DAS ZWEITE JAHR – 28

28

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Am Ende ist alles Traum. Ansatzloser Traum. Dem Traum geht nichts vorher (der Traum, über den man spricht, der nach einem reichen Tag im Schlaf den Träumer überrascht, ist höchstens ein kleiner Traum dagegen), besonders nicht eine traumlose Zeit. Dieser Traum ist vollständig und ihn als Traum zu erkennen, ist keine Kunst, kein logisches Problem, aber auch keine einfache Sache. Anfangs ist das Baby da und wir wundern uns, obwohl wir sein neunmonatiges Reifen begleitet haben (du so, ich so, wir so), woher es kommt. Diese merkwürdige Verborgenheit (in deinem Bauch), die sichtbarste Verborgenheit, mit der wir bekannt sind, sie erhält sich weit über die Geburt hinaus, aber sie ist später, jetzt viel verborgener als sie es damals war. Unser Baby öffnet Türen, spricht eine Sprache und ist jede Stunde, jede Minute, jede Sekunde des Tages da. Von seiner Herkunft will es uns nach wie vor nichts berichten, aber es lässt uns nicht absichtlich im Dunkeln darüber. Es lässt uns unabsichtlich darüber im Dunkeln, was uns heute, da wir fast schon erfahrene Schüler unseres Babys sind, gehörig zu denken gibt. Denn natürlich könnten wir sagen, es kann gar nicht anders, als uns im Dunkeln über seine Herkunft zu lassen, fehlt ihm doch alles in dieser Hinsicht Erhellende: seine unvollständige Sprache (aber nein, sie ist nicht weniger vollständig als unsere), sein Mangel an Verstand (aber nein, sein Mangel ist nicht größer als unserer), seine Abhängigkeit von uns (aber nein, wir sind abhängig von ihm) – nein, wir wiederholen es uns am besten noch einmal: unser Baby lässt uns unabsichtlich im Dunkeln über seine Herkunft, das ist sein Mysterium, seine Rafinesse, sein Glück (es gibt uns nichts zu diskutieren, es gibt uns alles zu spekulieren). Die Unabsichtlichkeit unseres Babys schmiegt sich der Ansatzlosigkeit dieses endgültigen Traums an. Niemals ist es uns möglich zu sagen, wann alles begann, da nichts irgendwann begann (deswegen diese vielen Mythen des Anfangs nichts als Verzweiflung sein können; quälende Versuche, sich ins Rückwärtige zu versichern; das Elend der Religion). Die Geburt unseres Babys: nichts als nur ein Schritt der Entbergung (es gibt unendlich viele Schritte). Wir könnten auch sagen: wir glauben, wenn an etwas, dann an diesen ansatzlosen Traum. Also wollen wir nun absichtlich träumen, uns absichtlich träumen lassen, einen kleinen Traum, kehren noch einmal in unseren Urlaub zurück und beginnen mit dem Mann aus dem Senegal. Es ist wieder diese schöne Stadt, citta murata, citta murata, ruft unser Baby voller Begeisterung, als hätte es gerade eben das Sprechen gelernt. Citta murata ruft es bereits im Auto, während wir noch einen Parkplatz außerhalb der Mauern suchen. Da winkt uns ein schwarzer Mann mit weit ausladendem Schwung seines Arms, winkt uns in eine freie Parkbucht, die wir selbst längst entdeckt haben, eine von vielen freien Parkbuchten, denn wir sind früh dran heute. Der Mann trägt in der rechten Hand eine gut gefüllte Plastiktüte, die linke Hand hat er jetzt, da wir eingeparkt haben und ausgestiegen sind, in die Hosentasche gesteckt. Er bleibt auf dem Fußweg stehen und redet in unsere Richtung. Er lacht ein wenig verkrampft und schaukelt den Kopf dabei. Wir drücken unserem Baby eine Münze in die Hand, die er dem Mann geben soll. Aber es will nicht. Es deutet auf die Plastiktüte des Mannes, eine gelbe Tüte, deren Farbe und Schrift verblichen ist. Wir gehen hinüber zu dem Mann und fragen ihn, woher er kommt. Senegal, sagt er und nickt. Er lebt im Zeltlager in der Stadt mit dreihundert anderen Verdammten. Er sagt Verdammte in unserer Sprache und hebt die Schultern dabei. Wie heißen Sie, fragen wir und im gleichen Moment schämen wir uns für diese Frage. Der Mann schüttelt den Kopf. No name, sagt er, no name is a good name. Er blickt ein bißchen unfreundlich dabei, aber da ruft unser Baby: idrissa, idrissa, idrissa, idrissa. Kurz blitzt eine Wut in den Augen des Mannes auf und als er zwei Schritte auf unser Kind zugeht, denken wir schon, er würde ihm etwas antun, aber dann lacht er anerkennend und hebt unser Kind in die Luft, küsst es auf den Kopf und reicht es uns wie ein Geschenk, das er uns macht. Idrissa sagt er in der gleichen Betonung unseres Babys und dann sagen auch wir unsere Namen, nur den Namen unseres Babys sagen wir nicht. Der Mann überlegt, tritt von einem Fuß auf den anderen, aber er kommt nicht drauf. Dann sagt in unserer Sprache: ich werde eine Nacht darüber schlafen, nachdenken im Schlaf, wenn er mir nicht einfällt, werde ich … Er spricht nicht weiter und da auch wir nichts sagen, schweigen wir erst zusammen, dann beginnt er wieder Parkplätze den ankommenden Autos zuzuweisen. Wir geben ihm die Münze, die unser Baby immer noch in der Hand hält, und die sich heiß anfühlt. Er nimmt sie, bläst zur Abkühlung über sie hin,  und gibt uns, ohne uns anzusehen, seine Plastiktüte. Wir klappen den Buggy auf, hängen die Plastiktüte an den Griff und laufen in die citta murata. Später, als wir auf dem Linienschiff wieder zurück in unsere Unterkunft fahren, quer über den See, der sich im Abendlicht mit Gold überzogen hat, sehen wir uns die Plastiktüte näher an. Als Club of Rome, entziffern wir die Schrift auf der Tüte und tatsächlich befindet sich in ihr eine Mappe mit einigen Seiten, von denen wir manche lesen können, andere in einer unbekannten Sprache verfasst sind. Wir lesen: Alles Elend der Welt, die drohende Vernichtung unseres Planeten … Schuld ist die Überbevölkerung … Ich, Idrissa bin die Überbevölkerung … Kein Friede meiner Seele … Bald verlieren wir die Lust, weiterzulesen, wir wollen die Tüte über Bord werfen, schon ist sie in der Luft, aber erst jetzt bemerken wir, dass sie am Handgelenk unseres Babys hängt. Erschrocken springen wir auf, da fällt uns ein, dass wir unser Auto in der Stadt vergessen haben, dass wir gar nicht mit dem Schiff unterwegs waren und plötzlich verschwindet der Goldglanz des Sees und alles wird schwarz, nur unser fliegendes Baby leuchtet hell. Wir erwachen zu dritt. Das erste Mal zu dritt.

 

 

 

 

 

