DAS ZWEITE JAHR – 18

18

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Es ist einer dieser Augenblicke, in dem schlagartig begriffen wird (ein Quantensprung, so muss er sich anfühlen), dass kaum etwas, das wir für selbstverständlich halten, von mehr als einer geglaubten Basis getragen wird. Die Klotüre öffnet sich. Jemand schiebt sich herein. Das mit den Türen klappt nicht immer sofort, manchmal schwingt die Tür wieder zurück in ihren Rahmen. Dann versucht es die Hand ein zweites Mal, zieht an der Türkante und reißt sie auf, dass sie an die Wand donnert und heftig zurückfedert. Kümmert unser Baby nicht, denn es ist schon drinnen. Zu seinen Eltern kennt es keine Grenzen, es gibt keine Grenzen zwischen ihm und uns. Wir sind eine Art vereinigtes Königreich, dem unser Baby vorsteht. Sein Thron berechtigt ihn zu allem, was ihm gerade in den Sinn kommt (oder schon länger in ihm schlummerte; das Nachdenken hat längst begonnen). Berechtigung ist das falsche Wort, unser Baby braucht kein Recht. Nicht einmal ein Naturrecht. Es steht über allem Rechtlichen, mit so etwas hält es sich nicht auf. Will es an einen Ort, an dem wir uns gerade befinden, wird es dort hingehen. Unser Bedürfnis nach Intimität, unser Bedürfnis manche Dinge allein zu erledigen – in der Welt unseres Babys gibt es nichts, was seine Eltern unbedingt (oder bedingt) allein erledigen müssten. Überhaupt ist unser Wunsch, etwas allein zu erledigen, nur für uns zu sein, unbeobachtet und unsichtbar für den Rest der Welt, seit einiger Zeit schwersten Prüfungen ausgesetzt. Unsere Individualität findet ja nicht nur im Kopf oder Herz statt, sie ist auch eine Sache des Körpers. Wir wollen uns nur zeigen, wenn wir uns zeigen wollen. Also das, was wir als gesundes Selbstverständnis betrachten und bei uns und den anderen beachten, das wir dringend brauchen, um uns nicht gläsern vorzukommen (eine Art Recht auf unsere Dunkelheit), wird plötzlich nicht einmal in Frage gestellt, sondern ohne sich mit Fragerei aufzuhalten, als Unsinn und unnötig, sogar als Illusion enttarnt (vielleicht sind wir ja in Wirklichkeit – auch ohne Baby – niemals allein!). Es geht nicht nur um unsere Hygiene (sie macht, wenn das Baby sich durch die Klotür zwängt, seine Grenzenunkenntnis nur augenfälliger als andere Dinge), es geht genauso ums Brotschmieren oder Sockenanziehen. Alles, was wir tun, ist gewissermaßen auch ein intimes Tun, auch wenn wir uns weniger daran stören, wenn uns jemand zusieht, wie wir Butter abschneiden, als wenn wir uns ein Haar an unpassender Stelle entfernen oder unserer Notdurft nachgehen (die eben für unser Baby von besonderem Interesse zu sein scheint). Bei allem, was wir tun, bestehen wir auf unsere innere Autonomie, selbst wenn wir nur den Notwendigkeiten des Alltags, der Arbeit gehorchen. Wir wollen uns nicht ständig über die Schulter blicken lassen. Jeden, der diesen Abstand eines fremden (auch unfremden) Blicks, den wir bestimmen, nicht respektiert, würden wir augenblicklich (oder, falls wir schwach sind nach einigem Nachdenken) und ein wenig wütend zurechtweisen. Wir sind unsere eigenen Herren (und Damen)! Davon sind wir ziemlich stark überzeugt und unser Leben scheint uns recht zu geben. Das eigene Leben in der eigenen Hand zu haben ist selbstverständlich, selbst, wenn es uns da und dort manchmal ein wenig entgleitet. So sehen wir das Leben: vielleicht waren wir anfänglich, als Baby, als Kind, nicht Herr oder Dame (Dame gefällt unserem Baby: ein leicht auszusprechendes Wort, eines seiner ersten Worte, das auf alle älteren, eher beleibteren Frauen passt und bisweilen auch auf ältere, beleibtere Herren) unseres eigenen Lebens, aber heute, als Erwachsene sind wir es im großen und ganzen. Das ist keine Illusion, sagen wir uns (nein, das sagen wir uns nicht, denn das hieße ja, diese Illusion bereits in Erwägung zu ziehen), das ist die Realität, sagen wir, die Wirklichkeit, Ergebnis vernünftigen Nachdenkens etc. Doch dann macht sich unser Baby auf den Weg, verfolgt uns, beobachtet uns, bricht in jeden Winkel, an dem wir uns für drei Sekunden verbergen wollten, ein. Und schneller als schnell kapitulieren wir vor seiner Zudringlichkeit. Wir mögen uns noch einreden, das sei eben etwas Anderes mit dem Baby, seine Grenzsprengungen sind nicht ernst zu nehmen, ein Sonderfall menschlichen Beisammenseins, der Nachwuchs ist eben der Nachwuchs, unser Nachwuchs, Ebenbild (ein bißchen halten wir uns schon für gottgleich), dem gegenüber es weder Scham noch Grenze gibt und im übrigen ist es nur eine Frage der Zeit, bis Scham und Grenze entstehen und wachsen werden. So sind wir, so sind wir auch, denken wir (während unser Baby uns beim Zehennagelschneiden zusieht und auf einmal der Idee verfällt, in unseren großen Zeh zu beißen – ein König kann in seinem Königreich beißen in was immer er mag) und doch sind wir ganz anders, wenn wir die Meisterschaft unseres Babys nicht vergessen, wenn wir nicht außer acht lassen, dass unser Baby sich mit seinem Tun immer auch in unsere Aufmerksamkeit stiehlt, um sie so gekonnt von den äußeren Dingen auf die inneren Dinge zu lenken, eben auf diese raffinierte (und uns mit Charme überrumpelnde) Art und Weise, die wahre Meisterschaft verrät. Kurz: unser Baby macht uns sichtbar. Uns für uns selbst. Es kratzt an dem, was wir für unsere Autonomie halten (aus der heraus wir auch überzeugt sind, unserem Kind gegenüber verantwortlich zu handeln), indem es Türen öffnet, die wir normalerweise verschlossen halten. Wenn wir wollen, stellt das Baby uns in Frage. Es knabbert an unserem Selbst und seine Beschränktheit auf uns selbst. Denn selbst, wenn wir die meiste Zeit unseres Lebens tags verbringen, sind wir doch Nachtfalter. Nachtfalter, die unser Baby ins rechte Licht rückt. (Apropos Nachtfalter. Kleiner Exkurs über das Erforschen: Der berühmte Insektenforscher Jean-Henri Fabre – blendender Stilist, großer Erzähler, unermüdlicher Beobachter – ermöglicht einem Weibchen des Großen Nachtpfauenauges in seinem Tierlaboratorium das Entschlüpfen aus seinem Kokon, um es sogleich unter einer Drahtglocke zu isolieren. Im Übrigen hatte ich keine besonderen Pläne mit ihm. Ich sperre es aus reiner Gewohnheit eines Beobachters ein, der auf das achtet, was geschehen kann, schreibt er in seinen Erinnerungen. In der folgenden Nacht rücken sie an, die verliebten männlichen Großen Nachtpfauenaugen, vierzig Stück, von überall her kommen sie angeflogen und wecken Fabres Neugier. Wie können die Falter so schnell und in so großer Zahl Wind bekommen haben von diesem einsamen Weibchen, in dem allein ihr eigenes Sein sein Ziel zu erkennen scheint? Wodurch vermittelt das Weibchen seinen paarungsbereiten Zustand? Durch einen Duft, den die Federbüsche der Antennen der Männchen über weite Strecken nachzuverfolgen in der Lage sind? Mit einer scharfen Schere schneide ich die Antennen nah an der Basis ab … Die Amputierten beachten die Operation fast nicht. Sie rühren sich nicht, nur die Flügel flattern kurz. Dies sind gute Voraussetzungen: Die Verletzung scheint nicht schwer zu sein. Die Enthörnten werden nicht von Schmerzen erregt und entsprechen so noch besser meinen Plänen. Die Verstümmelung des Wahrnehmungsapparates der Insekten sind ein probates Mittel in Fabres Forschungen. Und kein unübliches bis heute. Forschung verstümmelt gern, um einer höheren Erkenntnis willen. Die Moral beiseite lassend, kommt uns die Verstümmelung doch vor wie eine ganz und gar merkwürdige Art des Erforschens. Merkwürdig, weil kaum vorstellbar ist, dass das verstümmelte Wesen nach dem Eingriff in die Autonomie seines Körpers noch in der Lage sein könnte, seine tiefsten Geheimnisse zu verraten. Merkwürdig auch, weil uns diese Verstümmelung des Wahrnehmungsapparates in einer fast unbegreiflichen Weise uns Menschen verwandt vorkommt, als hätte man auch uns einst die gefiederten Fühler gestutzt, was wir von Schmerzen unerregt, hingenommen haben und immer noch hinnehmen.)

 

 

 

 

 

 

 

 

 

DAS ZWEITE JAHR – 17

17

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Vater sein bedeutet dann auch, sich plötzlich inmitten von Frauen wiederfinden. (Plötzlich: denn zuerst fällt es nicht auf. Unter Frauen sein ist: sich wie in einem natürlichen Zustand zu fühlen. Dieser Umstand macht sich nicht selbst zum Thema. Kein Nachdenken darüber. Vielleicht täuscht auch ein weiterer einzelner Mann, der mit Kind auf dem Spielplatz auftaucht, darüber hinweg.) Inmitten von Frauen. (Ein Nachbar beschreibt mir sein Unwohlsein, wenn er mit seiner Tochter unterwegs war, immer und überall Frauen, sagt er, und diese Frauengespräche und wie schräg sie mich ansahen, als hätte ich hier nichts zu suchen … Er schüttelt den Kopf, wie befreit, da seine Tochter jetzt längst die Schule besucht und er sie nicht weiter auf den Spielplatz begleiten muss. Von was genau fühlt er sich befreit, frage ich mich und schüttle selbst den Kopf). Frauen: die Gesellschaft beginnt weiblich. (Und die Emanzipation der Männer hat noch nicht begonnen. Sie mag keimen, aber es ist bekannt, wie empfindlich Keime sind. Ein Gedanke wird gefasst, zwei Sekunden später ist er verschwunden. Solange sich kein Nährboden findet, wird er selbst, wenn er wiederkehrt, wieder gleich verschwinden. Die Emanzipation der Frauen findet beifälliges Nicken, Unterstützung, ehrliches Gutheißen unter vielen Männern. Ihre eigene Emanzipation scheint sich darin zu erschöpfen. Ich glaube, dass die Emanzipation der Männer in der Zugewandtheit zu ihren Kindern ihren Beginn finden muss. Denn sie leitet die Männer dorthin, wo sie sich sich selbst zuwenden. Viele Männer sind abgewandt von sich, man könnte es beklagen. Ihre Zugewandtheit erschöpft sich im Dienen und Denken. Betrachte ich die Tatkraft der Frauen, scheint mir das Tun der Männer oft schal: der Glaube an die eigene bedeutende Männlichkeit lässt sie sich im Äußeren verlieren. Als wäre es das Einzige, das gestaltet werden könnte. Das Innere wird durchaus eingeräumt, aber Mann windet sich.) Unser Baby ist ein kleiner Mann. Mann unter Frauen, wie all die anderen Jungs. So fängt das Leben als Mann an: unter Frauen. (Gar nicht einfach, einen Mann zu entdecken, mit dem sich darüber reden lässt. Darüber zu reden, ist nicht nur kein männlicher Wunsch, mehr noch gibt es eine männliche Scheu, Bereiche zu besprechen, die irgendwie in feste Frauenhände zu gehören scheinen oder sich dort ungreifbar für einen Mann befinden. Wenn Frauen selbstverständlich unter sich über Frauen reden, reden Männer selbstverständlich unter sich nicht über Männer. Dort, wo die Babys sich aufhalten, dort ist augenfällig, wie es um Frauen und Männer steht. Offengestanden, auch mich befällt die Scheu über uns Männer zu reden, sage ich zu unserem Baby, wo mag diese Scheu nur ihren Ursprung haben? In einer Berührung, einer unerlaubten, womöglich? Gibt es ein männliches Heiligtum?) (Gestern mit unserem Baby am kleinen Badesee mit dem von einer riesigen Pappel beschatteten Sandstrand, mit flachem Ufer, ein paar Mütter mit ihren Kindern, wenige, kein Mann. Keine Männer, außer uns beiden. Schon wieder haben wir es vergessen. Die Frauen sind ohne Argwohn gegen uns, freigiebig, wir dürfen jede Schaufel, jeden Eimer, jeden Ball einfach nehmen, wir bekommen ein Keks, die Frauen sind müßig, bewegen sich weich, langsam steigen sie das kleine Gefälle zu ihren Decken, zu ihrem Platz hinauf, um gleich wieder in die andere Richtung zu laufen, zu ihren Kindern, die, mit den Füßen darin, noch an die Unschuld des Wassers glauben. Es fühlt sich mild an unter Frauen, angstfrei. Die Blicke sind sich wohlgesonnen, das Interesse ist lose, schwebend, nah, fern, wie der unvermittelte Anflug einer Schwebfliege und ihr blitzartiges Davonkreuzen. Friedlich ist die Stimmung und die Stimmen der Frauen sind es auch: nicht zu laut sind die Gespräche, die jederzeit unterbrochen und jederzeit wieder aufgenommen werden. Die Kinder fallen mit Rufen, Quietschen, Jauchzen in die Gespräche ein, die dehnbar sind und so eigenartig beschaffen, dass sie sich augenblicklich wieder zu straffen vermögen. Unter Frauen: wir vergessen es ein ums andere Mal. Die Frauen lassen uns vergessen, dass wir Männer sind, aber nicht, dass sie Frauen sind. Unter Müttern, scheinen sie zu sagen, sei willkommen, du Mannmutter mit Kind.) Manchmal erscheint auf der Bühne ein Großvater mit Kind, mit Baby. Tatsächlich eine Erscheinung, etwas Zukünftiges scheint im Alten auf. Im Großvater gibt es die Blitzemanzipation des Mannes, stolpernd, ein bißchen ungelenk ist der Mann, den sie hervorbringt, ein anderer, selbst überrascht von seiner neuen Rolle und seinen neuen Möglichkeiten. Die Zugewandtheit zum Enkelkind überrumpelt ihn, durch den Generationensprung tritt mit einem Schlag der andere Mann hervor, ungebrochen, ungehemmt durch die direkte Elternschaft. Es bereitet mir Vergnügen, ihn Muttermann zu nennen. (Mann beklaut die Frau. Die Mutter ist nicht ihr Privileg. Hat nicht unser Baby nun tagelang auch mich mit Ma angerufen, als würde es sich dem Diktat der von uns gelebten – und geglaubten – Dualität einfach auf diese Weise entziehen. Ich habe es mir gefallen lassen, als Ma, Mama bezeichnen zu werden, ist die anfängliche Irritation des Gewohnten erst einmal gebrochen, kann man auch wieder getrost zu eben diesem zurückkehren. Viel verdankt sich dem angeborenen Humor des Babys, Regeln, besonders sprachliche, zu brechen, ohne dass dieser Bruch eine einzige Scherbe hinterlässt. Mama und Papa: ein Rufspiel, kaum zu überschätzen, kaum zu unterschätzen. (Am Samstag treten die Männer dann zahlreich auf. Beschuldigen wir sie zu Unrecht, wenn wir behaupten, die Entspanntheit der Wochentage ist mit ihrem Auftreten verschwunden? Jetzt nehmen die guten Väter die Sache, das Kind in Angriff, mit viel Schwung und Einsatz. Gute Väter wollen sie sein, oh, ja, sie sind gut, wer dürfte es ihnen absprechen? Nein, nur die Verwunderung wollen wir nicht zurückhalten, dass an den Orten, wo die Kinder sich befinden, die Väter, Männer nur für Momente so zahlreich auftreten, um dort einen Raum einzunehmen, der sich aber durch einen kurzen Auftritt nicht füllen lässt. Fehlt das Gleichgewicht der Eltern zu ihren Kindern, wird jede Rolle undeutlich. Die Mutter wird zu groß, der Vater zu klein. Was die Mutter verkleinert, wie den Vater vergrößert. Nein, wir jammern nicht darüber. Doch ein bißchen. Wir haben einfach Lust, die Möglichkeiten des Mannes in der Welt auszukundschaften, also wollen wir uns mit einem Mann darüber unterhalten. Mein Sohn, der kleine Mann, geduldig hört er zu. Mach dir keine Gedanken um die anderen, sagt er, ich mach mir nie Gedanken um die anderen. Oder er sagt: doch mach dir ruhig Gedanken um die anderen. Schwer ist es, sage ich, den Mann zu fassen. Wen willst du fassen? sagt mein Sohn und will, dass ich ihn auf die Schwanenwippe hebe.) Unter Frauen wird das Leben des Mannes lau (heute auf dem Spielplatz hinter der Kirche, nachdem wir Butterbreze gegessen haben und er, der kleine Mann zum Wasserpilz losgezogen ist, erinnere ich mich an einen Bekannten, der einmal davon sprach, wie demütigend er es manchmal empfunden hat, einen Kinderwagen vor sich her zu schieben. Es bringt mich auf die Idee, dass besonders das kleine Kind, das Baby neben dem Stolz sein Miterzeuger zu sein, wenn es um die tägliche Fürsorge geht, durchaus Scham und Scheu im Mann hervorruft, deren beider Ursprung irgendwie in der grundsätzlichen Fehlerhaftigkeit eines Prinzips liegen könnte. Um sich aufrechtzuerhalten, muss das Prinzip Mann sich offenbar ein wenig Gewalt antun und schon immer angetan haben. Als würden mit der Aufweichung des Prinzips ihre Träger gleichsam selbst aufweichen, verschwinden, zumindest vom Verschwinden bedroht sein. Einige Männer aber widersprechen dieser Idee sogleich, die Männer, die wie Mütter wickeln, nähren, sorgen. Wieder: es ist eher so, dass diese Männer ihre Männlichkeit erst habhaft werden durch dieses Tun, weil sie sich dadurch weniger ihrem Prinzip, das sie zu sein scheinen, ausliefern. Überhaupt einen Schritt aus ihrem Prinzip herauswagen.) Unter Frauen wird das Leben des Mannes reich (Ein paar Kinder sind da mit ihren Erzieherinnen aus der Kita. Zwei einzelne Frauen mit Kind, Baby. Ich, mein Sohn. Er beginnt sogleich mit seiner Emanzipation von mir. Rennt wackelnd davon – wie er so von hinten über den Sand läuft, sieht es aus, als wäre er eine Marionette, die von einem nicht sehr geübten Spieler bewegt wird. Manchmal schwebt er, dann wieder ist seine Bodenhaftung schwer und drückend. Der linke Arm, der rechte Arm, beide sind auf unterschiedliche Art am Körper festgemacht. Sie können sich überall hin drehen und biegen. Der Kopf ist eine Kanonenkugel, so groß und überdeutlich zeichnet er sich vor dem Laub der Büsche, auf die unser Baby zurennt, ab, dass man glauben könnte, er sei gar nicht gemacht für diesen kleinen Körper. Dieser Kopf – auch von dem zu kleinen Körper, der ihn zu tragen hat, wird er sich emanzipieren. Fast hätte wir es wieder einmal übersehen: unser Baby ist auch Meister der Emanzipation. Unbeirrbar darin. Unnachgiebig. Lustvoll ziellos suchend. Er wird den Mann, der er ist, finden.) Als Vater gerät man unter Frauen, ganz anders als zuvor erlebt, gewohnt, geübt. Ein hübscher Nährboden ist das. Eine Blumenwiese. Pflücken ausdrücklich erlaubt.

