby.  Necessary things, things that cannot be delayed. No time for a deep breath: in this way we cheat time. Thus, in the disturbed symmetry of our souls, ther shines an unknown peace.

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Während wir Fotos von unserem Baby machen (mit ihnen werden wir unserem Kind später einmal etwas beweisen), wird uns bewusst, dass das Baby unser Selbstauslöser ist. Wir könnten auch sagen: unser Selbstlöser. Und genauso gut: unser Selbstauflöser. Betrachten wir das Baby, sehen wir uns (in seinem nicht mehr wie anfänglich ganz und gar flüssigen Blick), doch nicht wie in einem Spiegel, nicht wie auf einem Foto, bildlos. Es ist ganz einfach: wir sehen uns selbst, aber nicht so wie wir uns selbst sehen.

While taking pictures of our baby (we will use them to prove something to our child later on), we realize it’s the baby who trips our shutter: he is our self-timer. We could also say he is our self-release; or our self-dissolution. When we look at the baby, we see ourselves (in his gaze, which is no longer totally liquid, as it was in the beginning), but not as if in a mirror, not as if in a photograph, imageless. It is quite simple: We see ourselves, but not as we see ourselves. 

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Egal, wo das Baby liegt, es liegt immer in unserer Mitte. Die Mitte selbst kennt keinen Ort: so kann das Baby sogar unsere Mitte sein. Das wollen wir uns nicht näher erklären. Lieber blicken wir hinüber zu den Bergen. Ein wenig Schnee ist gefallen. Auf einem Sattel zwischen zwei Gipfeln liegt ein weißes Bündel; man kann sogar das Köpfchen erkennen. Und das Bändchen des Seidenmützchens. Wir sehen solange dorthin, bis wir zu schwärmen beginnen: es ist phantastisch!

No matter where the baby lies, it always lies at our center. The center itself knows no place: Thus the baby can even be the center of ourselves. We don’t care to explain this to ourselves. We prefer to look over to the mountains. Some snow has fallen. On a saddle between two peaks lies a white bundle; you can even make out the little head. And the strap of the little silk cap. We keep looking until our speech starts brimming over: it’s fantastic!

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Das Baby liegt auf einer Decke im Park. Über ihm bewegt ein Lüftlein das junge Laub der Bäume. Anfang Mai haben sie es plötzlich eilig mit dem Wachstum ihrer Zweige und Blätter. Während wir etwas haltlos über diese überragenden Wesen sinnieren, aus deren hohem Alter jedes Jahr wieder die gleiche Jugend hervordrängt, verbleibt das Baby wie erstarrt im linden Pathos seines Blicks. Da sehen sich zwei an (das Baby, der Baum), die Blicke nicht persönlich nehmen.

The baby is lying on a blanket in the park. Above him a slight breeze stirs the young foliage of the trees. In the first days of May they are suddenly in a hurry to speed up the growth of their branches and leaves. While we, somewhat bemused, ruminate on the nature of these overarching beings, from whose advanced age every year the same youth burgeons forth, the baby remains as if suspended in the mild pathos of his gaze. Here are two (the baby, the tree) who look at each other and don’t take gazes personally.

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Mit unendlicher Langsamkeit kommt Bewegung in das Baby. Es gilt, scheint es, eine Schwere zu überwinden, bevor der Körper zu sich findet. Bevor der unendliche Körper zur Sammlung in der Endlichkeit bereit ist. Die Metamorphose der Unendlichkeit geschieht unaufhaltsam, ohne Tempo (deshalb ist sie, obwohl unsichtbar, unübersehbar). Wenn wir den bleiernen Anstrengungen des Babys, seinen Arm zu heben oder seinen Kopf, unsere Aufmerksamkeit schenken, ist das wie ein Blick auf die reine Zeit. Während dieser Betrachtung haben wir das Gefühl, uns beeilen zu müssen.

Movement comes into the baby with infinite slowness. It seems that an infinite heaviness needs to be overcome before the body comes into its own. Before the infinite body is ready to gather itself in the finite world. The metamorphosis of infinity happens inexorably, without any speed (which is why, though invisible, it is impossible to overlook). When we pay attention to the baby’s leaden efforts to lift his arm or his head, it is like looking at pure time. During this observation we have the feeling of having to hurry.

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Die Rührung ist wie ein Überfall. Wir ergeben uns augenblicklich. Es ist nur ein einziger, deutlicher Ton des Babys, der uns vollkommen erfüllt und der nicht wieder verklingen mag. Die Rührung macht uns weich, und doch ist es, als wären wir fester geworden. Fester in unserem Glauben an das Baby, an uns, an alles (wir glauben jetzt mit dem ganzen Körper). So verbleiben wir in der Rührung, auch, als sie längst wieder verschwunden ist.

The feeling attacks us suddenly as if from an ambush. We surrender instantly. It is just a single clear sound from the baby that fills us with an emotion that may never fade away. A tenderness that makes us soft, and yet it is as if we had become firmer. Firmer in our belief in the baby, in us, in everything (we now believe with our whole body). Thus we continue to be moved, even long after the emotion has passed. 

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Das Baby hat keine Wahl und vermisst sie auch nicht. Diese Welt also soll seine Zukunft sein. Es hat nicht den geringsten Einwand dagegen. Das erscheint uns fast ungehörig: unserer Welt ohne Widerspruch zu begegnen. Oh Baby: wie aber ist dann unser dauerndes Widersprechen überhaupt möglich? Oh Eltern: fühlt ihr mir gegenüber irgendeinen Widerspruch? Haltet es genauso mit eurer Welt (diesen Verdacht hegen wir schon länger: unser Baby ist weise).

The baby has no choice and does not miss it. So this world will be his future. He does not object to that in the slightest. This seems almost offensive to us: encountering our world without any objection. Oh baby: how then is our constant objecting even possible? Oh parents: Do you feel some objection to me? Engage with your world in the same way (we have long suspected this: our baby is wise).