DAS ZWEITE JAHR – 27

27

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Dann verlassen wir den See und seine Betriebsamkeit, seine für unsere Fähigkeiten unendliche Tiefe und ebenso verlassen wir die ihn steil umgeben Berge, ihre Höhe, die uns viel vertrauter und verwandter und bewältigbarer ist (zweifellos: die Tiefe macht uns Schwierigkeiten, wir übersehen sie nicht, die Höhe ist uns ein Leichtes, auch wenn wir dabei schwitzen müssen, sie lässt sich nicht übersehen. Unserem Baby ist beides einerlei: die Tiefe quietscht es hinweg, wenn es schwimmflügelbewehrt die Oberfläche des Sees aufrührt; die Höhe verweigert es als unnütz. Bergauf läuft es ungern, hierbei kommt nur das von uns Getragenwerden in Betracht). Der für uns so selbstverständliche Unterschied zwischen Tiefe und Höhe, notwendig für jedes ästhetische oder moralische Urteil, das wir fällen, hat sich unserem Baby noch nicht offenbart (wenn er denn eine Offenbarung ist; vielleicht ist er eine negative Offenbarung, vielleicht geradewegs das Gegenteil einer Offenbarung). Liegt es an der Kleinheit unseres Babys? Es läuft zwar gerne, aber ein grundsätzliche Entscheidung den Kopf oben zu tragen, ist noch nicht gefallen: den halben Tag und länger, liegt und rollt und kugelt es sich über die Erde, die Welt; Kopf und Füße oft auf gleicher Höhe. Der Wunsch, sich aufzurichten, greift zwar deutlich nach ihm, aber es gibt noch ganz andere, gewissermaßen horizontalere Wünsche, die mindestens gleich stark die Hand nach ihm ausstrecken. Klein sein ist so gesehen ein großes Privileg, wer gleichermaßen mit Fuß und Kopf (und natürlich Bauch und Po) auf der Erde, der Welt zuhause ist, wird naturgemäß in seinem Urteilen sehr zurückhaltend sein. Das Privileg, klein zu sein, geht aber mit der Gefahr einher, übersehen zu werden. Auch deswegen müssen wir uns immer vergewissern, dass unser Baby noch da ist. Ist es noch da? fragen wir uns immer öfter oder, wo ist es? Wir blicken wenig nach unten (auch nicht sehr viel nach oben; unser alltäglicher Blickwinkel ist recht spitz, trichterartig, parallel zu Himmel und Erde, ein Zwischenreichblick, fest und ungeduldig, in erster Linie praktisch), erst unser Baby, unser Meister, hat uns im Nachuntenblicken geschult und ist immer noch dabei, uns darin zu schulen. Wo ist unser Baby, rufen wir, wir rufen seinen Namen und wundern uns jedesmal wieder, dass seine Antwort von soweit unten kommt, – wenn eine Antwort kommt und wir nicht längst unser Baby aus den Augen verloren haben, weil es weit unterhalb unseres Blicks ins Nebenzimmer gewandert ist oder hinüber zum Geländer am Seeufer, durch das es – ein falscher Schritt nur – sofort durchfallen würde und hinein in das dunkle Wasser jenseits und ganz gewiss hinaus aus unserem Blick, wollten wir ihn auch so tief nach unten senken, wie wir könnten. Vorbei! Diese Gefahr ist vorbei, denn wir sind die Berge hoch gefahren und wieder weiter nach Norden, wo plötzlich Ruhe einkehrt, die Menge der Menschen sich ausdünnt, wo es bald nur noch Einzelne gibt, Einzelne vor einem großartigen Panorama (es gibt sogar einen Raum, den wir bewohnen können, der sich das Panoramazimmer nennt) der gegenüberliegenden Berge, deren Gipfel und Täler sich in einer einzigen Linie verbinden, die unser gesamtes Blickfeld umspannt. Besonders gegen Abend wird diese Linie so deutlich, als wollte sie mit ihrem Zickzack, Hoch und Runter, Waagrecht und Senkrecht und den plötzlichen Ausschlägen nach oben und unten uns weniger etwas über unser Leben, unsere Lebenslinie verdeutlichen, als uns beruhigen: Ihr, sagt sie, könnt diese Linie nicht verstehen, aber seht her, ist sie nicht wunderschön!? So wird es Nacht. Und wieder gibt es, wie in allen Ferienwohnungen, Freundeswohnungen, Hotels, Pensionen, Fremdenzimmern etwas zu blättern (etwas, das daliegt, ein Zeug, das sich anbietet, manchmal völlig veraltet, dann wieder ganz neu, Übriggebliebenes, Ausgelesenes, Überflüssiges): In einem Artikel über das neue Buch des Schriftstellers Christian Kracht bezeichnet der Verfasser diesen Autor als das große, verrückte 49-jährige Kind. Einen erwachsenen Autor als Kind zu bezeichnen, ist merkwürdig (wie es überhaupt merkwürdig ist, Erwachsene als Kinder zu bezeichnen). Kind ist ein so weiter Begriff, der mindestens zwölf, dreizehn, vierzehn Jahre umfasst, aber das zweijährige Kind ist doch ein ganz anderes Kind als etwa das zehnjährige. So wird das Kindsein zu einer gewaltig aufgedampften Metapher für etwas ganz Besonderes, Seltenes. Das Kind besitzt Fähigkeiten und Eigenschaften (und damit auch der Autor, der ein Kind sein soll), denen der Verfasser höchste Bewunderung zu zollen scheint. Jetzt zu dieser vorgerückten Stunde (es ist unglaublich still auf dem Berg, es gibt nichts zu hören, selbst das eigene Blut rauscht leiser) glauben wir, dass der Verfasser des Artikels womöglich nicht nur das Kind, sondern vielmehr noch das Baby im Autor Christian Kracht entdeckt haben muss. Es wäre wohl diffamierend aufgenommen worden vom großen, verrückten 49-jährigem Baby zu schreiben, denn anders als dem Kind werden dem Baby selten besondere Fähigkeiten zugeschrieben, die etwas mit großer Kreativität und Fantasie zu tun haben. Aber da es unsinnig ist, einen Autor als Kind zu bezeichnen, es also auch unsinnig ist, das Kind in einem Schriftsteller zu bewundern, muss die Bewunderung ein anderes Objekt erfassen. Wir glauben es umso mehr, da das sonst so gottlose Feuilleton Christian Kracht wie kaum einen zweiten Autor (seit vielen Jahren) anbetet und da Anbetung nie nur mit dessen schriftstellerischen Fähigkeiten zu tun haben kann, weil Anbetung das Profane (und Schriftstellerei gehört ganz und gar dazu) immer überschreitet. So denken wir mitten in der Nacht, während unser Baby längst schläft, unser Baby, das nie auf die Idee verfallen würde ein Buch zu schreiben. Doch statt zu Bett zu gehen, schauen wir noch einen Film an (einen Liegengebliebenen, eine Uralten von 1955): Amici per la pelle (Freunde fürs Leben) von Franco Rossi. Dort begegnet uns auf einmal Christian Kracht, das Kind in der Figur des Diplomatensohnes Franco. Die Ähnlichkeit ist frappierend (vielleicht sind wir auch einfach nur müde und unser Unterscheidungsvermögen schläft schon fast; aber die Wesensähnlichkeit von Franco und Christian scheint uns unzweifelhaft): der erwachsene 49-jährige Autor und das Kind von 1955 sind in Körperhaltung und Sanftmut im Ausdruck des Gesichtes die Gleichen. Die Geschichte des Films ist die Geschichte einer Freundschaft zwischen zwei höchst unterschiedlichen Jungen. Der eine, Mario, kommt aus dem Volk, ist einfach, ungebildet, ein Flegel. Der andere ist schon als Kind ein kultivierter Mann. Und dieses kultivierte Kind schenkt dem Flegel ohne das geringste Ressentiment seine Freundschaft, lässt ihn teilhaben am fantasiereichen Reichtum seines Lebens. (Vielleicht sind wir schon vor dem Bildschirm in den Schlaf gesunken, in dem uns eine Frage, ein Vorwurf umkreiste: haben wir uns geirrt darin, was wir glaubten über den Feuilletonisten und den berühmten Schriftsteller herausgefunden zu haben? Ist uns die Grenze zwischen Baby und Kind verschwommen, eine Grenze, die es gibt, geben muss, die aber unbestimmbar bleiben will? Das Kind jedenfalls ist dem Baby näher als dem Erwachsenen, das ist ein offenes Geheimnis wie unser erlösender traumloser Schlaf.)

Then we leave the lake and its bustle, its infinite depth (infinite for our capacities), and leave as well the steep mountains surrounding it, their height, which is much more familiar to us and more manageable (no doubt about it: depth is hard for us, we can’t see to the end of it, while height is easy, even if it makes us sweat, and seeing the whole of it is not a problem, in fact it can’t be overlooked. To our baby, there is no difference between the two: Depth he disposes of with a squeal when, armed with inflated rubber wings, he churns up the surface of the lake, while height he rejects as a useless thing. He doesn’t like walking uphill, and won’t consider the challenge unless he is carried). The difference between depth and height, so obvious to us, so necessary for any esthetic or moral judgment, has not yet revealed itself to our baby (if indeed it is a revelation; perhaps it is a negative revelation, perhaps precisely the opposite of a revelation). Is this due to the baby’s smallness? He likes to walk, but a fundamental decision to bear his head higher than the rest of his body has not yet fallen: half the day or longer is spent lying and rolling around on the ground, on the earth, often with head and feet at the same level. The desire to raise himself up is visibly taking hold of him, but there are completely different desires of a more horizontal nature, so to speak, that stretch out their hands in his direction with at least equal energy. To be small, looked at this way, is a great privilege; someone whose head and feet are equally at home on the ground will naturally be very restrained in his judgments. But the privilege of being small entails the danger of being overlooked. That is one more reason why we must always assure ourselves that our baby is still there. Is he still there, we ask ourselves more and more often, or: Where is he? We rarely look downward (nor do we look upward much either; our everyday angle of vision is quite pointed, funnel-like, in parallel to the sky and the earth, the gaze of an intermediate realm, firm and impatient, and primarily practical), it is only our baby, our master, who has trained us to look downward, and he is still training us to do so. Where is our baby, we cry out, we call his name, and each time we are surprised that his answer comes from so far below – if indeed an answer comes and we haven’t long since lost sight of our baby because, beneath our gaze, he has wandered off to the next room or over to the railing by the shore of the lake, through which – by a single misstep – he would immediately fall into the dark water on the other side and definitely vanish from our sight, no matter how far we tried to see into the depths. Gone! This danger is gone, for we have driven up the mountains and onward to the north, where suddenly quiet returns, the throng of people thins out, until soon there are only single people, single figures silhouetted against a grand panorama (there is even a room we can stay in, called the panorama room) of mountains on the other side, whose peaks and valleys connect in a single line that encompasses our entire field of vision. Especially in the evening this line becomes as clear as if with its zigzagging ups and downs, its horizontals and verticals, and its abrupt upward and downward swings it intended not so much to impress upon us some understanding about our life, our lifeline, as to reassure us: You, it says, cannot understand this line, but look, isn’t it beautiful!? And so night comes. And again, as in all the holiday flats, friends’ homes, hotels, guesthouses, guest rooms, there is something to leaf around in (something that lies there, that offers itself, sometimes rather outdated, then again quite new, left over, finished, superfluous): In an article about the new book by the writer Christian Kracht the reviewer calls this author a big, crazy 49-year-old child. To call an adult author a child is strange (as it is altogether strange to call adults children). The word “child” is an ample concept comprising at least twelve, thirteen, fourteen years, but the two-year-old child is surely a very different child than a ten-year-old. Thus “being a child” becomes a hugely blown-up metaphor for something very special. Rare. The child possesses capacities and qualities (and hence also the author who is supposed to be a child) which the reviewer seems to hold in the highest regard. Now at this advanced hour (it is incredibly quiet on the mountain, there is not a sound to be heard, even one’s own blood hums more quietly) we believe that the man who wrote the article must have discovered not only the child, but also, and rather, the baby in the author Christian Kracht. It would have probably seemed like a defamation if he had written about a big crazy 49-year-old baby, because unlike the child, babies are rarely acknowledged to have special abilities that have anything to do with great creativity and imagination. But since it is unreasonable to call an author a child, and because therefore it is also unreasonable to admire the child in an author, there must be a different object for that admiration. We believe this all the more so as the Feuilleton page, which is normally so emphatically godless, worships Christian Kracht more fervently than any other author (in many years), and because such worship can never be solely a response to the author’s literary abilities, because worship always transcends the profane (which certainly includes the work of writers). These thoughts come to us in the middle of the night, long after our baby has fallen asleep, our baby, to whom it would never occur to write a book. But instead of going to bed, we look at a film (an ancient sleeper of 1955): Amici per la pelle (Friends for Life) by Franco Rossi. There all of a sudden we encounter Christian Kracht, the child in the figure of the diplomat’s son Franco. The similarity is startling (Maybe we’re just tired and our discernment is falling asleep; but the inner similarity of Franco and Christian seems undeniable): the adult 49-year-old author and the child of 1955 are, in their physical posture and the gentleness of the facial expression, the same. The story in the film is the story of a friendship between two very different boys. One of them, Mario, has proletarian parents, he is simple, uneducated, something of a lout. The other boy is, already as a child, a cultivated man. And this cultivated child befriends the lout without the slightest resentment and invites him into the imaginative wealth of his life. (Perhaps it was still in front of the screen that we dropped into sleep, where a question, a reproach, circled around us: were we mistaken about what we thought we had learned about the author of the feuilleton piece and the famous writer? Has the border between baby and child become blurred for us, a border that exists, that must exist, but that wants to remain indeterminable? The child, at any rate, is closer to the baby than it is to the adult, that is an open secret, as is our redemptive dreamless sleep.)