Das zweite Jahr – 16

16

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Schau mal! Ein tausendfacher elterlicher Weckruf, der Tag für Tag über den Babys und den Schonnichtmehrbabys dröhnt, schmeichelt, zwitschert, sich ihnen andient, sie beeinflussen und lenken möchte, ihnen ein Angebot unterbreitet, für sie die Welt aufreißen will, wie ihre kleinen Augen öffnen, weiten, diese unbedarften Augen, die die Welt betrachten sollen, unbedingt. Schau mal! Der Ausruf ist gut gemeint, Folge eines unschuldigen Impulses. Wir sind schon da, schon lange da, denken die Eltern (und Tanten und Onkels, Großeltern und auch schon die Geschwister, überhaupt alle Großen denken es), wir kennen die Welt und erkennen sie schnell (den Vogel dort, das Eichhörnchen, den im Wind schaukelnden Ast), schneller als unser Baby die Welt erkennen kann, also rufen wir es ihm zu und deuten mit dem Zeigefinger (der ganzen Hand, dem Kopf, dem Blick) dorthin, wo es etwas zu sehen gibt (und natürlich niemals dorthin, wo es nichts zu sehen gibt. Oh ihr Babys, manchmal schaut ihr einfach dorthin, wo es nichts zu sehen gibt! Warum tut ihr das?). Voller Freude über die eigene Erkenntnis, das eigene Wissen, ja, erst jetzt, in diesem Augenblick des deutenden Rufens, wird das eigene Wissen bewusst, das so gerne an die Kinder weitergereicht werden will. Das große eigene Wissen, das dem unwissenden kleinen Wesen, das unser Kind ist, nahegebracht wird, durchaus mit einer gewissen Eile und dem Wunsch, es möge nichts verpassen (keinen Vogel verpassen, kein Eichhörnchen, keinen im Wind schaukelnden Ast). (Schau mal! Auch aus unserem Mund huscht dieser Ruf, schneller, als wir denken können, noch vor dem ersten Gedanken ist er entwischt. Rufen wir etwa nach dem Absoluten? Geht es uns gar nicht um den Vogel, das Eichhörnchen, den im Wind schaukelnden Ast? Wollen wir unserem Baby nicht Alles zeigen? Das Ganze? Das große Ganze? Das uns längst – wir merken es, während unser Ruf sein vielstimmiges Echo findet, das wie ein Bienenschwarm, der sich gerade gesammelt hat, über dem Spielplatz die schwankende Wolke tanzt; schau mal! – abhanden gekommen ist. Es ist eine sonderbare Verdrehung, die wir mit unserem Ruf vornehmen, sonderbar, denn wir machen sie ohne Vorsatz, sie geschieht uns, als wäre sie, nein, nicht unser Schicksal, aber fast. Wir wollen dem Baby das Schauen beibringen? Aber das können sie doch am besten, die Babys, schauen, von Anfang an schauen sie, wie wir nicht schauen können, fast wollen wir sagen: wie wir noch nie schauen konnten. Nicht das erste Mal denken wir, zwei Wesen bewohnen uns, das eine, das Baby, das Schauende und das andere, der Mensch, der wir sind, der Blinde, der viel und ständig Ausschau hält.) Ja, es muss in diesem Schau mal! um mehr gehen als um den Vogel, das Eichhörnchen, den im Wind schaukelnden Ast. Es geht ums Ganze, die Wahrheit, das Unsichtbare. Wollen wir das Baby ablenken, von dort, wo es nichts zu schauen gibt und hinlenken, dorthin, wo es etwas zu schauen gibt, verrät unser Wunsch uns selbst. So wie wir das Schauen, dorthin, wo das Baby mit seinem ganzen Blick verweilt, aufgegeben haben, wollen wir es unsererseits zur Aufgabe dieses ungelenkten, ungenauen, ungezielten Schauens drängen. Nur aus den edelsten Motiven selbstverständlich, großzügig wollen wir dem Baby die ganze Welt zeigen, schenken, uneingeschränkt (wir sind eben keine Griechen, die die Gegenstände tüchtig und lebendig schauten, wie Goethe meint, und es fällt uns schwer uns dem Baby gegenüber in Demut zu üben, wie es derselbe Dichter zum Ausdruck bringt: dein ungetrübtes freies auge schaut / die ferne klar, die uns im nebel liegt). Der Besuch im Museum ist tatsächlich hilfreich, wollen wir uns selbst verstehen. Mein Sohn und ich bei Cy Twombly. (Das Museum Brandhorst ist ein Tempel, aber es fällt schwer zu sagen, welche Heiligkeit dort angebetet und verehrt wird. Oberflächlich betrachtet ist es die Kunst, moderne Kunst, Gegenwartskunst, die die Heiligkeit zusätzlich steigert. Die Besucher an diesem Vormittag flüstern, aus Ehrfurcht und Angst, als könnte etwas Schreckliches aufgescheucht werden, das mit schwerster Strafe droht. Die Aufpasser walten ihres Amtes. Glücklich, einen besucherleeren Raum betreten zu haben, springen sie uns sofort hinterher, um dann unbeteiligt, unschuldig wieder abzudrehen. Mein Sohn immerhin erntet ein paarmal wohlwollendes Augenzwinkern und freundliches Zunicken – würde sich darin nur nicht die Mahnung verbergen, sich bloß ordentlich zu benehmen. Jeder weiß, wie Babys sind, respektlos würden sie jedes Kunstwerk zerstören, mit Stift und schmutzigen Händen oder der scharfen Kante des Zippers des Reißverschlusses ihrer blauen Jacke. Wollte jemand unbedingt paranoid werden, sollte er ins Museum gehen. Möglich aber auch, im Museum wieder zum rechten Glauben zu finden.Zu diesem stillen, inneren Glauben, am besten wortlos.) Betrachte ich einen Cy Twombly, kann ich mich fragen, was sehe ich? (Kann es aber genauso gut sein lassen.) Eine sonderbare Frage, eine Frage, die doch alles Sehen betrifft! Immer und überall, können wir das, was wir sehen befragen (lassen wir uns nicht täuschen vom Vogel, dem Eichhörnchen, dem im Wind schaukelnden Ast). Was sehen wir? Kein Wunder also, dass die beklemmende, geduckte Stille im Museum plötzlich von einem Schau mal! durchbrochen wird, das sich von den Schrifttafeln, die die Bilder des Künstlers begleiten, machtvoll erhebt und uns mit einem gewaltig gestreckten Zeigefinger anspringt. Hören wir einen Moment hin: Wir sind eingeladen, mit dem Auge die einzelnen Linienverläufe abzutasten und nachzuvollziehen: wo sie beginnen, auslaufen und wie sich sich überlagern – jede Nuance der malerischen Spuren möchte als Formereignis wahrgenommen und genossen werden … Man glaubt, der lustvollen Ausgelassenheit sich selbst überlassener gestischer Malspuren zuzuschauen, einen rauschhaft regressiven Taumel… Fast kommt es uns vor, als würde sich ein Kreis, dessen Anfang auf dem Spielplatz, am See, im Zoo begonnen hat, hier im Museum schließen. Wir sollen sehen, was wir sehen sollen! Sogar das Gefühl (die lustvolle Ausgelassenheit) wird uns vorgefühlt. Auch hier begegnet uns wieder die Überzeugung, das es das richtige Sehen gäbe, dass die Welt, um geschaut zu werden, eines Weckrufes bedarf, der unser Auge zu lenken und leiten versteht. (Vielleicht besteht die ganze Welt im Grunde aus einem einzigen großen pädagogischen Auftrag – nur zu was genau möchte er uns erziehen?) Dachten wir, im Museum einen Ort des freien Blicks gefunden zu haben, sind wir jetzt eines Besseren belehrt worden. Das Schau mal! ist allwaltend, allgegenwärtig und zügellos. Und doch ist sein Kampf um unsere Aufmerksamkeit umsonst. Solange wir unserem Baby, unserem Meister im Schauen folgen, uns nicht ablenken lassen von unserem eigenen Blick… (doch: da schaukelt unser Baby plötzlich wild auf meinen Schultern, als ich gerade mein Lieblingsgekritzel, kunstvoll dilettantisch, blicksaugstark, eine ernste und freche Schau zugleich, ein Bild – ist es eins? -, einen überzeugenden Wirbel aus bunten Fäden, der ein bißchen herumspinnt, ein Bild, viel zu schade für einen Rahmen, ein gefangenes Bild, ein schlankes Durcheinander, das gerne zunehmen, sich verdichten würde, aber sich viel zu ungelenk anstellt dabei – als ich also gerade mein Lieblingsgekritzel betrachte, da beugt sich unser Baby nach vorne, weit nach vorne, ins Zentrum des Gekritzels: es wird doch nicht das Bild küssen wollen, den Twombly küssen wollen, dieses Künstlerwerk, das uns ebenso babyfreundlich wie babyunfreundlich vorkommt! Irrtum: unser Baby biegt sich ganz nah zu meinem Gesicht, bis es mein Auge findet und ihm bedeutet, dass es Zeit wird zu gehen. Warum geht man ins Museum? Doch nur, um bald wieder erlöst in die Freiheit heraustreten zu können! – Aber das hat jetzt nicht unser Baby gesagt. Irgendjemand hat es gesagt. Irgendwann).

Look! A thousandfold parental wakeup call that resounds day after day over babies and no-longer-babies, coaxing, chirping serviceably, seeking to influence and guide, submitting an offer, wanting to rip the world open for them as well as open and widen their clueless little eyes, teach them to see the world, by all means. Look! The call is well meant, the result of an innocent impulse. We are already there, have been here for a long time, the parents think (and aunts and uncles, grandparents, and already the brothers and  sisters, in fact all the big people think this), we know the world and know how to recognize it quickly (that bird there, that squirrel, that branch swaying in the wind), faster than our baby can recognize the world, and so we call out to him and point with our index finger (our whole hand, our head, our eyes) to whatever there is something to be seen (and of course never to where there is nothing to be seen. Oh you babies, sometimes you simply look where there is nothing to be seen! Why do you do that?). Full of pleasure at one’s own recognition, one’s own knowledge, indeed only now, at this moment of combined pointing and calling, does one become conscious of one’s own knowledge, which one so very much wants to pass on to the children. This great knowledge of one’s own that is now being put within reach of the ignorant little creature that is our child, definitely with a certain hurry and the wish that he not miss anything (not miss a bird, a squirrel, a branch swaying in the wind). (Look! That cry comes flying out of our own mouth too, faster than we can think, it’s already out before our first thought. Could it be that we are calling for the Absolute? That we are not at all concerned with the bird, the squirrel, the branch swaying in the wind? Don’t we want to show our baby Everything? The Whole? The great totality? Which we have long since – we notice it as our cry finds a many-voiced echo that dances like a swarm of bees, like the swaying cloud over the playground; look! – lost touch with.  It is an odd sort of twist we are performing with our call, odd because we are doing it without intention, it happens to us as if it were, no, not our fate, but almost. Do we really want to teach our baby how to see? But that is what babies are best at, seeing; that is what they have been doing from the beginning; they see just as we cannot see, we’re almost tempted to say, have not ever been able to see. Not for the first time we think: two beings inhabit us, the first one being the baby, the seeing one, and the other the person that we are, the blind one who is constantly on the lookout.) Yes, this “Look!” must be about something more than the bird, the squirrel, the branch swaying in the wind. It’s about the Whole, the Truth, the Invisible. When we seek to divert the baby from where there is nothing to see to where there is something to see, that wish betrays us, shows us our condition. Just as we have given up looking to where the baby abides with his entire gaze, we for our part want to urge him to give up this unguided, imprecise, undirected seeing. Only with the noblest of motives, of course, generously we want to show, indeed give, the baby the whole world, without restriction (the truth is, we are not like the Greeks, who saw objects ably and vitally, as Goethe said, and we find it hard to practice ourselves in humility with regard to the baby, as the same poet puts it: dein ungetrübtes freies auge schaut / die ferne klar, die uns im nebel liegt – your undimmed free eye clearly sees/ the distance that for us is swathed in mist). A visit to the museum is truly helpful if we want to understand ourselves. My son and I with Cy Twombly. (The Brandhorst Museum is a temple, but it is difficult to say what is the holiness that is being worshipped and revered here. On the face of it it is art, modern art, the art of the present, that further amplifies the holy. The visitors this morning are whispering, out of awe and fear, as if something terrible might be scared up that holds the threat of the most severe punishment. The guards are exercising their duty. Pleased at having entered a room that is empty of visitors, we find them immediately at our heels, after which they turn away with an indifferent innocent air. Still, my son garners a few benevolent winks and friendly nods – if only they did not conceal the reminder to make sure he behaves well. Everyone knows how babies are, they would destroy every work of art without respect, with a pencil and dirty hands or the sharp edge of the zipper on their blue jacket. If someone really wants to become paranoid, he should go to a museum. Though conceivably he might find the way back to true faith there. To this silent, inner faith, preferably without words.) When I look at a Cy Twombly, I can ask myself, what am I seeing? (And can just as well not do so.) An odd question, a question that really concerns all seeing! Always and everywhere we can consult what we are seeing (let us not be deceived by the bird, the squirrel, the branch swaying in the wind). What are we seeing? No wonder the oppressive, cowering silence in the museum is suddenly punctured by a Look! that powerfully rises from the descriptive placards next to the artist’s paintings and leaps at us with a mightily outstretched index finger. Let us listen for a moment: We are invited to touch the individual lines with our eyes, follow them in their course: where they begin, where they expire, and where they overlap – every nuance of the painterly traces wants to be perceived and enjoyed as an event in the world of forms . . . It feels as if one were watching the joyfully exuberant traces of gestures performed in paint, an ecstatically regressive delirium . . . It almost seems as if a circle whose beginning began on the playground, by the lake, in the zoo, were closing here in the museum. We want to see what we are supposed to see! Even our feeling (the joyful exuberance) is being felt for us. Once again we encounter the conviction that there is such a thing as true seeing, That in order for the world to be seen, a wakeup call is needed that knows how to steer and guide our eyes. (Maybe the whole world basically consists of a single great pedagogic assignment – but what exactly does it want to educate us toward?) Where earlier we thought that in the museum we had found a place for free seeing, we are now disabused of that notion. The Look! is omnipotent, omnipresent, and unrestrained. And yet its struggle for our attention is in vain. As long as we follow our baby, our master in seeing, and don’t allow ourselves to be distracted by our own gaze . . . (but: suddenly our baby rocks wildly on top of my shoulders, just when, faced with my favorite scribblings, their artful dilettantism, the powerful draw they exert on the eye, a seeing that is at once serious and impudent, a picture – is it a picture? –, a convincing whirl of many-colored threads that is spinning around a little, a picture, much too good to be framed, a captive picture, a lean hodgepodge that would like to get thicker, consolidate, but goes about it much too awkwardly – so just as I am looking at my favorite scribblings, our baby leans forward, far forward, into the center of the scribbling: he can’t possibly be trying to kiss the picture, kiss the Twombly, this work of art that strikes us as being equally baby-friendly and baby-unfriendly! Wrong: our baby is bending very close to my face, until he finds my eye and lets it know that it is time to leave. Why does one go to a museum? Surely only to be released from it and step back out into freedom! – But that is not something our baby said. Someone else said it. At some time).