 

 

 

 

DAS ZWEITE JAHR – 26

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Wir sind ganz ungeniert (im Urlaub erstrecht), nehmen als Bestätigung, alles, was kommt, was scheint: die Sonne zum Beispiel. (Bestätigung wofür? mag jemand fragen, der keine Ahnung hat, uns nicht kennt. Uns Menschen. Uns drei. Unser Baby, dich, mich.) Bestätigung: für alles, was wir tun, denken, fühlen. Wir wenden und drehen nicht, was wir tun, denken, fühlen. Wir sind im Urlaub. Was sollen wir schon denken über die fremde Hand, die unserem Baby über sein blondes Haupt streicht? Fast täglich geschieht es, Wildfremde (die sofort nicht länger wild, – was sie eh nie waren -, noch fremd sind) können ihr Entzücken, ihre Freude, ihr unschuldiges Verlangen nicht zügeln, wollen sich nicht zurückhalten, kennen keine Scheu, keine Schüchternheit: sie heben die Hand und streicheln das Haar unseres Kindes, manchmal bloß im Vorübergehen (jetzt gerade, als ich unser Baby von den Toiletten des Seebades zurück zu den Liegen trage), oder sie bleiben vor dem kleinen Mann stehen, frohlocken, schütteln den Kopf, wie eben vom Unglauben Abgefallene, fallen in den lauten, weichen Singsang ihrer Sprache und legen die Hand auf das kleine Haupt (der größte Körperteil unseres Babys; bisweilen kommt es uns ein bißchen wie freundlicher Spott auf uns selbst vor, dass ausgerechnet die kleinsten Menschen im Verhältnis zur Größe ihres Körpers solch riesige Köpfe herumtragen) und sie streichen über das dünne, weiche Haar, das heller als die Sonne selbst ist (auch die Anderen also sind ungeniert in unserem Urlaub, nehmen, was kommt, das Haar unseres Kindes, denn seine Berührung ist Verheißung und Vollendung, oder kleiner: Sehnsucht und Lust in einem). Oder etwas (ganz?) anderes: ein Gemälde von Bernardino Luini, eine Madonna, die ihr (ziemlich großes) Kind stillt. Ihr Gewand ist geöffnet wie ein Vorhang, durch den nur die rechte Brust lugt. Das trinkende Kind sitzt mit übergeschlagenen Beinen auf den Oberschenkeln seiner Mutter und betrachtet mit durchdringender Teilnahmslosigkeit den Betrachter des Bildes aus den Augenwinkeln, als gehörte das zusammen: Trinken und Betrachten (Trinken und Betrachten des Betrachters, während es selbst beim Trinken und Betrachten betrachtet wird. Auch unser Baby ist so ein stiller Betrachter, wenn es gestillt wird. Sein Blick stillt gewissermaßen uns, die Betrachter; im Sehen gesehen zu werden, ist uns als Wunsch wie Erfahrung nicht unbekannt, aber die gleichzeitige Mundberührung der Brust dabei macht Wunsch und Erfahrung weniger inniglich, weniger spröde, entfernt die Sehnsucht aus der Verbindung des einen und des anderen Betrachters). Daneben (aber nur im Katalog) ein zweites Bild von Bernardino Luini, Trauer um Christus. Der vom Kreuz genommene Christus (jetzt der Entkreuzigte) auf dem Schoß einer Frau, zaghaft gestützt von zwei, drei anderen, ein weniger tot als entkräftet wirkender Jesus, ein ratloser Jesus, der die säugende Brust nicht finden kann, weil er nicht mehr suchen kann, nichts weiß von richtiger Suche. Seine Augen sind geschlossen wie die Brüste der Frau, die ihn hält, tief unter ihrem Gewand verborgen sind. Ein schwaches, viel zu groß geratenes Baby ist dieser Jesus und zugleich – das macht ihn interessant – ein erwachsener Mann, auf dem Schoß einer Frau sitzend, wie nie ein erwachsener Mann auf dem Schoß einer Frau sitzt. Männer sitzen nicht auf dem Schoß einer Frau, daran hat sich seit Jahrtausenden nichts geändert, das Schoßsitzen ist den Frauen selbst vorbehalten oder den Kindern und Babys. Ein stiller Revolutionär ist dieser Jesus wie er in dieser betrüblichen Situation so dasitzt, tot und doch liegt sein rechter Arm lässig auf der Schulter dieser Frau, die ihrerseits ihre rechte Hand auf seinen Oberschenkel gelegt hat. Die stillende Madonna des einen Bildes so neben der Frau des anderen Bildes mit dem gestorbenen Gottessohn (oder einfach nur: mit einem toten Mann) auf dem Schoß zu betrachten, ist wie durch nur zwei Bilder der Summe des Lebens teilhaftig zu werden. Die Rückkehr in den Schoß, wo alles Sein und Tun seinen Ausgang genommen hat, verblüfft (umso mehr vor dem Wellenschlag und Glucksen des Sees, vor seinem unsichtbar sichtbaren Tiefgang, seiner dunkelblauen Schwärze, auf der morgens das silberne Glitzern und abends das goldene Schimmern tanzt, das wir, wie alles, was kommt, als Bestätigung nehmen. Wofür? Für all die Zusammenhänge, die wir niemals erkennen können). Vom gestillten Baby zum revolutionären, weil schoßsitzenden Jesus: eine immer gleichbleibend junge Konstellation. (Mit unserem Baby im See. Von deinem Schoß rutscht es herunter und geht los. Sogar auf dem Gras meinen wir zu hören, dass sein Laufen patschend klingt. Wir beide stehen bis zur Hüfte nah beinander im Wasser, unser Baby schwimmt schwimmflügelgetragen zwischen uns hin und her. Selbst in Ufernähe ist die Wucht der Wassermassen spürbar, die uns nur zu gerne von den Füßen holen möchte. Das Wasser ist ein verführerischer Abgrund, der über seine Tiefe täuscht. Das macht ihn noch attraktiver. Aber heute müssen wir auf unser Kind aufpassen, also bleiben wir stehen, korrigieren nur kurz unseren Stand, wenn die kleine Fähre Wellen herüberrollen lässt. Ausreichend fest also stehen wir und so kommen die kleinen Fische in Schwärmen, umflattern unsere Beine und mit ihren kleinen Saugmündern, versuchen sie sich an uns, was als ein kleines, entzückendes Zupfen auf unserer gebräunten Haut spürbar ist. Nur auf unserer Haut, unser Baby interessiert sie nicht, es ist selbst zu flatterhaft und für einen Augenblick glauben wir, es könnte sie diesen kleinen Fischen anschließen, hinabtauchen und zum Erwachsenwerden in den Tiefen des Sees verschwinden.)

DAS ZWEITE JAHR – 25

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Irgendeine Frau sagt irgendwo zu irgendeiner anderen Frau: Man muss doch nicht darauf verzichten, ein eigenes Leben zu führen, nur weil man ein Kind hat. Um ihr eigenes Leben will sie sich nun, da ihr Baby eineinhalb Jahre alt ist, verstärkt kümmern. Eigenes Leben – wie sie es ausspricht, klingt es wie eine Verheißung, wie das gelobte Land, das – vorrübergehend  – von den kriegerischen Truppen des Babys besetzt worden ist. Jetzt will sie es zurückerobern. Das eigene Leben: viel Schwärmerei liegt in diesem Ausdruck und ebensoviel Unklarheit. So, als könnte einen das eigene Baby dazu bringen, das eigene Leben zu verlieren und dazu zwingen, ein nicht eigenes Leben zu leben. Dieser Verlust schreit nach Erklärung. Wie kann man das Eigene, Eigenste, das man hat, das man selber ist, verlieren? Und wenn man es verloren hätte, was wäre man dann noch, was wäre man als nichteigenes Leben? Zugleich diese Sehnsucht, diese gewaltige, schwüle, leidenschaftliche Vorstellung, in das Eigene zurückzukehren, ins Paradies der Sichselbstgleichheit, wo alles in Ordnung ist, wo Glück und Eintracht herrschen, wo man sich sicher fühlt, wo es nichts zu verlieren gibt, wo der Hader ein Ende findet und der Zwiespalt sich schließt. (Man darf nicht unterschätzen, was irgendeine Frau irgendwo zu irgendeiner Frau sagt – es ist besser genauer als nur genau zuzuhören, denn was die eine Frau zur anderen sagt, das betrifft uns doch auch, oder hilft uns, zu überprüfen, was wir über das Eigene, das eigene Leben denken, wie entrückt, entfallen, gespalten wir uns vorkommen, du und ich.) Die Bemerkung der unbekannten Frau trifft uns zu einem Zeitpunkt im Sommer, da alle weg sind, verreist, ausgeflogen. Viele sind unterwegs mit ihrem Kind oder ihren Kindern. Auch die Babys verreisen schon. (Den Babys ist das Verreisen egal, solange das, was sie wollen und brauchen von ihren Eltern nicht übersehen wird, solange ihre Eltern nicht vergessen, dass sie, gleich wohin die Reise geht, Schüler ihres Babys sind und bleiben. Es ist die wundersame Möglichkeit des Babys, sich jeden Ort aneignen zu können, keine Fremde zu empfinden, auch dort, wohin wir verreisen, gleich wieder da zu sein – aber es ist schon nicht mehr ganz so vollkommen frei wie am Anfang, kleine Momente der Stille und des Zögerns verraten, dass die schnelle räumliche Veränderung unser Baby in rätselnden, staunenden Gedanken beschäftigt, dass die Bewegung selbst, hinten im Auto, auf dem Elternschoß im Zug, auf dem schwankenden Schiff ein bißchen fassbar geworden ist, dass der eine Raum, den das Baby so ganz und gar ausfüllte, sich gedehnt hat, größer wurde und weiter – aber sonderbar, – sich dadurch auch verkleinert hat; der Raum, der jetzt gleichsam mitreist, ist einer von vielen, ein kleiner, der uns umgibt, wo wir uns gerade befinden, der an uns klebt und im Laufe der Jahre immer mehr an uns klebt; vielleicht ist es so, dass unser Baby, anders als noch vor einem Jahr, vielmehr seinen eigenen Körper ausfüllt, ihn vielmehr bewohnt, dass ihm die Reise jetzt spürbar geworden ist, wie wir die Reise so deutlich spüren in der Wohnung unseres Körpers, die wir schon so lange unsere nennen.) Die Babys verreisen, die Kinder verreisen, die Familien verreisen – wir also auch. Wir wollen sehen, wie es ist, das eigene Leben irgendwo anders hinzutragen, in eine anderes Land und dabei zugleich unser Baby herumzuschleppen, gleich am ersten Tag, steile Steinstufen hinauf, weil es nicht selber laufen möchte, lieber in der Tragehilfe sitzt. Wir erinnern uns, wie es war, nur uns selbst im Urlaub steile Stufen nach oben geschleppt zu haben, nur uns getragen zu haben, einen kleinen Rucksack vielleicht noch. Und bald merken wir, jetzt, da wir drei (das Baby, du, ich) täglich ständig zusammen sind, den Schwund des eigenen Lebens mit plötzlicher Heftigkeit, dass wir einen Augenblick schon den Worten der unbekannten Frau, die sie irgendwo zu irgendeiner anderen unbekannten Frau gesprochen hat, glauben wollen. Aber glücklicherweise doch nur einen Augenblick. Erstens entdecken wir in unserer Unterkunft gute Bücher (überhaupt eine feine Sache, irgendwo in der Fremde unterzukommen, ohne eigene Bücher bei sich zu tragen, und dann dort in der uns überlassenen Wohnung die Bücher aus dem Regal zu ziehen und in ihnen zu blättern), zweitens rückt uns unser Baby gewissermaßen wieder zurecht, indem es mit einer neuen Geste der Umarmung seine kurzen Arme um unseren Nacken legt und uns zu sich zieht, als wollte es uns etwas ins Ohr flüstern (über das Eigene und Nichteigene). Also Witold Gombrowicz in seinen Tagebüchern über Camus: Camus nimmt, wie andere vor ihm, den Menschen aus der Masse, ja sogar aus dem Verkehr mit dem anderen Menschen heraus, um die einzelne Seele mit der Existenz zu konfrontieren – das sieht aus, als nähme er einen Fisch aus dem Wasser. Jetzt begreifen wir (während wir von oben auf den See blicken, auf ein tiefes Blau, das erstaunlich unkühl auf uns wirkt), dass die unbekannte Frau aus dem einfachen Grund irrt, weil sie das Eigene dort sucht, wo es kein Eigenes gibt, noch geben kann: in ihr selbst. Ein verführerischer Irrtum, denken wir (unser Baby wieder schulternd), dem wir fast erlegen wären, eine Irrtum, eine einfache Lösung auf dem durchaus beschwerlichen Familienweg. Wir sind im Urlaub – und jetzt gehen wir mit unserem Babyfisch hinunter zum großen See und schwimmen, wir alle drei, im sonnengewärmten Wasser, das jeden von uns gleichermaßen trägt als wären wir und hätten wir nichts Eigenes, auf das besonders geachtet werden müsste.