 

 

 

 

Das zweite Jahr – 15

15

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Kein Grund zur Bescheidenheit. Das Baby muss keinen Vergleich scheuen mit den Größten und Besten. Unser Genie! Unser genialer Meister! Natürlich vergleichen wir uns, natürlich vergleichen wir unser Baby, uns mit den anderen, unser Baby mit den anderen Babys. Wie könnten wir nicht! Wollen wir wissen, wie wir sind, bemühen wir gerne den Vergleich, andersherum: wer wissen will, wie wir sind, wird als erstes bemerken, wir sind welche, die gerne vergleichen, die gerne und gerade auch dann vergleichen, wenn sie vorgeben, nicht zu vergleichen. Es ist nicht wirklich schicklich, zu vergleichen und die Moral zählt den Vergleich meist zu den Sünden der Eigenliebe, die selbst eine Sünde ist, wenn auch eine lässliche. Der Vergleich wird vielleicht deswegen ebenso gut wie schlecht angesehen, weil er so ungeheuer resultatversessen ist. Wer vergleicht, erhält ein Resultat, fast augenblicklich fällt das Urteil und zeitigt im positiven Fall Zufriedenheit, im negativen Unzufriedenheit. Also: ganz unbescheiden vergleichen wir uns (das Baby, du, ich), unsere Familie, aber nicht etwa mit einer anderen Familie, oder nur indirekt mit einer anderen Familie, über den Umweg der Musik vergleichen wir uns, über eine sinfonische Dichtung, die den Titel trägt Symphonia domestica, ein Werk des letzten großen sinfonischen Meisters,  Richard Strauss. Im Bunde mit unserem Baby fallen die Schranken, die Hemmungen, die Schüchternheit, solche Vergleiche anzustellen. Wo sonst sollte ein sinnvoller Vergleich angesiedelt sein, als dort, wo das Beste geschieht, das Beste sich unserem Gehör andient und es gerade nicht überwältigt. Der Arbeitstitel der Symphonia domestica lautete: Mein Heim. Ein sinfonisches Selbst- und Familienporträt. (Hier halten wir inne. Mein Heim: ein Ausdruck, der zu schweben beginnt, auf Herzhöhe zu schweben beginnt, dem seine Schwerelosigkeit aber nicht anzusehen ist. Was nur bedeuten kann: er hat Gewicht. Gewicht, wie Musik Gewicht hat, obwohl sie zu den unwiegbaren Dingen gerechnet werden muss. Wie könnte man besser etwas Autobiographisches, das sich ganz der Familie zuwendet, erzählen als sinfonisch? Strauss erzählt wuchtig und lyrisch (und ein wenig grob) aus dem familiären Innenleben, das sich im Moment des Erzählens zum Außenleben wandelt. Familie ist sichtbar und unsichtbar. Und am besten sichtbar ist sie, wenn sie hörbar ist. Als Begriff ist Familie zu schwerfällig, zu ambivalent, zu historisch, zu stark dem Augenblick entzogen. Als Musik ist Familie durchtönender Genuß, dem keine Mißtöne untergemischt sind, nicht ein einziger, auch wenn es nicht an schrägen, krummen, gemeinen Tönen mangelt. Harmonie spielt keine Rolle oder nur eine Nebenrolle, wenn es um die musikalische Gestaltung geht, um das Tonwerk, das treu seinem kompositorischen Konzept folgt, blindbewusst  – blindbewusst wie wir, die wir so gestimmt der Tagessinfonie unseres Babys folgen. Die Harmonie, die uns beglückt, ist eine andere. Sie entsteht im inneren Hören, in diesem großen Raum gegen den ein Konzertsaal wie eine Puppenstube wirkt. Die Musik tritt das innere Hören gleichsam los, indem es uns von uns selbst befreit für diese Dreiviertelstunde: anders als Gedanken fliehen uns Töne; wollten wir sie festhalten, würden wir das Ganze verpassen. So ist die Familie, denken wir, genau so, während wir uns die Schmeicheleien der Oboe d´amore gefallen lassen. Meiner lieben Frau und unserem Jungen gewidmet. So steht es über der Partitur, unverwandt süßer lässt sich eine Widmung wohl kaum ausdrücken, kaum unschuldiger, freier, einfacher. Wie leicht fällt uns in diesem Moment der Vergleich, wie zärtlich schmiegt er sich uns an, wie unser Baby neuerdings seine Stirn an unserer Stirn rasten lässt, wann immer es ihm gefällt.) Vergleichen wir die Musik mit dem Leben, fällt auf: sie lässt sich nicht vergleichen. Es verhält sich viel schlimmer als mit Äpfel und Birnen. Irgendetwas aus der Musik ins Leben zu übertragen ist unmöglich. Deswegen lieben wir die Musik. Wegen ihrer Unvergleichbarkeit. Umso mehr wollen wir ihr dankbar sein, dass sie uns über das wahre Wesen der Familie aufklärt (in dieser genußvollen Dreiviertelstunde, die sich als solche mit Leichtigkeit verbirgt). Die Familie wie sie ist: träumerisch, feurig, frisch, gemächlich, gefühlvoll, zornig, ruhig, singend, sehr behaglich. Eine Familie ohne Kind gibt es nicht, weshalb sich bald, naturgemäß, der nächste Vergleich aufdrängt (was die Musik so unvergleichlich unvergleichlich macht: sie lässt sich jeden Vergleich aufdrängen, Musik wehrt sich nie). Mögen die sordinierten Trompeten und die Klarinetten das Baby ganz nach dem Papa kommend behaupten, während Posaunen, Hörner und Oboen die Ähnlichkeit der Mama zuschreiben wollen, bedeutet das im sinfonischen Gesamtklang nichts als einen kleinen Witz, an dem sich die Musik vergeblich versucht. Genug verglichen, denken wir. Unser Baby ähnelt dir und unser Baby ähnelt mir. Eine Ähnlichkeit jenseits aller Arithmetik. Sagen wir einfach, die Ähnlichkeit ist musikalischer Natur. Vergleichen wir unser familiäres Wesen unbedingt mit der Musik, die wir beim nächsten Mal hören wahrscheinlich nicht wiedererkennen werden. Und dann kommt sie uns plötzlich ganz vertraut vor. Ganz neu. Rätselhaft. Blindbewusst. (Was für ein Verhau Musik doch ist! Was für ein Genuß! Die Generalprobe ist zu Ende. Ich – bloßer Zuhörer – atme durch. Der Dirigent beginnt zu korrigieren. Wer in dieser ganzen musikalischen Geschichte ist eigentlich der Dirigent? Hier und dort, noch einmal, schneller, langsamer, früher, leiser … zusammen, zusammen, immer zusammen! Aber bloß keine Eile! Unser letzter Vergleich: Die Familie ist eine zufallsfreie Komposition, unbedingt sinfonisch, mehr laut als leise, und immer ein bißchen heroisch, ist ihre Einstimmigkeit Vielstimmigkeit, und sie ist Vielmehrstimmigkeit als Dreistimmigkeit, aber wer zum Teufel ist ihr Dirigent?)(Am Ende war das jetzt gar kein richtiger Vergleich, und der allerletzte ist es ebenfalls nicht: Das Dirigat unseres Babys, dem wir so leidenschaftlich gehorchen, gehorcht seinerseits dem Zufälligen. Kein Wunder, dass auf diese Weise die schönste Musik entsteht. Hören wir sie, will uns selbst mit größter Anstrengung dann kein Vergleich mehr gelingen.)

No reason to be modest. The baby bears comparison with the greatest and the best. Our genius! Our brilliant master! Of course we compare ourselves, of course we compare our baby, us with the others, our baby with the other babies. How could we not! If we want to know what we are like, we resort to comparisons, and inversely: Anyone wanting to know what we are like will notice immediately that we are the kind of people who like to compare, and who particularly like to compare when they pretend not to compare. It’s not really good manners to compare, and morality usually reckons comparison among the sins of self-love, which is itself a sin, albeit a venial one. Perhaps the reason comparison is regarded as both good and bad is that it is so enormously intent on results. He who compares, receives a result, the judgment falls almost instantaneously, resulting in contentment if the judgment is positive, and in discontent if it is negative. And so: without undue modesty we compare ourselves (the baby, you, I), our family, but not with some other family, or only indirectly with another family; we compare ourselves by way of music, through a symphonic poem that bears the title “Symphonia domestica,” a work by the last great symphonic master, Richard Strauss. In concert with our baby the barriers fall, the inhibitions, the shyness at making such comparisons. Where else could a meaningful comparison be established if not where the best is happening, where the best comes to offer its services to our hearing in order, precisely, not to overwhelm it. The working title of the Symphonia domestica was: My home. A symphonic self- and family portrait. (Here we pause. My home: an expression that begins to hover, begins to hover at the level of the heart, but whose weightlessness is imperceptible. Which can only mean: it has weight. Weight, in the way music has weight, even though it must be counted among the imponderable things. What better way could there be to tell an autobiographical story that completely addresses the family, than symphonically? Strauss tells the story, massively and lyrically (and somewhat coarsely), of his familial inner life, which at the moment of being told turns into outer life. Family is visible and invisible. And its best way of being visible is by being audible. As a concept, family is too unwieldy, too ambivalent, too historical, too strongly separated from the moment. As music, family is a resounding pleasure without any dissonances mixed in, not a single one, even though there is no lack of skewed, crooked, common tones. Harmony plays no role or only a subsidiary role in matters of musical creation, of sounds arranged in faithful obedience to a compositional concept, blindly conscious – blindly conscious as we are when we attune ourselves to follow our baby’s day-symphony. The harmony that delights us is of a different kind. It arises by inner hearing, in this great space compared to which a concert hall seems like a doll’s house. Music sets off the inner hearing by liberating us from ourselves for these forty-five minutes: sounds escape us differently from the way thoughts do; if we tried to hold on to them, we would miss the whole. That is what the family is like, we think, exactly like that, happily listening to the blandishments of the oboe d’amore. Dedicated to my wife and our boy. Those are the words above the score. Could there be a dedication more steadfastly sweet in its formulation, more innocent, more free, more simple? How easily comparison occurs to us at this moment, how tenderly it nestles close to us, like our baby’s recent way of resting his forehead against our forehead whenever he feels like it.) If we compare music with life, we notice: it can’t be compared. It’s much worse than it is with apples and oranges. Transferring something from music into life is impossible. That is why we love music. Because of its incomparability. And we want all the more to be grateful to music for enlightening us as to the true nature of the family (in these luscious three quarters of an hour that hide themselves as such with ease). The family is as it is: dreamy, fiery, fresh, leisurely, sensitive, angry, calm, singing, very comfortable. A family without a child does not exist, which is why pretty soon, naturally, the next comparison suggests itself (what makes music so incomparably incomparable: it allows itself to be compared with anything, music never objects). When the muted trumpets and clarinets want to assert that the baby is just like the father, while the trombones, horns, and oboes insist on ascribing similarity to the mother, in the symphonic whole it amounts to no more than the music’s little attempt at a joke. Enough comparisons, we think. Our baby resembles you and our baby resembles me. A similarity beyond arithmetic. Let’s just say the similarity is of a musical kind. Let us by all means compare our family’s nature with music, which we will probably not recognize the next time we hear it. And then suddenly it seems completely familiar. Utterly new. Mysterious. Blindly conscious. (What a tangled mess music is! What a pleasure! The dress rehearsal is over. I – a mere listener – take a deep breath. The conductor begins to make corrections. Who in this whole musical history is the conductor? Here and there, a capo, faster, slower, softer . . . together, together, always together! But above all, no hurry! Our last comparison: The family is an accident-free composition, absolutely symphonic, more loud than soft, and always somewhat heroic, its single voice is many-voiced, and it is many-more-voiced than three voices in unison, but who the hell is the director?)(Ultimately that was not a real comparison, and it is not the ultimate comparison either: Our baby’s conductorship, which we so passionately obey, belongs for its part to the sphere of chance and accident. No wonder this is what gives rise to the most beautiful music. When we hear it,

 

 

Das zweite Jahr – 14

14

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Treppensteigen. Hinab und hinauf. An der Seite eines Babys sich an einer Treppe zu versuchen, zuerst hinauf, bald danach auch hinab, das ist die größte Herausforderung, die die Zeit an uns stellen kann, denn die Zeit selbst stellt sich uns darin (und vielleicht ist das Treppensteigen das, wodurch das Baby zuallererst aus sich heraussteigt und in das Kind, das es werden muss, hineinsteigt, wie die Eltern, die es dabei begleiten, erst dann wirklich Eltern werden, wenn sie mit ihrem Kind diese unzähligen Stufen hinter sich gebracht haben). Es wird kaum ein Kind zu finden sein, das keine Treppen steigen möchte. Die Verlockungen des Aufsteigens und des Absteigens sind einfach zu groß. Nein, es ist keine Verlockung, dazu fehlt es an der verführenden Absicht (aber wer weiß, womöglich riechen Treppen, gleich aus welchem Material, ausnehmend gut und es gibt sogar ein Treppenaroma, das nur Babynasen erreicht), nein, es ist mehr als eine Verlockung, aber weniger als ein Trieb (kein ich muss treibt die kleinen Treppengeher an, vielmehr ein ich will). Treppen sind überall, oft gibt es nur eine Stufe, doch die Einstufentreppe des Bordsteins oder die Zweistufentreppe zu den Mülltonnen hinauf oder die Dreistufentreppe zur Kellertür hinunter üben, auch wenn sie nie ausgelassen werden, keinen so großen Sog auf unser Baby aus wie die Treppe, die zur Wohnung führt (es muss nicht unsere Wohnung sein, gerne gehen wir auch im Besuchsfall die Treppen zu den Wohnungen der Anderen, der Bekannten, der Freunde, aber die Treppe zu unserer Wohnung, unsere Treppe, gehört unsere Vorliebe. Unsere Treppe ist die eigentliche Treppe, die wahre Treppe, die Vorbildtreppe, eine mehrmals täglich bestiegene Gewohnheitstreppe, deren Besteigung  aber mit dem Baby an der Seite uns erstaunlicherweise nie zu eben dieser Gewohnheit verkommt. Das hat zu tun mit unserem Herkommen, glauben wir, darin liegt vielleicht der Witz der ersten Treppen – ist es nicht so gewesen, dass unser Baby zu uns herabgestiegen ist, und wie anders hätte das vorsichgehen können, als über eine Treppe?). Also gehen wir mit unserem Baby (wieviel Baby steckt überhaupt noch im treppensteigendem Kind?) in aller Langsamkeit Stufe um Stufe hinauf und hinab (wann fragen wir uns einmal, hat es angefangen mit dem Treppensteigen? Wir können uns nicht gut zurückerinnern, an die erste Stufe, den ersten Schritt, wie oft, wenn wir uns fragen, wie hat dies oder das angefangen, scheint es fast so, als würde, das, was anfängt einfach anfangen, als würde dem ersten Schritt gleichsam kein erster Schritt vorangehen, vorangehen können. (Das erinnert mich an eine Übung des Mediationslehrers Charles Genoud, die hier in Englisch wiedergegeben wird, denn auch der Franzose spricht Englisch, wenn es um spirituelle Lehre und Übung geht: you may stand / just being standing / can you take a first step / where is it now / now you are standing just standing / can you take a second step / what does second mean when one takes a step / a previous step does not exist anymore / how could we ever take another step / another step with respect to what / past steps do not exist future steps do not exist another step does not exist / first second keep the sense of duration / of time / can you walk going nowhere / walk fast / going nowhere). Wir gehen mit unserem Baby nach oben. Aber es ist in Wahrheit so: unser Baby geht die Treppe zu unserer Wohnung nach oben und wir gehen an seiner Seite. Es nimmt dabei nicht unsere helfende, haltende Hand in Anspruch, denn es greift, seitlich gehend, mit beiden Händen in die senkrechten Streben des Treppengeländers. Es geht sehr langsam. Wir gehen sehr langsam. Zwischen jedem Schritt gibt es eine Art Pause, eine Lücke, Luft, Raum, genug Zeit für einen längeren Vortrag (zum Beispiel über das Treppensteigen: dass es manchmal einer Aneinanderreihung von Fermaten ähnelt). Aber dann (weil unser Baby unberechenbar ist) macht es jetzt nicht zwischen jedem Schritt diese Pause, sondern nur zwischen jedem dritten oder fünften. Wir gehen langsam: das stimmt nicht. Ich versuche langsam die Treppe hochzugehen. So langsam, dass ein neues Wort nötig wäre, um diese Langsamkeit treffend zu beschreiben. Nicht zu langsam hinterher zu gehen und schon gar nicht schneller zu gehen als unser Baby und in den Pausen nicht wegzusacken, zu vergessen, dass wir ja unterwegs sind: es fällt dem Begleiter nicht leicht. Es handelt sich hier um keine Übung in der Zeit, sondern eine Übung der Zeit selbst. An der Zeit, mit der Zeit, eine Zeitübung. Dem geduldigsten Vater, der geduldigsten Mutter wird die Zeit lang, unendlich lang, ein Ungeheuer diese Zeit (wir haben scheinbar Probleme mit der Ewigkeit, aber nicht, weil wir uns nichts unter ihr vorstellen können, sondern weil wir dann, wenn sie akut ist, mitten in der Zeit sich zeigt, verzagen, als könnte sie uns beschädigen, als würde sie uns die Zeit rauben). Eine Übung ist es, eine große Übung. Das Vorpreschen des eigenen Fußes ist kaum zu bändigen. Üblicherweise ist das Treppensteigen lästig (wenn wir es nicht aus sportlichen Gründen unternehmen), es hält auf, wie es uns (je nach Anzahl der Stockwerke) außer Atem bringt, und überhaupt ist es nur ein Intermedium auf unserem Weg von da nach dort, dem wir nicht zuviel Aufmerksamkeit schenken wollen, oder überhaupt keine. Aber jetzt! Unser Baby (dem wir beim Treppensteigen noch nicht zuviel zutrauen wollen, es könnte die Balance verlieren oder statt an die Streben des Treppengeländers, in die Lücke zwischen zwei Streben greifen), unser Baby, dieser kleine Zeitdämon, unser Vermittler zwischen dem Irdischen und Göttlichen, zwischen Oben und Unten oder Unten und Oben, diesem Baby können wir nur folgen ohne die Nerven zu verlieren, wenn wir uns auf gleicher Höhe mit ihm bewegen, auf der gleichen Stufe der Treppe, wenn wir unser (unser, nicht sein) Ziel aus den Augen verlieren, wenn wir nichts tun, als was unser Baby tut, sich die Treppe hinauf- oder hinunterbefördern, alles, was man ist hinauf- oder hinunterbefördern, restlos, komplett und ohne Bedenken. Auf der Höhe mit unserem Baby sein, ist auf der Höhe mit der Zeit sein. Dem Tempo des Babys gehorchen wie seinem Rhythmus (und wirklich: wir haben gar keine Wahl nicht zu gehorchen, wir können uns ein bißchen dagegen auflehnen, das schon, aber das bringt uns nichts und schon gar nicht weiter) – vielleicht gewinnen wir dadurch unser eigenes Tempo, unseren eigenen Rhythmus zurück (sie sind uns verloren gegangen im Laufe der Zeit, zum Glück nicht ganz). Tatsächlich, so ist es: wir besiegen unseren Eigensinn beim Treppensteigen und versöhnen uns mit der Zeit. Und dann sind wir oben (oder unten) angekommen. Jetzt sind wir oben (oder unten) und ein ganzes Leben ist vergangen. (Heute will unser Baby die letzten Stufen nicht mehr gehen. Es dreht sich mir zu, legt den Kopf in den Nacken, um zu mir hochzusehen und streckt die Arme aus. Dann springt es an mir hoch und ich trage es nach oben, heute oben, in meinem Tempo, meinem Rhythmus. Nein, es ist natürlich nicht an mir hochgesprungen, das kann es noch nicht, aber so plötzlich, wie es den Wunsch zeigte, getragen werden zu wollen, kam mir das vor wie ein Sprung. Ein Zeitsprung. Oder vielmehr eine Sprengung der Zeit. Schon öfter habe ich das gedacht: so ein Baby ist auch ein Sprengmeister.)