DAS ZWEITE JAHR – 24

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Draußen am See nach einer kleinen Wanderung, die unser Baby hauptsächlich auf dem Rücken seiner Eltern bestritt, genoß, sich nur zu gerne gefallen ließ (auf dem Rücken tragen ist weiterhin die schönste Art des Tragens. Die Kindertrage hat ein Sonnendach und Schlaufen für die Füße und ein Stirnpolster für die Müdigkeit. Bergauf lässt sich das Gewicht unseres Babys bald vergessen, während unsere Augen gierig nach reifen Himbeeren am Wegrand suchen, bergab aber macht das Baby sich extra schwer, lässt jedes seiner elf Kilo sich verdoppeln, verdreifachen, in unsere Kniee und Waden sinken, bis wir bald den Entschluß fassen, in Zukunft wollen wir mit unserem Baby nur bergauf laufen, nur noch bergauf). Die Wiesen am Seeufer sind gut belegt, es herrscht sommerliche Eintracht, man kommt sich nah, aber es wird nicht eng, nicht bedrängend. Wir finden einen Platz gleich am kiesigen Ufer (feiner Kies, der sich mit der roten Schaufel gut auf unseren Knien abladen lässt. Nur mit den Füßen steht unser Baby im Wasser, nackt und gut eingecremt, einen blauen Sonnenhut auf dem Kopf, dessen überbreite Krempe bis zu den Schultern reicht und schaufelt und schaufelt; manchmal auch nur Wasser mit einer auffälligen Verständnislosigkeit im Blick, immer dann, wenn das Wasser gleich wieder vom nur wenig gebogenen Schaufelblatt herunterrinnt und sich ununterscheidbar, unverfolgbar mit dem Blick im See verteilt. Dem Gleichwiedereinssein des geschaufelten Wassers in sein Element und dem dieses Phänomen begleitenden Blick unseres Baby können wir nicht anders als eine Erinnerung zuzuordnen, eine Erinnerung, über die unser Baby gleichsam stolpert: war, scheint es sich undeutlich zu fragen, ich nicht einst wie dieses Element, Element im Element, ununterscheidbar, unsichtbar eins mit dem, was mir ganz und gar glich? Die Liebe unseres Babys zum Wasser, aber nicht als etwas, das zum Schwimmen da ist, zum Tragen eines Bootes, oder auch bloß zum Trinken, diese Liebe zum Wasser, die Verständnis ist, sie berührt uns so sehr, dass wir gleich ganz aufgelöst, wässrig werden). Nach dem Spielen im Wasser kommen Hunger und Durst, unsere Vorräte sind fast aufgebraucht, also beschließt ihr beide (du, unser Baby) zum Kiosk unweit des Dampfersteges zu laufen, um Nachschub zu besorgen. Schläfrig lege ich mich auf unsere Decke und schließe die Augen. Aber ich schlafe nicht, ich wache und dann höre ich. Genaugenommen bin ich bald ganz Ohr, hellwaches Ohr trotz seines schläfrigen Besitzers, ein Ohr, das mittendrin im Hörbaren liegt, ein Rundumhören bin ich, von fern und ganz nah höre ich Stimmen, Geräusche, Wellenschlagen, Blätterrauschen, Kinderschreien, Kinderlachen, Wortbrei, einzelne Worte ganz deutlich, die folgenden aufgelöst in lose Tonfolgen, Motorengeräusch, eine Hupe, Rufen, Knacken, Schaben, Husten, Gluckern, Schmatzen … Ich höre von fern und nah, aber das Ferne ist nicht Fern wie das Nahe nicht nah ist. Mein Hören lässt irgendwann das Unterscheiden ziehen: nah, fern, laut, leise, hell, dunkel – ich finde eine immer gleiche Nähe zu den Geräuschen, eine gleiche Deutlichkeit, viel imposanter als alle Unterschiede. Ist mein Hören überhaupt noch Hören? frage ich mich in den tiefen Trichter meiner Schläfrigkeit hineinhorchend. Es ist eigenartig, wie wenig ich wirklich höre, so dass ich es identifizieren könnte als ein bestimmtes Geräusch mit einer sinnvollen Herkunft. Was die Sprache angeht, ist es am hörfälligsten: kaum ein Wort, ein Satz, obwohl ich weiß, es ist ein Wort, ein Satz, ergeben einen Sinn. Als würde das sinnvolle Hören abhängen von glücklichen Umständen, die vielleicht gar nichts zu tun haben mit der richtige Lage meines Ohr zum Sprecher oder meiner Aufmerksamkeit oder meinen Vorkenntnissen. Dennoch schenkt mir diese gehörte Undeutlichkeit und Unschärfe einen wohligen Zustand, warm betten mich die auftauchenden und versinkende Geräusche, ich spüre die Weite des Raums, doch keine haltlose Unendlichkeit. Dann, einem Impuls folgend, öffne ich die Augen und blicke in die Richtung, aus der ihr (du, unser Baby) vermutlich von eurem Kioskeinkauf zurückkommen werdet. Und wie beim Hören eben widerfährt mir das gleich beim Sehen. Im ersten Moment des Augenöffnens kann ich gar nichts erkennen, nur eine Reihe von Farben, Kleckse, viel Grün und Blau um die eher gelblichen Töne herum, bei erstem Betrachten alles flächig, dann langsam dehnt sich diese Fläche von mir weg und wird zum Raum. Ihr beide (du, unser Baby) seid zwei Flecken, die aus diesem Raum herausquellen, ich erkenne euch, aber nicht an euren Gesichtern. Das Gesicht ist wie ein verstandenes Wort oder ein verstandener Satz: alles muss gut zueinanderstehen, sich in idealer Relation befinden, dass etwas Sinnvolles entsteht. Marcel Proust schreibt in Auf der Suche nach der verlorenen Zeit über den Maler Renoir: Frauen gehen die Straße entlang, die völlig anders aussehen als die von ehedem, weil sie Renoirs sind, eben jene Renoirs, in denen wir früher überhaupt keine Frauen erkennen wollten. Auch die Wagen sind Renoirs, das Wasser und der Himmel; wir haben Lust, in dem Wald spazierenzugehen, der uns am ersten Tag wie alles andere als ein Wald vorkam, eher zum Beispiel wie eine Stickerei mit vielen Farbtönen, in denen aber gerade diejenigen fehlten, die einen Wald ausmachen. Das ist die neue, vergängliche Welt, die jetzt erschaffen wurde. Wie ich euch beide (meine Frau, mein Kind) so kommen sehe, sehe ich euch also wandeln in der Vergänglichkeit. Ihr entsteht direkt aus der Ununterscheidbarkeit (das Kind der Vergänglichkeit oder ihre Mutter?), werdet vor meinen Augen konkret (wie ich vor euren), wir begrüßen uns freudig, dass wir noch nicht vollständig in dieser unanzweifelbaren (wir bezweifeln sie trotzdem, ständig) Vergänglichkeit verschwunden sind (warum sonst begrüßen Menschen sich jeden Tag aufs Neue?), und jetzt stehen wir uns so nah, dass der Impressionismus der letzten Minuten eine reale Pause einlegen kann: ihr seid wieder da, stofflich, echt, greifbar (und habt Kaffee im Pappbecher mitgebracht, ein Stück Kuchen, eine Fanta, ein Wasser, zwei Käsesemmeln mit Gurke, Kekse). Später sitzen wir in der langsam sinkenden Sonne auf unserer grauen Decke, angeordnet im Dreieck, auf dessen Fläche zwischen uns nur noch die Kekse und die Wasserflasche liegen. Wir sind ein gleichseitiges Dreieck, dessen einen Eckpunkt unser Baby irgendwann verlässt, um mit einem Keks in der Hand auf deinen Schoß zu klettern. Das könnte jetzt Renoirs Mutter mit Kind sein oder auch Das Kind mit seinem Kindermädchen oder ein anderes seiner wunderbaren Kinderbilder, die deswegen stärker als das Verschwinden, unsere Vergänglichkeit sind, weil sie den Betrachter aus der Fixierung auf das gegenständlich Gegebene auf eine sehr milde Weise herauswerfen. Vielmehr noch üben sich Renoirs Bilder in diesem instabilen Gleichgewicht zwischen Sehen und Verschwinden, Erkennen und Auflösung. Mild weht mich eure Unfestigkeit an (oder es ist abendliche Thermik, eine plüschige Walze, die vom See herrollt), ich betrachte euch (dich, das Kind), erkenne das unsichtbare Wesentliche und das sichtbare Unwesentliche, bis ich beides nicht länger auseinander halten kann. Und dann fällt mir auf, dass es ein Drittes gibt. Unser Kind! Seine Deutlichkeit, sein schwankungsloses Dasein, das der Vergänglichkeit spottet, seine Kraft und sein unheiliger Blick, den Renoir vielleicht entdeckt hat, offenbar fasziniert von diesem Ausdruck, der gleichsam jede Renaissancedarstellung (einer Madonna mit Kind) korrigiert. Das ist die Offenbarung (bis zum nächsten Irrtum) von der Proust spricht: Sie wird bis zur nächsten erdgeschichtlichen Katastrophe dauern, die durch einen neuen, originelleren Maler oder Schriftsteller heraufgeführt werden wird. Nein, diese Offenbarung wird bleiben (mit oder ohne Keks)!

DAS ZWEITE JAHR – 23

23

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Da gibt es dieses Zögern, Zaudern, Innehalten unseres Babys am Eingang, am Tor, am Rand des Spielplatzes, vor der großen Kinderwiese beim Labyrinth, auf der letzten Stufe zum Turncafé, ein Zögern, Zaudern, Innehalten, das etwas zu tun hat mit der Größe der Menge, der anderen Menschen, Kinder, auf die wir treffen, denen wir uns nähern, es gibt eine Zurückhaltung der Masse gegenüber, eine ebenso natürliche wie automatische Zurückhaltung, die zuerst überwunden werden will, wenn wir mitmachen wollen, dabeisein wollen, eintauchen wollen (Masse und Macht von Elias Canetti ist ein Buch des Hintergrundes: einmal darin gelesen, wird es immer wieder erinnert, die letzte Lektüre kann Jahre her sein, plötzlich in der vollen U-Bahn, die zwischen zwei Stationen im Tunnel Halt macht, taucht es in meinem Bewußtsein auf, vielleicht nur der Titel. Masse und Macht das klingt nicht gerade vertrauenerweckend, das klingt nach Urzusammenhang, nach einer unauslöschbaren, mehr teuflisch als göttlichen Verbindung, jeden Menschen betreffend, jedem Menschen gleichsam mit in die Wiege gegeben. Der superindividuelle Moment der Geburt ist auch der Moment, der unweigerlich, als Grund, Ursache, Notwendigkeit zum Kontakt mit den Anderen, der Masse führen wird. – Mein altes Taschenbuchexemplar ist unbrauchbar geworden, die an den Rändern dunkelbraunen, sonst gelblich vergilbten Seiten fallen beim Öffnen zahlreich heraus wie die Blätter im Herbst von den Bäumen. Ein neues muß her. Mein Baby auf dem Arm, suche ich die Buchhandlung hinter der Universität auf. Der jungen Buchhändlerin ist der Name Canetti unbekannt. Sie versucht sich in der Suchmaske des Computers mit Kanetti. Den Titel Masse und Macht wiederhole ich ein paar Mal, bevor sie ihn versteht. Spreche ich so undeutlich? Ist der Buchhändlerin der Titel so ungewohnt, nach zu Fremdem klingend, stößt sie der Zusammenhang, den er ausspricht, womöglich ab? Jetzt bloß nicht hochmütig werden! denke ich. Wird mein Sohn, der von meinem Arm auf den Teppichboden und selbst ein bißchen um die Büchertische und an den Buchrampen herumstreichen will, eines Tages Ahnung haben oder Interesse finden an Elias Canetti? Mein altes verwelktes Buch kommt mir vor wie ein Symbol des Verwelkens der Kultur, der je eigenen, meiner Kultur, dem, was für mich Bedeutung hatte und hat und von dem ich immer, lange Zeit zumindest, den Eindruck hatte, es hätte diese Bedeutung für alle Menschen. Das war wahrscheinlich immer schon ein – lieb gewonnener – Irrtum, der heute aber deutlich aus dem beschützenden Schatten eines naiven Glaubens, einer nur allzu menschlichen Hoffnung heraustritt. So wie alle Dinge und Menschen kommen und gehen, so kommen und gehen auch die guten Bücher. Wird sich unser Sohn wundern über die Namen der Autoren in den Bücherregalen, falls wir einmal nicht mehr sind? Wird er Masse und Macht herausziehen, befremdet darin blättern, über Sprache und Inhalt rätseln und es gleich zur Seite legen, in eine Kiste mit den anderen Büchern, die bald von einem Trödler abgeholt werden, oder schlimmer von einem Entrümpler? Über den eigenen Tod hinaus werden Kränkungen kaum möglich sein, denn wir würden es als eine solche empfinden, dass das, was uns wichtig ist und dann war, nun als unwichtig und wertlos betrachtet und beurteilt wird. Jedenfalls wird mein Wunsch nach Masse und Macht durch das Unwissen der Buchhändlerin zu etwas Sonderbarem, Überholtem, fast zu einer Schrulle. Nur die ganz Eitlen wollen Bücher für sich haben und nicht teilen; doch womöglich ist es auch eine Form der Eitelkeit, dass ich glaube und möchte, jeder sollte Masse und Macht lesen. Andererseits, denke ich und sehe unseren Sohn sich vom Kinderbuchtisch in die Tiefen des Buchladens entfernen, Richtung Leseinsel, andererseits, ist es nicht ein Glück, das alles, selbst das Wertvollste nicht vom Verschwinden ausgenommen ist und dass man, in welch fernen Zeitabständen auch immer, mit seinem Wiederauftauchen rechnen kann? Oder auch nicht damit rechnen kann oder nur mit einem Wiederauftauchen Äonen von der eigenen restlos verblassten Existenz entfernt? Was bleibt von uns, wenn wir nicht mehr sind? Diese sonderbare Frage, die so einfach zu beantworten ist: unser Baby, unser Kind, täuscht uns nicht. Alles sonst, was bleibt, hat nichts zu tun mit uns und unserem Willen. Kein Glück oder Unglück geschieht, wenn unser Junge niemals Masse und Macht lesen würde. Trotzdem: wir hätten es gern, wünschen es uns. Besonders um des nicht geschriebenen Kapitels willen, um das Ergänzungskapitel, das heißen könnte: Das Zögern. Zaudern. Innehalten. Oder, widersprüchlich: Die Verweigerungsmasse.) Da gibt es die anderen Kinder. Manchmal sind es nur wenige (an einem Schlechtwettertag auf dem Spielplatz), dann wieder sind es viele, sehr viele (am guten Babybadeplatz am See). Sind es die Wenigen, ist der Kontakt leicht, auch, weil er sich vermeiden lässt, auch, weil genug Raum für alle vorhanden ist. Die Wenigen nehmen sich nichts, und wenn sie sich etwas geben, hat es fast etwas Feierliches. Sind es die Vielen, wird der Raum eng (auch der akkustische; Lärm ist keineswegs etwas den Babys Angenehmes). Der Kontakt unter Vielen ist nah am Zwang. Kaum ein Ausweichen ist möglich, selbst wenn unser Baby nicht in Stimmung für Begegnung ist. Die Begegnung in der Masse ist im Grunde keine Begegnung, ihr fehlt eben der Raum und damit die Freiheit. Groß ist die mitgebrachte Offenheit des Babys allen anderen gegenüber. Sie schrumpft schnell, wenn alle anderen gleichsam zugleich dort sind, wo das Baby ist. Es gibt ein Zuviel, und dabei scheint es nicht um persönliche Vorlieben und Neigungen zu gehen. Die Masse hat etwas Abstoßendes, Räuberisches, Hartes und diese Eigenschaften besitzt sie bereits bei den Kleinen und Kleinsten. Bei Canetti heißt es: Die Genugtuung, in der Rangordnung höher als andere zu stehen, entschädigt nicht für den Verlust an Bewegungsfreiheit. In seinen Distanzen erstarrt und verdüstert der Mensch. Er schleppt an diesen Lasten und kommt nicht vom Fleck. Er vergißt, daß er sie sich selber auferlegt hat, und sehnt sich nach einer Befreiung von ihnen. Die Befreiung geschieht in der Masse, in der Entladung mit der alle Trennungen, Unterschiede abgeworfen werden. Die Babys aber kommen schon entladen zur Welt. Trennungen sind ihnen fremd, Unterschiede bloß interessant. Erst in der Masse scheinen die Rangordnungen zu entstehen, in der frühen Masse, der Kindermasse. Dieselben Rangordnungen, die später wieder in der Masse, der Erwachsenenmasse aufgehoben werden sollen. Ein Kreislauf, der fatal ist und auf eine Weise nutzlos, kann doch kein Wesen sich je wieder loswerden. Zögert unser Baby deshalb? Als würde es ahnen, was mit dem Eintritt in die Masse auf es zukommt. Andererseits, es hat nichts gegen die Masse, wenn sie nur klein ist und klein bleibt. Eine gemäßigte Masse, in die sich gefahrlos eintreten und eintauchen lässt und die doch selber sein ermöglicht. Eine Wunschmasse? Unser Baby hält inne. Der Ort, zu dem, in den es will ist voll. Es hält inne und geht dann doch los. Mittenhinein. Betritt die Gefahr. Vielleicht hat es Lust seine Weisheit zu verlieren. Vielleicht ist die Masse der Ort und ihr Betreten der Beginn des Verlustes. Des Babyverlustes. Warum nur wirkt unser Baby, nach dem es sich nun entschieden hat aufs Ganze zu gehen, im großen Heer der Kinder zu verschwinden, so vergnügt?

DAS ZWEITE JAHR – 22

22

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Auch im Babyspinat schlummern die Zusammenhänge, Verbindungen, Belehrungen und haben nichts dagegen, gehoben zu werden. Beim Zubereiten eines Salates (unser Baby will mitmachen, alles, was wir tun, will es auch tun. Es will uns nah sein, wenn wir die Roten Beete waschen, es möchte eine unserer Hände sein, ja, es glaubt, es sei eine unserer Hände, ja, es glaubt, unsere Hände sind seine Hände. Es ist eine entzückende, unschuldige Nähe und wieder kommt uns unser Baby wie ein guter Geist vor, der all unsere Taten all unser Tun seit einiger Zeit begleitet. Seine Ungeschicklichkeit dabei – schnell ufert das Waschen der Roten Beete zu einer großen Plantscherei am Waschbecken aus – steht dem guten Geist nicht entgegen: seine Ungeschicklichkeit macht uns froh, weil sie unserem Arbeiten nichts nimmt, noch etwas gibt. Für einen Moment sind auch unsere Hände die Hände unseres Babys, die über die holprige Rundung der Roten Beete streichen, beflissen, ernst, auch herrisch. Wasser, Rote Beete, Spritzerei. Doch, das Mittun unseres Baby lässt uns leichter bei der Sache, die wir gerade tun, sein, nur bei dieser einen Sache): Rote Beete, Babyspinat, Kürbiskerne, Knoblauch, Ahornsirup, Olivenöl, Sherryessig, Kerbel, Salz, Pfeffer (unser Baby schwankt auf seinem Treppenstuhl, während es jetzt hilft, die Erde von den Spinatblättern abzuwaschen. Dieses schwankende Stehen ist irritierend, nicht, weil wir immer denken, unser Baby würde jeden Augenblick herunterstürzen, sondern vielmehr, weil es in diesem Schwanken, diesem leichten Wiegen eines Schilfrohrs im Sommerwind, so ungemein sicher steht, so ungemein selbstverständlich, dass uns unser eigenes Stehen mehr und mehr vorkommt wie ein Erstarrtsein, eine übertriebene Unbewegtheit, ein Bann). Salat ist jung, frisch, gerade gewachsen, Babyspinat, denken wir, kleine zarte Blätter, weich, aber kräftig genug, Form zu bewahren, so zu essen: direkt aus der Erde, von der Ernte fertig für unseren Mund, kein Blanchieren, keine Hitze, die das Gewachsene erst essbar machen würde ist notwendig. So sind wir als Esser überhaupt: das Jüngste, Frische, Neue schmeckt uns besonders, das Kurzgelebte, nicht lang Entwickelte, nicht ewig Gewachsene. Wir essen Babyspinat oder zartes Kalbsfilet, Lammkotelett, wir lieben Kräuter, die hauchdünnen, eine, zwei Wochen alten Blättchen von Petersilie oder Koriander, die Spitzen des Dillkrautes, weich wie Kükenflaum; Kräuter dürfen nicht zur Blüte gelangen, nicht fest werden, sich nicht auswachsen; wir bevorzugen das gerade Entstandene, Spargel und am liebsten das Zarteste an ihm, die Spitzen; Beeren mögen wir, gerade gereift, gerade, wenn sie sich gerötet haben, wie Pilze, die eben erst durch den Waldboden gestoßen sind, deren Fleisch makellos ist, unberührt von Insekten oder Schnecken oder achtlos vorbeitrampelndem Getier, herabfallendem Ästen oder Zapfen, quasi noch in einer heiligen Aura, idealen Gestalt im Halbdunkel des Waldes verbleibend. Babycalamari wollen wir, unzäh, Lauchzwiebeln, deren Knolle noch gar nicht zur Knolle ausgebildet ist, schlank mit hübschem Bauchansatz höchstens, wir begeistern uns für das elfenbeinfarbene Fleisch der vor einer Minute vom Baum geschüttelten Walnuss, von dem sich leicht die fensterledrige Haut abziehen lässt, natürlich lässt uns Babymais nicht kalt, der so ganz anders als erwachsener Mais gar nicht plump und übertrieben nahrhaft schmeckt und groß ist unsere Begeisterung über Johannisbeerbaiserkuchen, der gleich nach dem Abkühlen gegessen werden muss, bevor seine mittelgebirgige Oberfläche, aus der einzelne Beeren linsen wie durch ein ausgeapertes Schneefeld, von harzige Tröpfchen verunstaltet wird … Es ist, als würde der Höhepunkt des Lebens zu Beginn erreicht sein, was ihm folgt ist Abstieg, Verfall, Verkrampfung, Häßlich- und Geschmacklosigkeit (alles in Maßen freilich; der Abstieg dürfte uns außerdem ja kaum auffallen, denn wer könnte diesen frühen Höhepunkt schon erinnern?). Jedenfalls sieht unser Baby wie es in Windel und nassem T-Shirt am Wasserhahn steht (schwankt) und die Salatblättchen aus den Bündel reißt zum Anbeißen aus. Ganz und gar zum Anbeißen! Wären wir Kannibalen, hätten wir es längst verschlungen. Indem man Teile vom Leib einer Person durch den Akt des Verzehrens in sich aufnimmt, eignet man sich auch die Eigenschaften an, welche dieser Person angehört haben, heißt es bei Freud in Totem und Tabu. Im Fall des Babys gilt freilich die übliche Einschränkung nicht. Hier greifen keine Vorschriften und Beschränkungen der Diät unter besonderen Umständen, denn im Falle unseres Babys gäbe es keinerlei Eigenschaften, die wir nicht mit verspeisen wollten. Keine negative oder unerwünschte Eigenschaft könnte auf uns übergehen, wir würden das Baby komplett verschlingen mit allen Konsequenzen, unser Meister würde ganz und gar in uns übergehen, und wir dadurch ganz und gar in unseren Meister. Sieht man nicht überall Eltern an ihren Kindern herumknuspern und Knurrlaute dabei von sich geben? Zum Entzücken der Kinder, zum Entzücken der Eltern (Entzücken in Grimms Deutschem Wörterbuch: geistiges entrücken und hinreiszen, wodurch die seele geleichsam auszer sich an eine andere, übersinnliche stelle geführt wird … kein größeres Entzücken als durchs Essen, nein, Fressen). Also werfen auch wir uns an die Kehle unseres Babys, das gleich einen schrillen Schrei ausstößt, sich zurückbeugt, um die Kehle noch weiter frei zu geben und dann zu gackern beginnt, während wir knurren und grunzen und so tun als ob, wir unser Baby fressen würden. Nach einiger Zeit (und weil wir nur so getan haben, als würden unser Baby fressen wollen) bringen wir die Zubereitung des Salates zu Ende: Rote Beete mit Babyspinat. Dann essen wir ihn (unser Baby ißt nur ein paar der gewürfelten Roten Beete): unser Entzücken ist groß. Wir fühlen uns erfrischt und jung und kommen uns vor wie glückliche Kannibalen.