No reason to be modest. The baby bears comparison with the greatest and the best. Our genius! Our brilliant master! Of course we compare ourselves, of course we compare our baby, us with the others, our baby with the other babies. How could we not! If we want to know what we are like, we resort to comparisons, and inversely: Anyone wanting to know what we are like will notice immediately that we are the kind of people who like to compare, and who particularly like to compare when they pretend not to compare. It’s not really good manners to compare, and morality usually reckons comparison among the sins of self-love, which is itself a sin, albeit a venial one. Perhaps the reason comparison is regarded as both good and bad is that it is so enormously intent on results. He who compares, receives a result, the judgment falls almost instantaneously, resulting in contentment if the judgment is positive, and in discontent if it is negative. And so: without undue modesty we compare ourselves (the baby, you, I), our family, but not with some other family, or only indirectly with another family; we compare ourselves by way of music, through a symphonic poem that bears the title “Symphonia domestica,” a work by the last great symphonic master, Richard Strauss. In concert with our baby the barriers fall, the inhibitions, the shyness at making such comparisons. Where else could a meaningful comparison be established if not where the best is happening, where the best comes to offer its services to our hearing in order, precisely, not to overwhelm it. The working title of the Symphonia domestica was: My home. A symphonic self- and family portrait. (Here we pause. My home: an expression that begins to hover, begins to hover at the level of the heart, but whose weightlessness is imperceptible. Which can only mean: it has weight. Weight, in the way music has weight, even though it must be counted among the imponderable things. What better way could there be to tell an autobiographical story that completely addresses the family, than symphonically? Strauss tells the story, massively and lyrically (and somewhat coarsely), of his familial inner life, which at the moment of being told turns into outer life. Family is visible and invisible. And its best way of being visible is by being audible. As a concept, family is too unwieldy, too ambivalent, too historical, too strongly separated from the moment. As music, family is a resounding pleasure without any dissonances mixed in, not a single one, even though there is no lack of skewed, crooked, common tones. Harmony plays no role or only a subsidiary role in matters of musical creation, of sounds arranged in faithful obedience to a compositional concept, blindly conscious – blindly conscious as we are when we attune ourselves to follow our baby’s day-symphony. The harmony that delights us is of a different kind. It arises by inner hearing, in this great space compared to which a concert hall seems like a doll’s house. Music sets off the inner hearing by liberating us from ourselves for these forty-five minutes: sounds escape us differently from the way thoughts do; if we tried to hold on to them, we would miss the whole. That is what the family is like, we think, exactly like that, happily listening to the blandishments of the oboe d’amore. Dedicated to my wife and our boy. Those are the words above the score. Could there be a dedication more steadfastly sweet in its formulation, more innocent, more free, more simple? How easily comparison occurs to us at this moment, how tenderly it nestles close to us, like our baby’s recent way of resting his forehead against our forehead whenever he feels like it.) If we compare music with life, we notice: it can’t be compared. It’s much worse than it is with apples and oranges. Transferring something from music into life is impossible. That is why we love music. Because of its incomparability. And we want all the more to be grateful to music for enlightening us as to the true nature of the family (in these luscious three quarters of an hour that hide themselves as such with ease). The family is as it is: dreamy, fiery, fresh, leisurely, sensitive, angry, calm, singing, very comfortable. A family without a child does not exist, which is why pretty soon, naturally, the next comparison suggests itself (what makes music so incomparably incomparable: it allows itself to be compared with anything, music never objects). When the muted trumpets and clarinets want to assert that the baby is just like the father, while the trombones, horns, and oboes insist on ascribing similarity to the mother, in the symphonic whole it amounts to no more than the music’s little attempt at a joke. Enough comparisons, we think. Our baby resembles you and our baby resembles me. A similarity beyond arithmetic. Let’s just say the similarity is of a musical kind. Let us by all means compare our family’s nature with music, which we will probably not recognize the next time we hear it. And then suddenly it seems completely familiar. Utterly new. Mysterious. Blindly conscious. (What a tangled mess music is! What a pleasure! The dress rehearsal is over. I – a mere listener – take a deep breath. The conductor begins to make corrections. Who in this whole musical history is the conductor? Here and there, a capo, faster, slower, softer . . . together, together, always together! But above all, no hurry! Our last comparison: The family is an accident-free composition, absolutely symphonic, more loud than soft, and always somewhat heroic, its single voice is many-voiced, and it is many-more-voiced than three voices in unison, but who the hell is the director?)(Ultimately that was not a real comparison, and it is not the ultimate comparison either: Our baby’s conductorship, which we so passionately obey, belongs for its part to the sphere of chance and accident. No wonder this is what gives rise to the most beautiful music. When we hear it,

Das zweite Jahr

13

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Kinder sind Wunderkinder, heißt es bei August Strindberg (Das Buch der Liebe), und es ist fast so, als würde diese Überschrift zu einem kurzen Text ausreichen, sich in der wohligen Sicherheit einer warmen Gewissheit zu wiegen. Ja, Kinder sind Wunderkinder! Ein Ausruf, der sich genügt, keiner Erläuterung bedarf, denn jede Erläuterung würde nur seiner Wahrheit Kratzer zufügen, seinen Glanz beschädigen und am Ende ruinieren. Am besten wird es sein, so lange wie möglich in der reinen Anschauung zu verbleiben, die die Gewissheit des Ausrufs garantiert (eine schwierige Übung, die unser Baby aber nachdrücklich von uns fordert. Oft genug zeigt es uns, was wir am schlechtesten können: einfach nur schauen, nur schauen, schauen. Und mag ein Gedanke zu diesem Schauen sich einstellen, der uns klar und wahr vorkommt, ihn in Ruhe lassen! Still sein. Ein Satz, ein Ausruf genügt. Unser Baby praktiziert es. Langsames Herumstreunen, ein Blatt finden, ein Stöckchen, einen Kronkorken – irgendetwas finden -, es in die Hand nehmen, hochhalten, und ein artikulierter Ruf der Freude. Vielleicht ein paar Mal hintereinander. Dann anschauen. Im Schauen bleiben. Auch deshalb sind Kinder Wunderkinder, weil sie etwas können, das uns sofort Kopfzerbrechen bereitet. Finden wir die Wahrheit einmal – und es geschieht häufiger, als wir es bemerken – können wir uns kaum daran hindern, sie zu zerlegen, zerschlagen, zerstören. Innehalten fällt uns unendlich schwer, wie alles dem Nichttun ähnliche – Innehalten, eine Tugend, die unserem Baby in die Wiege gelegt wurde und die es seitdem stets bei sich trägt, auf seinem Kopf trägt, eine Krone, glänzender noch als die Wahrheit selbst). Alle Kinder sind, trotz allem Geschwätz, Wunderkinder. Bis sie schweigen gelernt haben. Kleine Kinder sagen ja oft Dinge, dass man verblüfft ist. Sie verstehen alles, was man spricht, auch wenn man es ihnen zu verbergen sucht. Sie scheinen Gedankenleser zu sein, verraten unsere geheimsten Absichten, bestrafen uns im voraus, heißt es weiter bei August Strindberg. (Wir bringen den Kindern nicht das Sprechen bei, sondern das Schweigen. Von Anfang an sprechen sie, sprechen alles aus, weil sie gar nicht anders können, nicht anders wollen. Allwissende, die sie sind, Allesbemerker, die sie sind, Furchtlose und Mutige, die sie sind. Unser Schweigen ist unsere Mutlosigkeit und Furcht. Ihr zukünftiges Schweigen ist ihre Treue zu uns, ihr Mitleiden an unserer Furcht und Mutlosigkeit. Und irgendwann wird ihr Schweigen wie unser Schweigen sein – das also, können wir dann sagen, haben wir unseren Kinder gründlich beigebracht: Das Schweigen. Ein naheliegender Verdacht: das große Reden und Großreden, die Bedeutung der großen Redner vertuscht das Schweigen, das die große Rede, jedes Großreden in Wahrheit ist. Und wenn es keinen Grund für das Daseins der Babys gäbe, wenn sich kein einziger finden ließe, gäbe es immer noch den, dass unsere Babys uns erinnern, dass sich das mit dem Reden und Schweigen irgendwann verkehrt hat, dass aus dem Reden das Schweigen wurde und aus dem Schweigen das Reden. Und das wäre der Grund, warum die Menschheit ihr Ende finden würde, gäbe es keine Babys mehr – und nicht der Mangel an Nachkommen. Babys sind mehr Erinnerung als Zukunft und ohne diese Erinnerung, ohne das, woran sie uns erinnern, gäbe es keine Zukunft. Es ist so, sagen die Babys, wir sind mit Strindberg einer Meinung und mit Platon sowieso. Strindberg hat ganz recht, wenn er auf Platon verweist, alles, was das Kind lernt, gewinnt es nur zurück aus einem Vorhergehenden. Wir, sagen die Babys, sind Strindberg und wir sind Platon, Strindberg ist ein bißchen verrückt, aber das sind wir ja auch. Und Platon ist auch ein bißchen verrückt, auf eine andere Art, auf eine weniger hitzige Art, aber das sind wir manchmal auch, weniger hitzig, oder wie man heute und nicht zu Strindbergs und Platons Zeiten sagt: cool.) Das Wundersame an Babys ist, dass sie nicht leer sind und auch nicht voll sind. Sie tragen die Zeitalter der Menschheit in sich, wenn sie zu uns kommen, aber nicht als Ballast, Rucksack, Traurigkeit. Sie wissen alles, aber nicht auf diese Weise, wie wir uns alles wissen vorstellen. Sie finden das Wissen, Forschen, Anschauen amüsant. Genau das scheint ihre Haltung zu sein, mit der sie auf die Welt kommen: diese Welt ist Amüsement. Das ist die Babyart, die Welt wertzuschätzen. Eine Wertschätzung, die so radikal ist, dass sie nichts als nicht Wert zu schätzend ausschließt. Aber dann heißt es bei Strindberg: „Tu das nicht!“, sagte mein zweijähriges Kind, ehe meine Absicht noch halb gereift war. Auch so sind die Babys. Da kugeln sie gerade noch in totaler Wertschätzung durch unsere Welt und im nächsten Augenblick ermahnen sie uns. Wie soll man diese Ermahnung verstehen? Müssten wir, wenn wir bei Sinnen sind, nicht eine Ermahnung durch unser Baby, nein, allein die Idee einer solchen, rüde ablehnen und ins Reich der sogenannten Hirngespinste verweisen? Andererseits ist es schwer, diesen Gedanken, einmal gefasst, wieder loszuwerden. Vielleicht möchte uns unser Baby bloß vor jeder Unaufrichtigkeit bewahren, deren Verführungen wir kaum widerstehen können. Will unser Baby doch in jedem Augenblick (wirklich in jedem, nicht nur ab und zu, oder in jedem zweiten Augenblick oder zehnten), dass wir nichts tun, ohne es ganz zu tun, und Ganzes zu tun, muss bedeuten, nie die Verbindung zu dem, woraus wir etwas tun, zu verlieren, und Verbindung soll heißen, dass wir wie unser Baby eine Rückverbundenheit beachten, aus der heraus wir nicht länger Handelnde sind. So klug ist unser Baby. Und wenn wir noch weitere Fragen haben oder uns etwas unklar geblieben ist, wird uns unser Baby auf Nachfrage wie bei August Strindberg schelmisch und überlegen anlächeln und antworten: „Das weißt du schon selber.“ (Da kommst du vorbei mit unserem Baby auf dem Rücken und berichtest, du glaubst, es hätte heute sein erstes richtiges Wort gesprochen, Decke, beim Herumtragen der kleinen, weißen Wolldecke und dabei hätte sein Gesicht einen scheuen Ausdruck angenommen. Und du sagst weiter, ich hätte gerade ganz und gar keinen scheuen Ausdruck im Gesicht, ganz im Gegenteil, auch wenn du nicht zu sagen wüsstest, was genau das Gegenteil von scheu wäre, treulich womöglich. Als ich dir berichte, worüber ich eben, bevor du kamst, nachgedacht haben, sagst du, aha! Lange sinne ich darüber nach, was dieses aha! bedeuten mag, während ich Kartoffeln und Zucchini in kleine Stücke schneide, denke ich darüber nach, auch während ich später die Küche aufräume und auch, während du unser Baby ins Bett bringst und überhaupt den ganzen Abend, bis wir uns schlafen legen. Beim Einschlafen schließlich komme ich darauf, was dieses aha! bedeutet. Kaum liest man ein bißchen Strindberg, bedeutet es, wird man schon wie Strindberg und nicht nur ein bißchen, man ist dann Strindberg, wie eigentlich nur Babys Strindberg sein können. Strindberg, denke ich beim Einschlafen, ist ein echter Babyautor, seine Wahrheitsart ist wie die Wahrheitsart der Babys, das ist so, weil er selbst ein Wunderkind ist, wie wir alle, wie wir alle).