DAS ZWEITE JAHR – 21

21

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Ab jetzt wird geschoben. Die Lust zu schieben entsteht von heute auf morgen und mit aller Macht – so scheint es. Das Baby (nein, unser Baby ist kein richtiges Baby mehr, aber doch ist es noch Baby, sieh nur den Speck an den Oberschenkeln und das runde Gesicht und die kräftigen Lippen, die ihre Gier nicht zu verbergen suchen!) beobachtet die anderen Babys und Kinder, die kleineren und größeren, was macht das eine, was macht das andere. So sind sie, plötzlich scheinen die anderen Babys, Kinder, insofern andere zu sein, dass sie über eigene – hoch interessante, brilliante – Ideen verfügen, die einmal selbst auszuprobieren, nachzumachen, sich lohnen könnte. Wer beobachtet wen, ist keine geringe Frage. Unser Baby wird beobachtet, wie es selbst beobachtet. Das Universum der Babys ähnelt unserem nur auf den ersten Blick (wir erinnern uns: die Babys sind keine kleinen Menschen, Menschen, wie du und ich: du bist du und ich bin ich, so denkt das Baby nicht), auf den zweiten Blick zeigt sich die wundersame Ungetrenntheit dieser kleinen Wesen, die uns schwindlig werden lässt, wenn wir über den Beobachter und den Beobachteten etwas Wahres herauszufinden versuchen. Die Rollen wechseln nicht nur, es scheint gleichsam nur eine Rolle zu geben, die jedes Baby zu jeder Zeit und sogar gleichzeitig einzunehmen in der Lage ist: der Beobachter und der Beobachtete (oder auch das Beobachtete) sind ununterschieden, aber doch schon ein weites Stück entfernt vom Alles ist eins. Ein Wagen wird geschoben, ein Puppenbuggy, überall schieben die Kinder Puppenbuggys, kaum entdecken sie einen herren- oder damenlosen, schon eilen sie zu ihm hin (auf ihre eigene eilige Weise, die so sehr mit dem Ziel der Eile verwachsen ist, dass sie dennoch – zu unserer Überraschung – niemals den Eindruck erwecken, sie hätten Sorge, sie könnten etwas verpassen), packen die Griffe und rattern los. Hat je jemand damit angefangen? Wer war der erste Schieber, die erste Schieberin? Im Schieben lässt sich kein Unterschied der Geschlechter feststellen. Alle Babys schieben, ein individueller wie kollektiver Wunsch ist es, der fast etwas von Besessenheit hat. (Auf dem Hausflohmarkt in unserem Viertel erstehen  wir für einen Euro ebenfalls so einen kleinen Buggy, der sich gut zusammenklappen und leicht mit einer Hand tragen lässt. So wie unser Kind vom Schieben ergriffen wird, werden wir davon ergriffen, ihm diesen Wunsch noch einfacher zu ermöglichen. Welche Freude, wenn wir aus der Wohnung nach unten steigen und unser Baby seinen Wagen entdeckt und ihn sogleich losschieben will! Den Körper etwas nach vorne gekippt, die Arme nach oben gestreckt, beginnt die Fahrt auf dem Gehweg. So schnell, viel schneller, als es zu Fuß ohne Wagen laufen würde. Mit dem Puppenwagen vor sich, lässt sich Tempo machen, die billigen Puppenwagenräder rattern über die Fugen der Pflastersteine, über Bordsteinkanten und das Bodengitter über dem U-Bahnschacht. Dann geht es die Rampe an der Kirche hoch und der Wagen wird nach einem Moment des Überlegens auf der anderen Seite die fünf Stufen hinunter geschubst.) Schieben! Gibt es etwas Schöneres als schieben? Nicht einmal das Gehen wurde mit solch ausdauerndem Jauchzen begleitet. Es muss doch etwas hinter dem Schieben stecken, ein (der erste?) geheimer Wunsch, den das Baby von Geburt an in sich trägt und der jetzt herausspringt (wie auch wir diesen Wunsch in uns getragen haben und noch in uns tragen und wie auch aus uns dieser Wunsch herausgesprungen sein muss – wir wußten ja bisher, trotz täglichem Kinderwagengeschiebe, nichts von diesem Wunsch, aber jetzt, da er aus unserem Baby herausspringt, springt er uns an wie ein junger Hund und mit einemmal spüren wir die freudige Spannung hinter ihm, die ihn herausgeschleudert hat). Ein geheimer Wunsch steckt hinter dem Schieben? Oder kommt es nur uns so vor, uns, die wir überall Geheimnis vermuten, wohin unsere Erinnerung nicht reicht, und was unserem Denken so überaus sinnlich widerstrebt? Der ganze Strudel strebt nach oben; Du glaubst zu schieben und du wirst geschoben, heißt es in Goethes Faust. Faust und Mephistopheles auf dem Weg zur Walpurgisnacht auf den Blocksberg (Faust und sein Puppenkinderwagen namens Mephistopheles – oder: Mephistopheles und sein Puppenkinderwagen namens Faust – in einer Hexennacht kann man reinen Gewissens alles vermuten, verknüpfen, verlinken): jedenfalls steht sinnliches Vergnügen bevor, Tanz und Feuer. Bewegt unser Baby seinen Puppenwagen, so bewegt es etwas, ein Stück Welt, unlebendige oder lebendige Welt, schiebt ein Stück Welt zur Seite, voran in eben dieser gleichen Welt. Eine großartige Illusion, die sich selten echt anfühlt! So kann man sich Partnerschaft vorstellen (wie die von Faust und Mephistopheles): ein großes Geschiebe, das einem die Illusion verschafft, man könnte bewegen, obwohl man selbst es ist, der oder die oder das bewegt wird. Dieser kleine Puppenwagen (ein Lob der Erfindungsgabe der Gegenwart, die jedes noch so sinnlose, unbrauchbare, überflüssige Ding in die Welt bringt, mit dem wir unser frühestes Dasein verlängern und an dem wir uns fleißig abarbeiten!), billiges Massenprodukt im Dienst einer ursprünglichen Freude, die wir nur mißverstehen und mißdeuten können. Immer noch glauben wir (du, ich), unser Baby würde bloß einen Puppenkinderwagen schieben, wir lachen über seine entzückende Einfalt, sein Jauchzen und Frohlocken und diese herrliche Verschwendung seiner Kraft. (Aber plötzlich macht unser Baby halt und lässt seinen Puppenwagen stehen. So plötzlich, unvermittelt, gedankenlos, dass wir schamhaft zurückweichen: fast verloschene Lust, Rückzug in die Glut, die still vor sich hin glimmt, bis was, ja bis was geschieht, die sie erneut anfacht? Genug Wagen und Welt bewegt. Pause. Stehend ruhen. So sind die Babys, so sind sie auch: Sie ruhen in sich, gänzlich ungeschoben.)