Children are wonder-children, it says in August Strindberg (The Book of Love), and it is almost as if this brief title would suffice for a brief text in which to lull oneself in the comforting assurance of a warm certainty. Yes, children are wonder-children! An exclamation that is sufficient to itself, does not require explanation, for any explanation would only mar its truth, damage its luster, and ruin it in the end. It will be best to abide as long as possible in the pure contemplation that the certainty of this exclamation guarantees (a difficult practice, but one which our baby emphatically demands of us. Often enough he shows us what we are least able to do: just seeing, just seeing, just seeing. And if a thought about this seeing should arise — a thought that strikes us as clear and true – let it be! Just be still. One statement, one cry is enough. Such is our baby’s practice. Slowly roaming about, finding a leaf, a stick, anything – taking it into his hand, holding it up, and an articulate cry of joy. Perhaps a few times in a row. Then look at it. Stay with the seeing. This is one more reason why children are wonder-children: that they can do something that immediately turns into a headache for us. If we stumble on the truth – and it happens more frequently than we notice – we can hardly prevent ourselves from taking it apart, smashing it, ruining it. Stopping is infinitely difficult for us, like anything that resembles non-action – stopping, a virtue our baby seems to have been born with and which he always carries with him, on top of his head, a crown, more radiant than truth itself. All children are, in spite of idle talk, wonder-children. Until they have learned not to talk. Little children often say things which astound one. They understand all that we say even when we hide it from them. They seem to be thought-readers, divine our secret purposes, and rebuke us beforehand, it says further in August Strindberg. (We don’t teach children how to speak, we only teach how not to speak. They speak from the beginning, and say everything out loud, because they can’t do otherwise. All-knowing ones that they are, all-noticing ones that they are, fearless and courageous ones that they are. Our not-talking is our discouragement and our fear. Their future not-talking is their way of being faithful to us, is their compassion with our fear and discouragement. And at some point their silence will be our silence – so this, we can say then, is something we thoroughly taught our children: how not to speak. An obvious assumption suggests itself: great speeches as well grandiloquent talk, the importance of the great orators camouflages the not-saying that every great speech and all grandiloquence actually are. And if there were no reason for our baby’s existence, because no such reason could be found, there would still be the fact if which our babies remind us, that the business of speech and silence at some point reversed itself, that speech became silence and silence speech. And that would be the reason why humanity would come to an end if there were no more babies – and not the lack of offspring. Babies are more memory than future and without this memory, without that of which they remind us, there would be no future. That is so, the babies say, we are in agreement with Strindberg, and with Plato too, that goes without saying. Strindberg is completely right when he refers to Plato, everything the child learns is merely a recovery of something that existed before. We, the babies say, are Strindberg and Plato, Strindberg is a little crazy, but so are we. And Plato is a little crazy too, but in a different way, in a less heated way, but that is something we are too, sometimes, or, as people say nowadays and didn’t say when Strindberg and Plato were alive: cool.) The strange thing about babies is that they are not empty and not full either. They carry the ages of humanity within themselves when they come to us, but not as a burden, a backpack, sadness. They know everything, but not in the way we imagine knowing everything would be. They find knowing, exploring, examining amusing. Just that seems to be the attitude with which they come into the world: this world is amusement. That is the babies’ way of appreciating the world. An appreciation that is so radical that they find nothing not worthy of appreciation. But then it says further in Strindberg: “Don’t do that, said my two-year-old child before my plan was half formed” — that too is how babies are. One moment they are rolling through our world in total appreciation, and the very next moment they rebuke us. How should we respond to this rebuke? Should we not, if we are in our right mind, brusquely reject a rebuke from our baby, even the very idea of such a rebuke, and relegate it to the realm of so-called chimeras? On the other hand it is difficult to dismiss this thought once once has formed it. Maybe out baby only wants to protect us against insincerity, which tempts us almost irresistibly at every turn. That what our baby wants of us at every moment (truly at every moment, not just now and then, or at every other moment or every tenth) is that we do nothing without wholly doing it, that we act wholeheartedly, must mean never losing the connection with what we act out of, and connection means that, like our baby, we do not ignore a connection with a source out of which we are no longer the agents of our deeds. That is how smart our baby is. And if we have any further questions or something is still not clear, our baby will respond to our queries, as the child does in August Strindberg, roguishly and with a knowing smile: “You already know that yourself.” (Just now you come in with our baby on your back to tell me you think he said his first real word today, blanket, while carrying the little white woolen blanket, and that his face took on a shy expression. And you say further that I at the moment don’t have a shy expression on my face, quite the opposite, even though you can’t say what exactly the opposite of shy might be, confiding perhaps. When I tell you what I was thinking about just before you came, you say, Aha! For a long time, I wonder what this Aha! might mean, while cutting potatoes and zucchini into small pieces I’m still thinking about it, and later while cleaning up in the kitchen and also while you put our baby to bed and actually throughout the evening until we lie down to sleep. While falling asleep I finally realize what this “Aha!” means. The moment one reads Strindberg just a little, it means, one is already Strindberg and not just a little, one is Strindberg, just as, in truth, only babies can be Strindberg. Strindberg, I think, as I fall asleep, is a true baby author, his kind of truth is the babies’ kind of truth, and this is so because he himself is a wonder-child, just as we all are, all of us.

 

 

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Ein Bild in der Tageszeitung zeigt einen Vater und einen Sohn. Der Sohn trägt ein gelbes, ärmelloses Shirt und eine gelbe kurze Hose und sitzt auf den Schultern seines Vaters. Mehr auf der linken Schulter als auf der rechten, sein linkes Bein hängt fast bis zum Bauch des Vaters, das andere Bein ist angewinkelt, der Fuß liegt auf dem Schultergelenk. Das Kind ist vielleicht eineinhalb oder zwei Jahre alt. Es sitzt sicher, hält sich nicht mit den Händen fest. Sein Blick ist in die Ferne gerichtet, womöglich auf den Fotografen. Der Junge hat glatte schwarze Haare, kurz und ordentlich geschnitten, die gleiche Frisur wie der Vater, dessen Haare noch etwas schwärzer sind. Der Vater trägt ein dunkelgraues T-Shirt mit hellgrauem Kragen und eine blaue, vermutlich kurze Sporthose. Vermutlich, weil er bis zu den Oberschenkeln im Wasser steht. Die beiden sind auf einer überfluteten Straße in Sri Lankas Hauptstadt Colombo unterwegs. Der Vater hält in der rechten Hand einen Stock, dessen anderes Ende ins Wasser getaucht ist. Der Blick des Vaters ist nach unten gerichtet, sein Mund soweit offen, dass die weißen Zähne sichtbar sind, es könnte sein, dass er gerade etwas sagt oder eben gesagt hat. (Vater-Sohn-Bilder reden. Sprechen mich an. Auf eine ganz und gar andere Art, als die Tausende und Abertausende Mutter-Sohn-Bilder, Zentrum und Kern der christlichen Ikonographie, denen man nicht entkommen kann, wenn man Kirchen und Museen der bildenden Kunst besucht. Oder auf einem Spielplatz sitzt oder einer Wiese oder in einem Café, auf und in dem sich Mütter mit Kindern mit Müttern mit Kindern treffen. Das Mutter-Sohn-Bild ist ein gewohntes Bild, selbst wenn man die Kunst beiseite lässt, wird dieses Bild jeden berühren, taucht gleichsam in den Betrachtern von Mutter und Sohn zusätzlich selbst auf, als würde die Innigkeit zwischen Mutter und Sohn ursprünglicher und wahrer sein als die zwischen Vater und Sohn. Wenn diese Innigkeit überhaupt sichtbar wird. Manchmal lassen sich Sportler nach einem großen Sieg ihre kleinen Söhne in die Arena hinunterreichen, als hätten sie den Sieg auch ein wenig für diese errungen oder vielleicht sind sie auch erleichtert, nach der Schlacht lebendig und unverletzt ihren Nachkommen wiederzubegegnen. Die Innigkeit zwischen Vater und Sohn tritt spärlicher auf und weniger selbstverständlich. Man stelle sich nur Gott und seinen Sohn Arm in Arm vor, sichtbar, kaum, dass man eine Kirche betreten hat, in jeder Seitenkapelle, jedem Seitenschiff würde man dieses Bildnis finden und groß und mächtig in der Apsis über dem Altar oder gar das Gewölbe darüber vollständig schmückend. Gott aber lässt sich schwer umarmen, selbst von seinem eigenen Sohn nicht.) Der Sohn im gelben Dress auf den Schultern seines Vaters. Beide sind für sich und doch auf eine ungezwungene Weise zusammen. Sie kennen sich, sind vertraut miteinander, der Sohn sitzt nicht das erste Mal auf den Schultern seines Vaters. Die beiden wirken zufrieden, wie sie da die überflutete Straße entlangwaten, sie haben keine Eile, sie folgen niemanden und niemand folgt ihnen, womöglich haben sie kein Ziel oder wenn sie ein Ziel haben, dann verfolgen sie es nicht mit besonderer Dringlichkeit. Ein modernes Bild. Das Vater-Sohn-Bild ist moderner, aktueller, spannender als das Mutter-Sohn-Bild. Für einen Moment erscheint es mir sogar (auf diese watende Weise) revolutionär, gestatten sich diese beiden Männer (der große und der kleine Mann) doch eine Form selbstbewusster und respektvoller Nähe, die womöglich einem Ideal von Nähe nahe kommt, wie etwas überhaupt nur einem Ideal nahekommen kann (im Mutter-Sohn-Bild ist das Ideal wirklich geworden; jetzt, bei der Betrachtung dieses Fotos in der Zeitung, finde ich das ein wenig schal, gerade wegen diese Verwirklichung). Das Vater-Sohn-Bild spricht, der gelb gekleidete Junge und sein Vater sprechen zusammen, aber nicht mit einer Stimme. Bei längerer Betrachtung wächst die Schönheit des Bildes. Seine Deutlichkeit und Klarheit. Bei längerer Betrachtung spricht es immer weniger, leiser, bis es gar nicht mehr spricht. Oder man könnte sagen, das Bild spricht für sich. Zu dem Bild in der Zeitung gehört noch eine Bildunterschrift. In ihr heißt es: Die Einwohner von Sri Lankas Hauptstadt Colombo leiden unter der Flut. Es ist nicht ungewöhnlich, dass die Bildunterschrift in Zeitungen häufig wenig mit dem Bildinhalt zu tun hat, dass die Bildunterschrift viel mehr Interpretation als Beschreibung des Sichtbaren ist, aber hier ist die Differenz außergewöhnlich groß. Denn dieses Bild zeigt eines ganz gewiß nicht: Leiden. Die Bildunterschrift verkehrt den Inhalt des Bildes geradezu in sein Gegenteil (mutwillig, aus Gedankenlosigkeit, weil gerade kein anderes Bild verfügbar war? Aber Gedankenlosigkeit gibt es doch gar nicht! Wer wäre je einen Augenblick ohne Gedanken gewesen?). Gibt es, dort, wo man ist, eine Überflutung, so muss gelitten werden. Doppelt, denn der Vater hat ja noch seinen Sohn bei sich, trägt also auch die Sorge um dessen Zukunft auf den Schultern! So oder so ähnlich mag jemand gedacht haben, der die Bildunterschrift verfasst hat und er (oder sie) wird damit bei einem großen Teil der Bildbetrachter ins Schwarze getroffen haben (ins Schwarze der Seele, wo Angst und Not hausen). Und doch ist diese Verdrehung sehr seltsam, wenn man bedenkt, wie stark die beiden, Vater und Sohn, wirken, wie wenig verzagt, geradezu glücklich. Glücklich jetzt, da sie beisammen sind und durch die überflutete Straße waten, sich genügend, sorglos in ihrer möglichen Sorge, ob das Wasser wieder abfließen und über die Schäden, die es hinterlassen wird. Nein, die beiden leiden nicht und das ist so offensichtlich, dass es an ein Wunder (ein düsteres Wunder) grenzt, es zu übersehen oder nicht zu sehen. So kommt es mir vor: Das Glück ist unsichtbar (wie für den Vater der Sohn, den er auf den Schultern trägt fast unsichtbar ist), das Leid ist sichtbar, jederzeit, gleich, ob ausgedacht oder nicht, und das sichtbare Glück kann gegen das unsichtbare Leid wenig ausrichten. Nein, so kommt es mir vor: Das innige Vater-Sohn-Bild ist zu neu, zu modern, zu schön, um wahr zu sein. (Mein Sohn wartet, wir wollen jetzt durch die sonnigen Straßen der Stadt laufen, später Nachmittag, er wird auf meinen Schultern sitzen, wir haben es noch nicht oft ausprobiert, aber jetzt wollen wir es unbedingt so machen. Wir wollen etwas herausfinden. Ein paar Bilder anschauen, draußen im Freien.)

A picture in the newspaper shows a father with his son. The son is wearing a yellow, sleeveless shirt and short yellow pants and is sitting on his father’s shoulders. More on the left than the right shoulder, his left leg is hanging down almost to the father’s belly, the other leg is bent with its foot by the father’s shoulder joint. The child may be a year and a half or two years old. He is sitting securely, is not even holding on with his hands. He is gazing into the distance, possibly at the photographer. The boy has smooth black hair, short and well cut, the same barber as the father, whose hair is a little bit blacker. The father is wearing a dark gray T-shirt with a light gray collar and blue pants, presumably shorts. Presumably because he is standing in water up to his thighs. The two of them are moving along a flooded street in Sri Lanka’s capital, Colombo. The father is holding in his right hand a stick whose other end is dipped into the water. The father’s gaze is directed downward, his mouth is open, so that his white teeth are visible; possibly he is saying something or said something a moment ago. (Father-son images speak, and speak to me. In a very different way than the thousands upon thousands of mother-son images, the center and core of Cristian iconography, inescapable when one visits churches and art museums. Or when one sits in a playground or on a meadow or in a café where mothers with children meet with mothers and children. The mother-son image is a familiar image, and even when one sets art aside, this image will touch everyone, and will arise as a kind of additional mother-son image in the observers of mothers and sons, as if the closeness between mother and son were more primal and more true than the closeness between father and son. If such closeness even becomes visible. Sometimes athletes have their little sons handed down to them into the arena, as if they had won their victory in part for their sons, or perhaps they are relieved to be able to meet their offspring alive and uninjured after the battle. The intimacy between father and son is less frequently seen and is therefore not as unsurprising. Imagine God with his son on his arm, a visible presence the moment you enter a church, and seeing this image powerfully represented in every side chapel, every side aisle, in the apse above the altar or even gracing the entire vault above it. But God is difficult to embrace, even for his own son.) The son in his yellow clothes on his father’s shoulders. Each of them is on his own and yet they are at ease together. They know each other, are familiar with each other, it is not the first time the son has sat on his father’s shoulders. They both seem content, wading along the flooded street, they are not in a hurry, they are not following anyone, nor is anyone following them, conceivably they have no destination, or if they do have a destination, they are not approaching it with particular urgency. A modern image. The father-son image is more modern, more current, more exciting that the mother-son image. For a moment it even strikes me (in this wading sort of way) as revolutionary, for these two men (the big and the little man) are allowing themselves a form of self-confident and respectful closeness that perhaps comes close to an ideal of closeness, as of course anything can only come close to an ideal (in the mother-son image the ideal has become real; now, as I look at this photograph in the newspaper, I’m finding that a little shallow, precisely because of this realization). The father-son image speaks, the boy dressed in yellow and his father are talking to each other, but not with one voice. The longer one looks at this picture, the more its beauty grows. Its clarity and self-evidence. The longer one looks, the less it speaks, the less audible the speech becomes, until it no longer speaks at all. Or one could say the picture speaks for itself. The picture in the newspaper comes with a caption, it says: The residents of Sri Lanka’s capital Colombo are suffering from the flood. It is not unusual for the captions of pictures in newspapers to say things that have little to do with the pictures’ content, furnishing interpretation rather than a description of what can be seen, but here the difference is exceptionally great. For there is one thing this picture definitely does not show: suffering. The caption virtually turns the content of the picture into its opposite (deliberately, out of thoughtlessness, because no other picture was available at the moment? But there is no such thing as thoughtlessness! Who in the world has ever been without thoughts for so much as a moment?). If there is a flood in the place where one is, there must be suffering. Doubly, for the father has his son with him, so he is bearing concern for his son’s future on his shoulders as well! Some such thoughts may have crossed the mind of the person who wrote the caption, and he (or she) will have hit the bullseye among a large number of the people who looked at the picture (the blind eye of the soul where fear and affliction dwell). And yet this inversion is very strange if one considers how strong these two, father and son, appear, how undaunted, how downright happy. Happy now that they are together, wading through the flooded street, sufficient to themselves,

 

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So im weit ausholenden Garten sitzend, auf Augenhöhe mit der Landschaft des Burgunds, der sanften, satten, grünen Hügelung, unter der gewölbten, blass blauen Kuppel des Himmels , der Arena des unaufhörlichen Gesangs der Vögel, durchsichtiger Klang in der durchsichtigen, frisch gewaschenen Luft (in der Nacht hat es geregnet, aber schon jetzt am Morgen haben Wind und Sonne die Wiesen wieder getrocknet): so befinden wir uns in unserem Element. Kinder sind gerne draußen, im Freien, wo alle Grenzen sich im unerreichbaren Horizont verlieren. Draußen: viel auf dem Boden herumliegen, klettern, krabbeln, rollen, und dann loslaufen, die gemütliche graue Decke verlassend, wieder zurückkehrend, verlassend, zurückkehrend. Draußen: Grashalme ausrupfen und zerreißen, keinem Menschen, keinem Baby würde sein Leben ausreichen, jeden Halm dieser Wiese auszureißen und zu zerkleinern. Gras wächst zu schnell für uns Menschen, daher wahrscheinlich seine Geduld und Schmerzlosigkeit. Und Gänseblümchen köpfen, das lernt man früh, ohne dass es einem jemand beigebracht hätte. Winzige Spiegeleier, kreisrund, die sich Zeit lassen mit dem Welken und Schrumpfen, als hätten sie noch nicht gemerkt, was ihnen angetan wurde. Dottergelb und Reinweiß, abgerissen oder nicht, die Köpfchen bleiben appetitlich, lebendig oder tot (aber Pflanzen sterben ja nie: die magere Clematis im Beet an der geziegelten Wand des westlichen Anbaus an unserem Haus, eingefasst von einem kleinen geflochtenen Weidenzaun, weiß, wovon wir reden. Sie selbst kümmert – wir haben immerhin schon Mitte Mai – dahin, aber ihre Einzäunung hat plötzlich einen starken Trieb entwickelt, der jetzt im stumpfen Winkel deutlich nach Osten zeigt und erste grüne Blätter entfaltet hat.) Das Baby und die Natur: ganz anders als wir kennt es keine Sorge um sie, noch Ehrfurcht. Es denkt nicht über sie nach. Es liegt an den Größenverhältnissen, alles liegt an den Größenverhältnissen. Im Freien verschieben sich die Dimensionen, alles wirkt größer und dann verschwindet der Eindruck als würde die Größe selbst ihn einsaugen und alles wird klein. Die Ferne ist groß und weit, und passt doch in ein, zwei Hände, ist zum Greifen nah. Eine Miniaturwelt, das ist die wahre Welt (die Welt der Geräusche ist eine andere: das Quietschen der Gartentür in ihren Angeln, was für ein unfassbar zeitloser Ton, der nur zwei, drei Höhen kennt und dessen Intervalle nie vorhersagbar sind. Immer, wenn man vermutet, jetzt gibt es wieder ein Quietschen zu hören, bleibt die Tür stumm. Um das Ohr sogleich neuerlich zu überraschen. Wundersame Verwandtschaft mit den Gelbbauchunken, die mit Beginn der Abenddämmerung ihren hohlen runden Ruf hören lassen, mit der gleichen Unvorhörbarkeit wie das Quietschen der Gartentür. Tags wie nachts gibt es keinen Rhythmus, keinen Takt, nichts Berechenbares, dem das Leben folgen würde, darin bestärken uns Gartentür und Unke einstimmig). Eine Miniaturwelt, gerade recht für Insekten, die bodennah über uns hinweg und durch uns hindurch fliegen, wie winzige Gedanken, zu klein für uns, um sie zu ergreifen (unser Baby deutet auf die hübschen Feuerwanzen, die sich auf der rissigen Beeteinfassung aus Stein versammelt haben, übereinander klettern, manchmal dabei abstürzen, aber für eine Feuerwanze ist ein Absturz kein Absturz. Es zeigt mit seinem leicht gebogenen Zeigefinger auf sie, ein dichtes Deuten kurz vor der Berührung, sieht fragend zu uns auf, aber wir wissen keine Antwort auf diese geblickte Antwort, als nickend zurückzublicken). Miniaturwelt: romanische Bildhauerei verstand sich gut darauf. Im Musée Rolin in Autun befindet sich die Eva des Meister Gislebertus. Sie ist viel schöner, viel zarter und zugleich viel größer als gedacht. Ausgestreckt käme die Figur fast auf die Maße einer zierlichen Frau. Sie besitzt also Dreiviertelsgröße, die Verkleinerungsform der Zärtlichkeit. (So steht es in Helmut Domkes Buch über das Burgund, 1963 erschienen, also vor unvordenklichen Zeiten, geschrieben im Stil kenntnisreicher Begeisterung, der an sich vielleicht schon eine Art Miniatur aus den Dingen macht, weil er sie so nah ans Auge holt, wie das Kind, das auf dem Bauch liegend durchs Gras blickt, jeden Grashalm einzeln erkennen kann, was dem Blick von oben nicht möglich ist; er sieht nur Wiese). Die Verkleinerung der Welt gebiert Zärtlichkeit! Daher also die Zärtlichkeit, die wir für unser Baby (und all die anderen Babys) empfinden, schießt es uns in den Sinn, eine Erkenntnis gegen die wir nicht den geringsten Widerstand verspüren, noch aufbringen könnten, die Erkenntnis des heutigen Tages, gerade richtig groß, uns nicht übermütig werden zu lassen. (Die Verkleinerung nicht zu beachten und zu achten – was für eine Barbarei. Begangen von den Banausen der französischen Revolution, die den ehemaligen Türsturz über dem Nordportal der Kathedrale von Autun ohne Bedenken fortgerissen haben. Das machen sie gern die Jüngeren: im Namen des Fortschritts das Alte ohne Ansehen und Respekt zu vernichten – mit einem Seitenblick auf unseren Sohn gedacht, wie viel Revolution mag in ihm stecken?) Und den ganzen Tag ruft der Kuckuck, eine Art Bassist im Vogelorchester, nicht die anspruchvollste Stimme, aber er spielt fast immer mit, so dass man seinen Beitrag gern vergisst, bis man plötzlich wieder an ihn erinnert wird, wenn für einen Augenblick die anderen Stimmen innehalten. Wir können in und über die Hecke am unteren Rand des Grundstück blicken, ein überwältigend schönes Geflecht aus Buche und Flieder und Röschen, Brennnesseln und hellviolett blühenden Ranken, ein bisschen Efeu, er sich dazugeschlichen hat und hohen eleganten Gräsern. Da drin wohnen die Vögel, in gemütlichen, kleinen Höhlen, die sie schützen und verbergen, von dort können sie herausblicken, hinüber auf den Hügel auf der anderen Seite der Senke, auf ein Haus mit neu gedecktem Dach, einem Bagger, einem Lastwagen und einem Betonmischer vor dem eingerüsteten Scheunentor, aber keinen Arbeitern. Als würde dieses niedliche Arrangement auf eine aus dem Himmel greifende Kinderhand warten, die Lust hat, Baustelle zu spielen. Miniatureffekt: eine Einstellung an unserer Kamera, ein Spezialeffekt, der aus dem gewählten Bildausschnitt eine Modelleisenbahnwelt erzeugt, übertrieben in den Farben und zu den Rändern hin in Unschärfe verschwimmend. Aber unser eigener Miniatureffekt, unser Blick und seine eigene Verkleinerungsform der Zärtlichkeit kommt uns stärker vor, weil absichtslos und unberechnet. In Autun fanden wir am frühen Vormittag unseres Besuchs direkt vor der Kathedrale einen Parkplatz auf dem kleinen ummauerten Geviert, mit viel Raum zum Öffnen der Türen nach links und rechts, dank der in ungeschicktem (oder geschicktem) Abstand gepflanzten Platanen, zu eng für zwei Autos nebeneinander. Ein fast unwirklich kleiner Parkplatz (für vielleicht dreißig Wagen) in der großen Autowelt, der uns glauben macht, man könnte aus der großen Welt bisweilen unmerklich in die kleine Welt überwechseln, hineinrutzschen, in der alles so einfach und beherrscht abläuft und sich fügt wie in den Miniaturwelten der Kinderzeit. Auf den Stufen der Freitreppe zur Kathedrale aber finden wir eine aus dem Nest gestürzte Taube, in der sich nur noch wenig Leben regt, das ihr Köpfchen nach vorne zucken lässt. Wieso das gerade beginnende, noch flaumige Leben schon wieder endet, ist rätselhaft und tief in uns gibt es eine Erschütterung, dort wo wir nichts kontrollieren können, dort an einem Ort, den wir normalerweise nicht spüren, wo nichts, was uns an Mitteln zur Verfügung steht (kein Gefühl, kein Verstand, keine Logik, auch nicht unser Herz), hinreicht. Nur unser eineinhalbjähriger Sohn ist nicht erschüttert. Er steht auf der selben Stufe wie der sterbende Vogel und streckt seinen leicht gebogenen Zeigefinger nach ihm aus. (Auf der Heimreise in einer Raststätte: Unser Baby steht leicht schwankend vor einem Drehständer mit Karabinern in durchsichtigen Plastikverpackungen und zieht langsam einen roten, danach einen blauen vom Haken. Eine Variante des Miniaturweltgedankens. Eine Umkehrung. Der Blick und Griff des Babys in die große Welt, die Welt der Karabiner in Raststätten, der Welt der Übertreibung.)

Sitting like this in an ample, far-stretched garden, at eye level with the landscape of Burgundy, with the mild, saturated green of the hills, beneath the pale blue vault of the sky, the arena of the birds’ ceaseless singing, transparent sound in the transparent, freshly washed air (it rained during the night, but already this morning wind and sun have dried the meadows): this is how we feel ourselves to be in our element. Children like to be outdoors, in a landscape where all limits are lost in the unreachable horizon. Outside: lying on the ground a lot, climbing, crawling, rolling, and then running off, leaving the comfortable gray blanket behind, coming back, leaving, coming back. Outside: pulling out and tearing blades of grass, no human being, no baby could live long enough to pull out and diminish each blade of grass on this meadow. Grass grows too fast for us humans, hence probably its patience and painlessness. And decapitating daisies, that is something one learns early without having to be taught. Tiny fried eggs, perfectly circular, taking their time to wither and shrink, as if they had not yet noticed what was done to them. Yolk-yellow and pure white, torn off or not, the little heads remain appetizing to look at, whether living or dead (but plants never die: the lean Clematis in the flower bed by the tiled wall of the western annex of our house, surrounded by a small wicker fence, knows what we are talking about. The flower itself is withering away – we’re in the middle of May, after all – but its fence has suddenly developed a strong shoot that is now clearly pointing East at an obtuse angle and has unfolded its first green leaves.) The baby, completely unlike us, knows neither fear nor awe of nature. He does not think about it. It’s all due to relative size; everything is due to relative size. Outdoors, dimensions shift, everything seems bigger and then that impression disappears as if bigness itself were sucking it in and everything becomes small. Distance is great and wide, and yet it fits into one or two hands, is palpably close, within reach. A miniature world, that is the true world (the world of sounds is different: the squeaking of the garden gate in its hinges, what an unfathomably timeless sound, which knows only two or three pitches and whose intervals are never predictable. Always when one expects to hear another squeak, the gate remains silent. Only to surprise the ear all over again. Wondrous relationship to the yellow-bellied toads, whose hollow, round call begins to sound out at the start of dusk, baffling one’s ears’ anticipation exactly like the squeaking of the garden gate. Neither by day nor by night is there any rhythm or beat or calculable pattern for life to follow: of this the toad and the garden gate assure us in unison). A miniature world, made to order for insects that fly close to the ground above us or through us, like minuscule thoughts, too small for us to grasp (our baby points at the pretty firebugs that have gathered on the cracked stone frame of the flower bed, climbing over each other, sometimes tumbling to the ground, no big comedown for a firebug. He points at them with a slightly curved index finger, a close pointing near the edge of touch, looks up at us with a questioning look, but we have no other answer to this ocular answer than to look back at him, nodding). A miniature world: Romanesque sculpture had a good grasp of this. In the Musée Rolin in Autun one can see Master Gislebertus’s Eve. She is much more beautiful, more delicate, and at the same time much bigger than we had thought. Stretched out, the figure would almost have the proportions of a petite woman. So she is three quarter size, the diminutive of tenderness. (That is what it says in Helmut Domke’s book about Burgundy, published in 1963, an immemoriably long time ago, written in the style of enthusiastic connoisseurship, which perhaps is inherently prone to make miniatures out of things, because it brings them as close to the eye as the child does when it lies on its belly peering through the grass, where it can see every individual leaf of grass, which is impossible for the view from above, which only sees meadow). The diminishment of the world gives birth to tenderness! Hence the tenderness we feel for our baby (and all the other babies), an insight that shoots through our mind without provoking the slightest resistance, nor could we bring ourselves voluntarily to object to this day’s insight, just the right size to prevent us from getting too cocky. (Not to show consideration and respect for the art of diminishment – what barbarism. Committed by the philistines of the French Revolution, who tore down the former lintel over the Northern portal of the Cathedral of Autun without compunction. This is something the younger ones like to do: tear down the old without credit or respect – a thought accompanied by a side glance at our son, wondering how much revolution may be lurking inside him.) And all day long the cuckoo calls, a sort of bassist in the birds’ orchestra, not the most sophisticated voice, but he toots along with the others, so that one is happy to forget his contribution until at some point one is reminded of it when the other voices fall silent. We can gaze into and over the hedgerow at the bottom end of the garden plot, an overwhelmingly beautiful network of beech and lilac and little roses, stinging nettles and mauve blooming vines, a little ivy that has sneaked in, and high elegant grasses. That is where the birds live, in comfortable little caves that protect and hide them, and from where they can look out at the hill on the other side of the incline, at a house with a newly shingled roof, a bagger, a truck, and a cement mixer in front of the scaffolded barn gate, but no workers. As if this sweet little arrangement were waiting for a child’s hand to reach down from the sky and play construction site. Miniature effect: a setting on our camera, a special effect that turns a selected detail into a model train world, with exaggerated colors that blur into haziness toward the edges. But our own miniature effect, our view and its own diminutive of tenderness, seems stronger to us, because it is unplanned and uncalculated. In Autun, in the early morning of our visit, directly in front of the Cathedral, we found a parking spot on the small walled-in square, with plenty of room for opening the doors right and left, thanks to the plane trees planted at an awkward (or clever) distance from each other, too close for two cars side by side. An almost surreally small parking area (for maybe thirty cars) in the great automobile world, which makes us believe that one could occasionally slip unnoticed from the big world into the small world, where everything unfolds and fits together as it did in the miniature worlds of childhood. But on the steps of the Cathedral’s main flight of stairs we find a pigeon that fell from its nest, with just a remnant of life still stirring, making its little head twitch toward the front. Why this life, still downy and barely begun, should already be ending, is mysterious, and deep inside us there is a shock and a tremor, there where we cannot control anything, there in a place we normally do not feel, where none of the means at our disposal (no feeling, no understanding, no logic, nor even our heart) can reach. Only our one-and-a-half-year-old son is not shaken. He stands on the same step as the dying bird and stretches his slightly bent index finger toward it. (On the trip home at a service station: our baby stands slightly swaying in front of a revolving stand with karabiner clips in transparent plastic wrappers and slowly pulls a red one and then a blue one of the hook. A variant of the miniature world idea. An inversion. The baby’s view of and grasping reach into the big world, the world of karabiners in service stations, the world of exaggeration.)

Das zweite Jahr – 10

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Du hast einen Sohn! Das kann nicht ohne Folgen bleiben. Du als Vater, Mann hast ein Kind, einen Sohn, einen kleinen Mann auf dem Weg zum größeren, eines Tages großen Mann. Dass wir beide Männer sind, ist unfragwürdig. Zu offensichtlich ist es, es bedarf keines Nachdenkens, die Evidenz unseres Mannseins (wenn der Sohn mit dem Rücken am Knie des Vaters lehnt, sanft schaukelnd: eine fast lässige Haltung) ist tatsächlich eine Art Licht, das unmöglich schwinden, gar verschwinden könnte. Wenig zeigt sich mit dieser Sicherheit, wenig so ungetrübt von Ressentiments und Zweifeln: einmal empfunden wird zum immer empfunden und immer empfinden. Kontinuität eines schwankungslosen, innigen Gefühls: wir beide sind Männer. Aus dieser Übereinstimmung lässt sich ein Glück gewinnen, das nur auf den ersten Blick verblüfft. Dann aber offenbart sich die Teilhabe an einem Prinzip, dem Männlichen, das wie eine Verheißung klingt: werde tätig aus ihm heraus und gestalte es! Aus deiner prinzipiellen Klarheit fließt Tatendrang, denn jedes Prinzip möchte handeln und sich zur Anwendung bringen! Wende dich also an, Babymann! Dazu muss das Prinzip erst einmal bekannt mit sich werden. Diese Bekanntschaft kann ihre Grundlage nur auf der Gemeinsamkeit zwischen Vater und Sohn bilden. Fließt es, darf es fließen, ungehemmt vom Vater zum Sohn und darf der Rückfluss vom Sohn zum Vater ebenso hemmungslos sein, dann mündet das Prinzip ins Ideal. (Das ist Schwärmerei, natürlich. Dagegen will die enge Stirn der Gegenwart augenblicklich sprechen. Dies soll also unsere erste männliche Tat sein, der Schwärmerei das Wort zu geben und wenn nötig, freizukämpfen. Das Leben ist eine glückliche Veranstaltung, oder besser, es hat das Zeug zu allem Glück. Und das Tätigsein des Anfangs ist die Zuwendung des Vaters zum Sohn. Die Zuwendung des Sohns zum Vater ist die natürliche, die der Vater durch seine eigene Zuwendung so sein lässt. Noch einmal: das Leben ist ein Glücksfall. Und ein besonderer Glücksfall ist es, Vater zu sein, jetzt Vater eines Sohnes. Auch das ist ein Prinzip, das vom Vater auf den Sohn übergehen und vom Sohn in den Vater fließen kann: Die Betrachtung des Lebens nicht von der Problemwarte aus, stattdessen jedes Mal wieder aufs Neue in der Schwärmerei zu verbleiben – die ruhig und still sein kann -, eine Art gemeinsamer Versenkung, die sich greifen, aber nicht angreifen lässt. Und das: nicht ich werde es der Welt zeigen, wir werden es ihr zeigen. Männerschwärmerei!) Du hast einen Sohn! Das kann nicht ohne Folgen bleiben! Natürlich meldet sich irgendwann Sigmund Freud zu Wort (vor Moses noch, vor dem Gottvater selbst). Freud spricht als Sohn und Vater, mehr möglicherweise als ein Sohn, der sich an die Stelle des Vaters gerückt hat. Ödipus ist seit Freud allgegenwärtig, manchmal laut, meist leise (Freud: ein wahrhaft großer Schriftsteller. So kann ich ihn am besten sehen: als schreibenden Mann. Der mit Lust und Stil Unverwechselbares zu Papier bringt. Der seinem Eigensinn vertraut, seine Beschränktheit aber nie abstreitet. Der in kosmische Zusammenhänge eindringt, aber dabei mit den Füßen auf dem Boden bleibt, auf Mutter Erde. Unbeirrbar wie ein Religionsstifter ist er, und bis heute löst sein Denken Rivalität und Widerständigkeit aus, die kaum je einem Mann mit dieser Gewalt entgegengeschlagen sind. Jeder hat eine Meinung zu Freud. Wie viele haben ihn gelesen, wie viele haben über ihn und über ihn hinweg gelesen? Im Gespräch mit anderen springt reflexartig Skepsis hervor, ein grundsätzlicher Zweifel, Misstrauen und Kopfschütteln zeigen sich. Die Äußerungen über Freud sind oft abfällig und hochmütig. Manch einer hat ihn durchschaut und überwunden. Nicht selten begegnet man einer Furcht, die dazu anregt, schnell das Thema zu wechseln. Freud scheint irgendwie gefährlich zu sein, man könnte betroffen sein, wo man doch schon genug mit der Selbstbestimmung des eigenen Ich zu tun hat. Aber er ist doch nur ein Schriftsteller! Ein Mann, der schreibt, unter anderem über Väter und Söhne. So kann ich ihn am besten sehen: der über Männer schreibende Mann. Einer, der schreibt, lebt die Fiktion. Die Fiktion ist groß und großartig, wenn der, der sie in die Welt bringt, ein großer Schriftsteller ist. Freud ist groß, hinreißend, spannend, fordernd, ein bisschen unheimlich. Er berührt Verstand und Herz gleichermaßen wie Shakespeare und Goethe. Freud ist ein schreibender Vater, dessen Geschichten berühren wie die Märchen der Kindheit. Das große, schöne Märchen von Vater und Sohn, das ist Freuds Märchen mit Fortsetzung. Es zieht sich durch viele Texte hin und hindurch, wandelt sich, dehnt sich aus über die Jahrhunderte, schrumpft und wird klein im Augenblick, da es gehört wird. Hier im Zimmer erzählt es sich, dieses Märchen. Im Gespräch mit anderen gibt es ebenso Bewunderung und Respekt, fast Ehrfurcht. Der gute Vater, der nur vom Leben erzählt und nie aufhört vom Leben zu erzählen, der vom Vorbild spricht, selbst aber ein viel zu guter, bewanderter Erzähler ist, als dass er selbst Vorbild sein könnte. Seine Fiktion ist vielleicht Sprengmeisterei, seine Geschichten flüssiger Sprengstoff, erst bitter, dann süß, der eigene Gedanken und Gefühle in seinen Zuhörern hervorsprengt, weil er in die feinsten Ritzen sickert, ins Unterirdische wie ins Unirdische.) Freud also: es, er kann jeden treffen. Könnte es nicht sein, dass Freud recht hat? Was bedeutet das für mich, den Vater? Am besten wird sein, ich stelle ein Stück Freud gleichsam neben meinen Sohn (der sich – so fühlt sich sein Biss in meinen Daumen an – gerade in der oral-kannibalistischen Phase befindet. Ich muss ihn ein wenig bremsen in seinem Verschlingungsbegehren meiner väterlichen Person gegenüber, da seine kleinen, ja fast immer noch neuen Schneidezähne tatsächlich von einer Schärfe sind, die deutlich schmerzhaft ist. Du könntest dich doch auch anders mit mir identifizieren, versuche ich ihn abzulenken, was aber nur kurz hilft, vielleicht auch deshalb, weil mir selbst nicht klar ist, wie anders er sich mit mir identifizieren könnte. Zudem ist mein Wunsch, nicht gebissen zu werden, ein halbherzig geäußerter, denn sein Biss fühlt sich faszinierend angenehm an. Und dazu diese kleine Fantasie: wie wäre es, wenn mein Sohn mich ganz und gar verschlingen würde? Wo würde ich landen?). Freud also: Der vereinfachte Fall gestaltet sich für das männliche Kind in folgender Weise: Ganz frühzeitig entwickelt es für die Mutter eine Objektbesetzung, die von der Mutterbrust ihren Ausgang nimmt und das vorbildliche Beispiel einer Objektwahl nach dem Anlehnungstypus zeigt; des Vaters bemächtigt sich der Knabe durch Identifizierung. Die beiden Beziehungen gehen eine Weile nebeneinander her, bis durch die Verstärkung der sexuellen Wünsche nach der Mutter und die Wahrnehmung, daß der Vater diesen Wünschen ein Hindernis ist, der Ödipuskomplex entsteht. Die Vateridentifizierung nimmt nun eine feindselige Tönung an, sie wendet sich zum Wunsch, den Vater zu beseitigen, um ihn bei der Mutter zu ersetzen. Von da an ist das Verhältnis zum Vater ambivalent; es scheint, als ob die in der Identifizierung von Anfang an enthaltene Ambivalenz manifest geworden wäre. Die ambivalente Einstel­lung zum Vater und die nur zärtliche Objektstrebung nach der Mutter beschreiben für den Knaben den Inhalt des einfachen, positiven Ödipus­komplexes. Ich also: Sehe meinen Sohn an, spüre die Wärme von seinem Kopf her aufsteigen, eine duftende Wärme, immer noch Babywärme – und suche im sichtbaren Kind das unsichtbare Begehren. Ich finde Einvernehmen mit meinem Sohn, das aber mit einer deutlichen Warnung versehen ist: wir werden darin nicht zu weit gehen. In der äußeren Welt. In der inneren Welt füllen wir es ganz und gar aus: wir beiden Boten des Männlichen. Der Wunsch, mich beseitigen zu wollen, ist offensichtlich, aber ebenso schnell verflogen, wie er aufgetaucht ist. Manchmal werde ich zur Seite geschoben, rüde verlassen, wenn du, die Mutter, dich näherst, aber nicht immer. Es persönlich zu nehmen, würde den Ödipusgedanken verstärken, es nicht persönlich zu nehmen, ihn gewissermaßen gläsern machen, luftig, substanzlos, doch ohne ihn gänzlich aufzulösen. Den Wunsch den anderen zu beseitigen, teilen wir übrigens miteinander, wie ein krasser Scherz kommt er uns dann vor, den wir ab und zu reißen, der ein merkwürdiges Einvernehmen schafft, so merkwürdig wie Babyhumor sich eben manchmal zeigt. Dramatik im Ödipalen aber wird sich zwischen uns nicht einstellen, nicht etwa, weil der Ödipuskomplex falsch wäre, sondern weil Freud das elterliche Leben in Umständen betrachtet hat, die ihn etwas haben übersehen lassen, haben übersehen lassen müssen. Die Ausprägung des Ödipuskomplexes kann nicht unabhängig betrachtet werden von der väterlichen Anwesenheit und Nähe. (Ja, wir spekulieren gerade, womöglich wird uns die Zukunft widerlegen. Neben der Schwärmerei ist die Spekulation aber nun mal eine Leidenschaft von uns.) Es ist ein großer Unterschied, ob der Vater von Beginn an vorhanden ist, in wenn nicht gleicher Nähe, so doch ähnlich großer wie die Mutter, oder ob er nicht vorhanden ist, ein Vater, dessen zeitliche Anwesenheitsschwankungen dem Baby nicht verborgen bleiben können. Wie das Baby noch mehr seine Abwesenheit spürt. Nur wer da ist, ist da. Die weibliche, nährende Brust noch mächtiger zu machen, als sie es von Natur aus schon ist, ist eine sonderbare Entschuldigung für die Väterferne. Wir glauben, die Nähe des Vaters von Beginn an wird den Ödipuskomplex verwandeln, sie wird ihm den tragischen und dramatischen Boden entziehen, der durch die väterliche Diskontinuität ins Unsichere umgepflügt wird. Nur wer da ist, wird akzeptiert und nicht als Störer, Eindringling, Feind betrachtet. Da sein heißt: nur da sein und tun, was nötig ist. Die väterlichen Möglichkeiten sind groß, der Mann verändert sich, sehr langsam, aber wir beide arbeiten hart und weich daran. Wir beißen uns gegenseitig in die Finger (nein, ich weniger, einmal ist es mir versehentlich geschehen, der Schmerzensschrei des Sohnes war groß. Unsere äußeren Kräfte sind zu unterschiedlich. Ganz anders unsere inneren. Wir knabbern an den gleichen Komplexen mit gleicher Kraft). Ist der Vater da, kann der Sohn solange er will, an dessen Bein lehnen, ein Arm über sein Knie gelegt, als würde er in einem Cabrio sitzen. Die Zeit, die die beiden miteinander verbringen, die wichtige Anfangszeit, die wichtigste Zeit, entschärft diesen gewaltigen Komplex. Ödipus kann seinem Vater in die Augen sehen, ihn lächelnd erkennen und zum Teufel wünschen. Der Vater wird seinem Ödipus in die Augen sehen, ihn lächelnd erkennen und gewähren lassen. Dann werden sie sich auf eine Bank setzen mit Blick in die untergehende (oder die aufgehende) Sonne und über Freud reden. Der Vater wird alt sein und die Hand aufs Knie seines Sohnes legen. Die schrecklichen alten Zeiten sind vorbei.

You have a son! You have a son! This cannot fail to have consequences. You as a father, a man, have a child, a son, a little man on the way to becoming a big man one day. That we are both men is unquestionable. It’s all too obvious, requires no reflection, this evidence of our manhood (when the son leans his back against his father’s knee, gently swaying: an almost nonchalant position) is actually a kind of light that cannot possibly fade, let alone vanish. There are few things that show themselves with such self-evidence, few that are so unclouded by resentment and doubt: once felt, it becomes what was and is always felt. Continuity of a deep and unvarying feeling: we are both men. This concordance entails a good fortune, which is baffling only at first glance. But then something is revealed, one’s portion in, and partaking of, a principle, the masculine principle, which sounds like a prophesy: Go forth and act from this principle and thereby give it shape! From the clarity you possess by virtue of this principle, there flows a zest for action, for every principle wants to act and make itself useful! Make use of yourself, then, baby man! In order for this to happen, the principle must first become acquainted with itself. This acquaintance can only find its foundation in the commonality of father and son. If there is a flow, if the current from father to son is allowed to flow without hindrance, and if the reciprocal current from son to father is permitted to flow at liberty as well, then the principle flows directly into the ideal. (This is a rhapsody, of course. The narrow mind of the our present day immediately objects to such enthusiasm. So let this be our first manly deed, to declare the rights of enthusiasm and, if necessary, free it from restraint by those who deny it the right of speech. Life is a happy performance, or rather, it has the wherewithal for every kind of happiness. And the activity of the beginning is the father’s attention to the son. The son’s attention to the father is natural attention, which the father allows to be as it is by the act of his own attention. Once again: life is a fortunate accident. And it is an especially fortunate chance to be a father, now the father of a son. That too is a principle, which can be transmitted from the father to the son and flow from the son to the father: to contemplate life, not from the position of a problematic, but instead to remain, each time all over again, in the view of enthusiasm – which can be calm and still –, a kind of absorption in joint contemplation that is palpable but unassailable. And this: It is not I who will show it to the world, but we who will show it together – rhapsodically, we men!) You have a son! This cannot fail to have consequences! Of course sooner or later Sigmund Freud will have something to say about this (before Moses, before God the Father Himself). Freud speaks as son and father, possibly more as a son who has taken the place of the father. Ever since Freud, Oedipus is omnipresent, sometimes loudly, sometimes quietly (Freud: a truly great writer. This is how I see him most clearly: as a writing man. Who with joy and with style brings unique, unmistakable thoughts to the page. Who trusts his own wayward, stubborn mind, yet never denies his limitations. Who delves into cosmic interconnectios, yet always keeps his feet on the ground, on Mother Earth. Unwavering as any founder of a religion, and unto this day his thought provokes rivalry and opposition of a virulence that has hardly ever been launched at any man’s reputation. Everyone has an opinion about Freud. How many have read him, how many have read about him or read him in such a way as to sidestep him altogether? In conversation with others, a reflexive skepticism springs up, fundamental doubt and mistrust arises, there is much shaking of heads. Comments on Freud are often dismissive and haughty. The numbers of people who have seen through and gone beyond him appear to be many. Quite often one encounters a fear that seems to recommend a change of subject. Freud appears to be dangerous somehow, one could be implicated, when it’s already hard enough to arrive at a modicum of self-determination. But he is just a writer! A man who writes, about fathers and sons among other subjects. That is how I see him most clearly: the man who writes about men. A person who writes is living a fiction. The fiction is great, even grand, when the one who brings it into the world is a great writer. Freud is great, enthralling, exciting, demanding, a little uncanny. He touches the mind and the heart to the same degree that Shakespeare and Goethe do. Freud is a writing father whose stories touch his readers like the fairytales of our childhood. The great and beautiful fairytale of the father and the son, that is Freud’s fairytale, with instalments. It runs through many texts, transforms itself, expands through the centuries, shrinks and becomes small at the moment when it is heard. Here in this room it is telling itself, this fairytale. In conversation with others there is also admiration and respect, almost awe. The good father, who only tells stories about life and never ceases to tell stories about life, who speaks of the role model, but who is much too good and skilled a storyteller to be that role model himself. Perhaps his fiction is a form of demolition work, his stories are a kind of liquid dynamite, fist bitter, then sweet, that blasts into light from the depths of his listeners’ minds their own thoughts and feelings, because it trickles into the finest crevices, the subterranean ones and the unearthly ones as well.) Freud, then: it, he, can strike anyone. Is it not possible that Freud is right? What does this mean for me, the father? It will be best if I put a piece of Freud next to my son (who – as his bite on my thumb suggests – is presently at the oral-cannibalistic stage. I need to put brakes on his wish to devour this fatherly personage that I am, as his small, still almost new incisors are of a sharpness that is noticeably painful. You could identify with me in a different way, I try to distract him, but this only helps briefly, perhaps in part because it is not clear to me either how else he might identify with me. Furthermore, my wish not to be bitten is only halfheartedly expressed, for his bite feels fascinatingly pleasant. And then, in addition, there is this little fantasy: What if my son were to devour me completely? Where would I end up?). Freud, then: In its simplified form the case of a male child may be described as follows. At a very early age the boy develops an object-cathexis for his mother, which originally related to the mother’s breast and is the prototype of an object-choice on the anaclitic model; the boy deals with his father by identifying with him. For a time these two relationships proceed side by side, until the boys wishes in regard to his mother become more intense and his father is perceived as an obstacle to them; from this the Oedipus complex originates. His identification with his father then takes on a hostile coloring and changes into a wish to get rid of his father in order to take his place with his mother. Henceforward his relation to his father is ambivalent; it seems as if the ambivalence inherent in the identification from the beginning had become manifest. An ambivalent attitude to his father and an object-relation of a solely affectionate kind to his mother make up the content of the simple Oedipus complex in a boy. I, then: I look at my son, feel the warmth rising from his head, a fragrant warmth, still baby warmth – and seek in the visible child the invisible desire. I find agreement with my son, but this agreement is furnished with a clear warning: we will not go too far with this. In the outer world. In the inner world we fill it out completely: we two messengers of manhood. The desire to get rid me is obvious, but it vanishes as quickly as it arises. Sometimes I am pushed aside, rudely abandoned, when you, his mother, approach, but not always. To take it personally would strengthen the Oedipus Complex; not to take it personally would render it glassy, as it were, or airy, insubstantial, but without dissolving it entirely. The wish to get rid of the other is something we share, incidentally; when it shows up it seems like a rather crass joke we play once in a while, and it produces an odd mutual understanding, odd in the way baby humor can be odd at times. However, dramatic Oedipal developments will not take place between us, and this is not because the Oedipus Complex is wrong, but because Freud observed parental life under circumstances that must have led him to overlook something. The manifestations of the Oedipus Complex cannot be observed independently of the father’s presence or proximity. (Indeed, we are speculating now, conceivably the future will refute us. After all, along with idealistic enthusiasm, speculation is one of our passions.) It makes a great difference whether the father is present from the beginning, in a proximity that is comparable if not equal to that of the mother, or whether he is not there, a father whose presence is subject to temporal variations which the baby cannot fail to register. And of course the baby will feel his absence even more. Only someone who is there is there. Making the female, nourishing breast more powerful than nature has already made it is a strange excuse for paternal distance. We believe that the father’s nearness from the beginning will transform the Oedipus Complex, will deprive it of its tragic and dramatic soil, that fertile ground of uncertainty, continually ploughed by the discontinuity of the father principle. Only someone who is there is accepted and not regarded as a disturber, an intruder, an enemy. To be there means: only to be there and to do what is needed. The paternal possibilities are great, the male is changing, very slowly, but we are both working at it in ways that are hard and soft. We bite each other’s finger (no, I less so, it happened once accidentally, my son’s scream of pain was great. Our comparative outer strength is too different. It is quite different with our inner strengths. We are gnawing with equal strength on the same complexes). If the father is there, the son can lean on his leg for as long as he wants, one arm laid over his knee, as if sitting in a cabriolet. The time the two of them spend together, the important time of the beginning, the most important time, defuses this powerful complex. Oedipus can look his father in the eye, recognize him, smiling, and wish he would go to hell. The father will look his Oedipus in the eye, recognize him, smiling, and allow him a free hand. Then they will sit down on a bench to gaze at the setting (or rising) sun and talk about Freud. The father will be old and will place a hand on his son’s knee. The terrible old days are over.

 

 

 

 

 

 

Das zweite Jahr

9

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Einer der großen Meister, der größte vielleicht, ein wahrer Meister in jedem Fall (und nicht so ein kleiner betrügerischer Meister wie unser Baby, der gerade dabei ist, seiner eigenen Meisterschaft zu entwachsen oder aus der Einfachheit seiner anfänglichen Existenz hinüberzutreten ins komplexe Dasein aus Vorlieben und Abneigungen, das wir schon seit sovielen Jahren unsere Heimat nennen), dieser Meister also (aber das ist ungerecht unserem Baby gegenüber, denn ihm ist doch jede Form des Betrugs fremd, und wenn wir glauben, es täuscht uns, dann geht es dabei weniger um ein Kommunikationsproblem als um unsere großen Schwierigkeiten, das Wahre zu erkennen, ja, dabei fehlt es uns ebenso am Willen wie an der Fähigkeit, unseren Mund an die Wand zu hängen, wir können das ruhig gestehen, außer unserem Baby kann uns ja niemand hören), Meister Dogen also (der unserem Baby nur sehr entfernt ähnlich sieht, doch ein bißchen: die vollen Lippen, die alle möglichen Frauen in Kusslaune versetzen und das wenige, dünne Haupthaar, das die Schönheit des Schädels zur Geltung bringt und die Augen, die Augen, die sich nicht so leicht vom einmal Erfassten ablenken lassen, mondtreue Augen), dieser große Meister, der kein Thema nicht sein Thema werden lässt, sich also  auch der Familie zuwendet (Familie!: kein erschütterndes, aber ein erschüttertes Wort. Ein Beben ist durch dieses Wort gerollt, nicht einmal, nicht zweimal, hunderte Male, besonders in jüngerer Zeit, und mancher unterirdische Hohlraum, der plötzlich sichtbar wurde und schon drohte, das ganze Gebilde zum Einsturz zu bringen, schien berechtigte Gründe zu liefern, die Familie in ein schlechtes Licht zu rücken. Nun aber zeigte und zeigt die Familie ihre Stärke, zeigt sich getragen von einer besonderen Kraft, gleichsam immun gegen Hohlräume oder vielmehr gestärkt durch die Entdeckung eigener Tiefe und Hintergründigkeit, dass man aus dem Staunen nicht wieder herausfindet. So geht es uns: wir staunen über die Energie, die der Familiengeist aus sich herausfördert mit nicht absehbarem Ende, wundersames Sprudeln!), Meister Dogen, was spricht er von der Familie? (Meister Dogen: schon mit zwölf Jahren ist er in ein Kloster eingetreten, ein Kind, das Mönch wird, regt unsere Spekulation an. Müsste nicht eigentlich jedes Kloster nicht nur von einem Kind, vielmehr von einem Baby geführt werden? Kann uns nicht ein Zwölfjähriger und erst ein Baby viel besser belehren, als ein Erwachsener es je könnte? Steht nicht das Kind, das Baby an der Spitze der Familie, läuft es – selbst, wenn es noch nicht laufen kann – gewissermaßen vorneweg, dorthin, wo wir alle hin wollen, müssen, sollen?) Meister Dogen (wir wollen uns erinnern, wer Meister Dogen war, ist. Ein Mann des Zazen, der Mann des Zazen, ein Ursprungsmann, dessen Erläuterungen des Dharma, der juwelischen buddhistischen Lehre, höchst komplex und schillernd sind, niemals ins Leere laufen und dessen Worte sich gleichsam in unseren Körper versenken, in dem Sinne, wie wir die Laute unseres Babys nicht bloß hören, sondern spüren, wie sie in uns schwingen und Schwung in uns bringen). Meister Dogen über Buddhas Lehre, den achtfachen edlen Pfad, Nummer vier, rechtes Handeln (um Eines klar zu stellen: wir befinden uns alle auf einem Weg, dem Weg, egal, ob wir von uns glauben, die radikalsten Atheisten zu sein oder die fanatischten Gotteskrieger, ob wir gewissenhafte Wissenschaftler sind oder lustvolle Schwätzer, skeptische Künstler oder gierige Finanzjongleure, ob unglückliche Mörder oder glückliche Stars, Tierpfleger, Marathonläufer – wir alle sind auf dem Weg, wir alle hören Meister Dogen, auch, wenn wir etwas ganz Anderes hören und etwas ganz Anderes hören wollen. Natürlicherweise befinden wir uns auf dem Weg zur Wahrheit, ob wir dabei vor Anstrengung schwitzen, in Gold baden oder den Kopf gegen die Wand schlagen, wohin sonst sollten wir unterwegs sein? Es ist eine Frage herzlicher Logik, deren Existenz man abstreiten kann und nicht abstreiten kann. Wir bezweifeln das Tun, unser Tun, unser tägliches Tun. Wir bezweifeln die Tat nicht nur, wir glauben nicht an die Tat. An unsere Tat. (Wahrscheinlich gab es nie eine Zeit, in der das Handeln, das eigene Handeln so sehr in den Mittelpunkt des Lebens gerückt ist wie in unserer Gegenwart, die aus dem eigenen Tun einen Fetisch der Anbetung gemacht hat und weiterhin macht. Sehen wir dabei ruhig auf unser Baby, auf seinen herrlichen Aktionismus, seinem Puls, der in der ganzen Welt schlagen will.) So spricht Meister Dogen: „Rechtes Handeln“ als ein Glied des achtfachen Pfades ist, Haus und Familie zu verlassen, um die Wahrheit zu erlernen … Wollen wir zur Wahrheit kommen, sollen wir unsere Familie verlassen? Was?! Die Familie als ein Hindernis auf unserem Weg der Erkenntnis und Selbsterkenntnis betrachtet, verurteilt, verachtet? Meister Dogen schränkt ein: nur die, die Nachfolger im Rang eines Buddhas werden wollen, müssen fähig sein, ihre Familien zu verlassen. Und wir wollen doch keine Buddhas werden! Und wir wollen doch Buddhas werden!! Warum sonst folgen wir unserem kleinen Babybuddha (sandverklebter Nasenrotz hängt auf seiner Oberlippe, wir brauchen ein Tempo), warum sonst unsere tägliche Übung, wenn wir nichts damit erreichen wollten? Meister Dogen spricht uns Laien die Fähigkeit, die Wahrheit zu erforschen, ab, nur der, der seine Familie verlässt und Mönch wird oder Eremit, ihm allein soll vorbehalten und möglich sein, was doch nichts anderes ist als innerste, oberste Ziel eines jeden Menschen. Kein Wunder, dass die Wahrheit sich das irgendwann nicht mehr hat gefallen lassen und ihre familiäre Seite wenn auch noch nicht offenbart, so doch mehr und mehr offenlegt. (Da juckt uns eine Polemik, all die Kinder, oft noch Babys, fallen uns ein, die, in verschiedenen Einrichtungen früh verbracht, ja, von früh bis spät, weil die Eltern ihren Dienst an der Arbeit verrichten müssen und wollen – elterliches Verlassen der Familie, das eigenartig rührt und aufrührt, verkehrt herum angewandter Meister Dogen?) Stelle dir nur vor, sage ich zu dir, sagst du zu mir, du verlässt deine Familie. Stelle es dir vor, du gehts, von heute auf morgen, weil du dich auf die Suche machen willst nach etwas Größerem, etwas, das so groß ist, dass selbst deine kleine Familie bei der Suche danach nur stören würde. Wir stellen es uns vor, du stellst es dir vor, ich stelle es mir vor: wir verlassen die Familie, um die Wahrheit zu finden (oder das Glück, den Reichtum, den Erfolg – sind nicht alle drei ihre irdischen Stellvertreter?). Es fällt nicht leicht, einem großem Meister zu widersprechen, Meister Dogens gelehrter Reichtum ist so beeindruckend, dass uns unser Widerspruch wie Frevel erscheint, nicht, weil wir uns dadurch kleiner machen, als wir sind, nicht, weil wir uns dadurch größer machen, als wir sind, nein, weil wir dadurch ganz genau sind, wer wir sind. Also, ehrwürdiger Meister Dogen, wir glauben, wissen, denken, fühlen, dass sich uns die Wahrheit nur nähert und wir uns unsererseits der Wahrheit nur nähern, wenn wir nicht nur in der Familie bleiben, sondern tiefer und weiter in sie hineinwachsen, wir glauben, dass der wahre Mensch nur der Familienmensch sein kann (aber wir glauben nicht, müssen wir hinzufügen, dass der, der kein Familienmensch ist etwa der unwahre Mensch wäre), aus dem einfachen Grund, dass unser kleiner großer Meister, unser Baby nur in der Familie wirkt und wirken kann, dass er uns täglich zeigt, was du in der heiligen Zazenhalle mit vielleicht der gleichen Mühe zu üben lehrst, ja auch wir leben in einer Halle der Stille, auch wenn es sich oft anhört, als würden wir in einer Halle des Lärms leben. Rechtes Denken, sagst du, ist nichts anderes als ein verschlissenes Zazenkissen. Rechtes Denken, sagen wir, ist nichts anderes als ein zerschlissener Body (oder eine verschissene Windel). Übrigens ist die Familie nichts, das wir besitzen und umgekehrt sind wir auch nicht Besitz der Familie. Die Struktur, die sie unserem Leben gibt, kann sie ihm noch mit dem gleichen Atemzug wieder nehmen. Das Band, das uns verbindet, bindet uns nicht etwa, wie man glauben könnte, sondern seine Verbindung löst die Lebensknoten – ein bißchen paradox denken auch wir. Du merkst, wir geraten gerade in die reinste Familienschwärmerei, die wir leichtsinnig zu dir hin, über die achthundert Jahre, die uns trennen, hinüberschicken, weil es uns eine Freude ist, uns den alten Meistern zuzuwenden, wie es uns eine Freude ist, uns den jungen Meistern zuzuwenden: hörst du ihn rufen? Unser Baby ruft. Es ruft nach dir: Do-gen, Do-gen, Do-gen.

One of the great Masters, the greatest perhaps, a true Master in any case (and not a little fraud of a Master like our baby who is right now in the process of outgrowing his mastery or stepping out of the simplicity of his original being into that complex existence made of likes and dislikes which we have been calling home for so many years); this Master, then (but that is unfair to our baby, for he does not know any kind of deceit, and when we think he is misleading us, it’s usually not due to miscommunication so much as it is to our own great difficulties in recognizing what is true: this is something for which we lack the will and also the ability to hang our mouth on the wall, we might as well admit it, no one can hear us except for our baby); Master Dogen, then (who bears only a very remote resemblance to our baby, but still a resemblance: the full lips that put all sorts of women in a kissing mood, and the sparse hair on his head, which enhances the beauty of the skull, and the eyes, the eyes, which are not so easy to distract from whatever they may have settled on, moon-drawn eyes), this great master who permits no subject not to become his subject, and who consequently also gave thought to the family (family!: not a shocking word, but a shocked one, shaken. A rumbling quake has rolled through this word, not once, not twice, hundreds of times, especially in recent times, and many a subterranean hollow space that suddenly became visible and was already threatening to cause the whole edifice to collapse seemed to offer sound reasons for moving the family into an unfavorable light. But now the family showed and shows its vigor, shows itself to be sustained by a very special strength, immune, as it were, to hollow spaces, or rather, fortified by its own newly realized depth and subtleness, and this is so astonishing that one never ceases to be amazed. That is how it is with us: we are amazed by the energy that the family spirit manages to produce from itself, with no end in sight, this wondrous bubbling effervescence!); Master Dogen, what does he say about the family? (Master Dogen: he joined a monastery at the age of twelve; a child who becomes a monk – here is something to speculate about. Should not every monastery be led by a child, or rather by a baby? Can a twelve-year-old, and even more so a baby, not teach us much better than any adult possibly could? Is the child, the baby, not at the head of the family, is this infant not walking – even if it cannot walk yet – ahead, so to speak, going where we all want to, must, should go?) Master Dogen (let us remember who Master Dogen was, is. A man of Zazen, the man of Zazen, a man of origin, whose explanations of the Dharma, the jewel-like teaching of Buddhism, are highly complex and dazzling and never strike a dead note, whose words take root in our body, as it were, just as we not only hear our baby’s sounds but feel them vibrating within us and enlivening us). Master Dogen about Buddha’s teaching, the noble eightfold path, Number Four, right action (to clarify one thing: we are all on a path, the path, no matter whether we consider ourselves to be the most radical atheists or the most fanatical holy warriors, whether we are conscientious scientists or sensuous gasbags, skeptical artists or greedy finance jugglers, unhappy murderers or happy stars, animal caretakers, marathon runners – we are all on the path, we are all hearing Master Dogen, even when we are hearing and wanting to hear something quite different. Naturally we are on the path to truth, no matter if we are sweating from the exertion of being on our path, or if we are bathing in gold or knocking our head against the wall, where else would we be going? It is a matter of heartfelt logic, whose existence can be denied and not denied. We have doubts about action, our own action, our daily activities. We not only doubt action, we don’t believe in it. In our action. (Probably there has never been a time when action, one’s own action, has played such a central part in life as it does in our time, which has made and continues to make one’s own act a fetish-like object of blind adoration. Let us consider our baby, his glorious actionism, his pulse that wants to beat in the whole world.) Thus speaks Master Dogen: “RIght action” as part of the eightfold path means to leave home and family in order to learn the truth . . . Do we want to arrive at truth? Should we leave ur family? What?! The family regarded, judged, despised as an obstacle on the path of realization and self-realization? Master Dogen qualifies: only those who want to be followers of a Buddha’s rank must be capable of leaving their families. And we don’t want to become Buddhas! And yet we do want to become Buddhas!! Why else would we follow our little Babybuddha (a mix of snot and sand hanging off his upper lip, we need a tissue), why else our daily practice, if we don’t want to achieve anything with it? Master Dogen disputes the capacity of us lay people to study the Truth, only one who leaves his family and becomes a monk or a hermit, only such a person is granted the possibility of attaining what surely cannot be anything but the inmost and supreme goal of every human being. No wonder the Truth at some point took objection and is now, if not revealing its familial side, at least laying it open to view. (And here a tempting polemic occurs to us, we’re thinking of all those children, often still babies, who are taken to various institutions early in the day, indeed from the early to the late hours, because their parents have to and want to work – parents leaving the family, a strangely touching and upsetting thought, Master Dogen applied the wrong way around?) Just imagine, I say to you, you say to me, imagine leaving your family. Imagine leaving, from one day to the next, because you want to set out in search of something greater, something that is so great that even your little family would only get in the way of your search. We imagine it, you imagine it, I imagine it: we leave the family in order to find the Truth (or happiness, wealth, success – are not all three of them Truth’s representatives on earth?). It is not easy to contradict  a great Master, Master Dogen’s wealth of erudition is so impressive that our contradicting him seems like  sacrilege, not because the act makes us smaller than we are, not because it makes us bigger than we are, no, because, in doing so, we are precisely who we are. So, honorable Master Dogen, we believe, know, think, feel that Truth is only approaching us and that we for our part are only approaching Truth when we not only remain in the family but grow deeper and further into the family; we believe that the true human being can only be a family man or woman (but we do not believe, we must add, that one who is not a family man or woman is for that reason not the true human being), for the simple reason that our little great Master, our baby, is only active and can only be active within the family, that he shows us each day what you in the holy Zazen hall are trying to teach with a zeal that is no doubt equal to his; yes, we too live in a hall of silence, even though it often sounds as if we were living in a hall of noise. Right thought, you say, is nothing other than a frayed Zazen cushion. Right thought, we say, is nothing other than a frayed bodysuit (or a shit-covered diaper). By the way, the family is not something we own, and inversely, we are not in the family’s possession. The structure that the family gives to our life, it can also take way from us with the same breath. The ties that bind us are not ties of bondage, as one might think, but rather, these bonds loosen the knots of life – a bit paradoxical, in our view as well. You notice us going into raptures about the family and thoughtlessly sending them over to you, across the eight hundred years that separate us, because it is a joy for us to turn to the ancient Masters, just as it is a joy to turn to the young Masters: do you hear him calling? Our baby is calling. He’s calling you: Do-gen, Do-gen, Do-gen.