 

Das zweite Jahr – 20

20

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Kein Tag vergeht, an dem dieses Kind, unser Kind kein Glück wäre. Es muss nichts Besonderes tun, um uns das empfinden zu lassen. Wollten wir dieses Glück untersuchen, wüssten wir gar nicht, was untersuchen, wo anfangen mit dem Untersuchen. Dieses Glück ist ja nicht flüchtig, was uns die Voraussetzung für die Untersuchung der meisten Dinge zu sein scheint. Es ist so stark, beständig, zuverlässig – müsste es uns nicht leicht fallen, es zu ergründen? (Sich um sich selbst drehen macht unserem Baby Freude, und dann, im Schwung auf die Wiese stürzen, fallen, sinken. Es lacht auf der Erde, lacht mit den Grashalmen, den Gänseblümchen und dem schlanken Insekt mit den grün durchsichtigen Flügeln auf seiner Backe. Dann kommt es wieder hoch. Hände auf der Erde zwischen den Beinen, in die Hocke, in dieser Haltung noch ein paar Grashalme ausreißen, sich aufrichten und von neuem mit dem Drehen beginnen. Was es tut, macht uns glücklich, aber auch, wenn es nichts tut. Unser Glück kommt von unserem Baby, durch unser Baby, und irgendwie, schwer bestimmbar ist es ein anderes Glück als das, was von uns selbst kommt, durch uns selbst entsteht, durch dich oder mich.) Vielleicht hat es etwas mit dem Tod zu tun. Befand sich unser Baby anfänglich noch in dieser unverschämten Nähe zum Tod, ist er ihm nun gleichgültig, gleich gültig wie das Leben. Als wir die Treppe zur Kindergruppe hochlaufen, entdecken wir auf einem offenen Fenster im Dach, das in die Waagrechte gekippt ist, einen kleinen Hasen. Einen toten Hasen. Warm und weich ist das Tier, vom Himmel ist es gefallen, aus den Klauen eines Raubvogels vermutlich, aus dem schönen, wolkenlosen blauen Himmel ist es gestürzt, eine Beute, die ihren Tod versehentlich durch den Sturz gefunden hat. Kein Blut ist am warmen Hasenkind zu sehen, als wir es vorsichtig mit einem Stück Küchenkrepp vom Fenster heben. Wir spüren die Scheu, ein totes, eben gestorbenes Wesen mit bloßen Händen zu berühren; wir fürchten keine Krankheit, aber wie eine Krankheit die Übertragung des Todes durch direkte Berührung; jedoch unser Kind und all die anderen Kinder, die herbeikommen, wollen das Häschen anfassen, wie sie alles, was es gibt, anfassen wollen, ohne Zurückhaltung, ohne Furcht vor möglichen Folgen, ihrer ungeteilten Neugier folgend (oder ihrem Desinteresse, die das Häschen übersieht. Kommt es uns nur so vor, oder ist es wirklich so, dass in der einen Hälfte der Kinder das tote Tier Neugier weckt, die anderen Hälfte der Kinder ihm aber keinen Blick schenkt?). Leben und Tod, Tod und Leben, das Baby macht keinen Unterschied zwischen beiden, dieser Unterschied ist ihm nicht geläufig. Dieser Umstand kann seiner Unwissenheit zugeschrieben werden, besser aber wäre es, seine Unkenntnis hervorzuheben, die ein ungeheures Wissen in sich birgt: die Ungetrenntheit von Leben und Tod (die uns ein Rätsel ist und bleiben muss; andererseits, kennen wir den Unterschied zwischen Leben und Tod denn wirklich?) Was uns an unserem Baby als naiv erscheint (in unserer Todesfurcht, die so oft unser Denken und seine urteilende Lebenskontrolle lenkt), ist in Wahrheit eine merkwürdig bewußtlose (oder eine uns noch rätselhaftere bewußte) Weisheit, die vor keinem Unterschied halt macht. Wie könnte der Tod erschrecken, wenn er als nicht unterscheidbar vom Leben betrachtet wird? Wenn er gleichsam ein Phänomen des Lebens ist, auftaucht in der Gestalt eines vom Himmel gefallenen Häschens mit Genickbruch, und bald wieder genauso plötzlich verschwunden ist (auf dem Heimweg von der Spielgruppe suchen wir einen ruhigen Platz für den toten Hasen, unter einem dichten, niedrigen Busch. Wir bedecken ihn mit Blättern, sagen Tschüss und fahren weiter. Wie ein Freund ist dieser Tod, den wir für Augenblicke kennengelernt haben, aber uns jetzt aus unerfindlichen Gründen wieder von ihm trennen müssen. Wir werden noch ähnlichen Freunden begegnen, aber alles zu seiner Zeit). Der Tod: ein kleines Kind und den Tod zusammenzudenken, mutet ja fast absurd an. Ist doch die Lebenskraft des Kindes so ungeheuer groß, dass es fast wie der Überwinder des Todes erscheint. Si vero ad naturam animae et ad dispositionem, heißt es bei Thomas von Aquin, quae propter animam supernaturaliter humano corpori a principio indita fuit, est per accidens et contra naturam … der Tod ist nicht wesensnotwendig, ja wider die Natur … So scheint es zu sein: dass den kleinen Kindern die Unnatürlichkeit des Todes sichtbar ist, wohl weil ihre Seele noch in einer Weite zu Hause ist, die uns (und ihnen wird es ebenso geschehen) abhanden gekommen ist. So lässt sich die Dauerhaftigkeit des Glücks (das uns unser Kind durch sich spüren lässt) glaubhaft erklären: dank unseres Kindes nehmen wir gleichsam teil an der wesentlichen Seite des Lebens, der der Tod nicht mehr ist als ein Augenzwinkern, ein Klacks, ein Fleck, der sich selbst reinwäscht. Ist Das Erdbeben in Chili von Heinrich von Kleist nicht eine scheußliche Geschichte? Ein Paar, das sich nicht lieben darf, aber es dennoch tut, das ein Kind zeugt, Philipp, das den beiden Liebenden sofort entrissen und in ein Kloster verbracht wird, ein Erdbeben, das die  Strafen der Liebenden (die Mutter Josephe wird zum Tode verurteilt, der Vater Jeronimo in Haft genommen, wo er sich aus Verzweiflung erhängen möchte) zusammen mit dem Untergang Chilis zertrümmert, ihre Hoffnung auf Vergebung, da doch die Naturkatastrophe das gemeinsame Gute in den Menschen hervorgerufen zu haben scheint, ihre bittere Enttäuschung, als die Liebenden in einer Dankesmesse in der einzig unzerstörten Kirche neuerlich als die gotteslästerlichen Frevler und damit Verursacher des Erdbebens bezichtigt werden, und vom erregten, wütenden Mob schließlich erschlagen werden, Jeronimo sogar von seinem eigenen Vater. Ein Freund, Don Fernando, befand sich mit Josephe und Jeronimo in der eskalierenden Messe und auch sein kleiner Sohn Juan. Im allgemeinen Tumult und in der Blindheit der Wut des Mobs wurde ihm Juan bei den Beinen von seiner Brust gerissen, und, hochher im Kreise geschwungen, an eines Kirchpfeilers Ecke zerschmettert. Das Kind lag mit geplatztem Kopf auf dem Boden. Hierauf war es still, und alles entfernte sich. Eine sonderbare Ruhe kehrte ein und Don Fernando nimmt mit seiner Frau Philipp als Pflegesohn an. Diese Geschichte bildet ein unglaubliches Gleichgewicht ab: ein Kind stirbt, eines überlebt. Ein Kind wird getötet, ein Kind am Leben gelassen. Ein wenig rätselhaft heißt es am Ende: und wenn Don Fernando Philippen mit Juan verglich, und wie er beide erworben hatte, so war es ihm fast, als müßt er sich freuen.

DAS ZWEITE JAHR – 19

19

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Zwei Welten. Die Babywelt. Unsere Welt. Die Nähe zu unserem Kind täuscht uns sowohl über die Unverbundenheit dieser zwei Welten wie über ihre Verbundenheit. Wir wollen glauben, dass unsere Welt eine Art Zielwelt für das Baby ist. Dorthin! Sich dorthin entwickeln, werden wie wir, sein wie wir. Ahmt unser Kind uns nicht ständig nach? Aber woraus ahmt es uns nach? Aus welcher Welt heraus? Aus einer Welt, die unserer ganz und gar ungleich ist? Aus einer Nichtwelt? Natürlich glauben wir, in einer Welt zu leben, einer gemeinsamen (die unsere ist, nur unsere sein kann). Es ist die uns seit langem bekannte Welt, in der zu leben jedem Neuankömmling bevorsteht (oder sollen wir sagen droht? Aber das würde in die falsche Richtung weisen, denn wir sind ja liebende Eltern, die ohne Argwohn und schlechte Gedanken ihr Kind empfangen, mit offenen Armen und offenem Herzen! Trotzdem: diese, unsere Welt ist zumindest Drohung in dem Sinn, dass die Begegnung mit ihr, einmal geboren, unausweichlich ist, wer auf die Welt kommt, kommt auf unsere Welt und keine andere, hat keine Wahl). Die uns seit langem bekannte Welt, haben wir gesagt: kaum gesagt, schon fällt der Zweifel über uns her (der Zweifel ist wie ein Hund, der uns anspringt, sagen wir uns, er will nur spielen, mit uns spielen; lassen wir ihn spielen). Diese Welt, unsere Welt, sie kommt uns unbekannt vor, neu, frisch, wenn wir nicht mit den eigenen Augen sehen, nicht mit den eigenen Ohren hören. Wir hören das Läuten der Kirchenglocken mit den Ohren des Babys. Wir versuchen es, wir reaktivieren unsere Babyohren, es fällt uns leicht, also hören wir jetzt in einer Welt, was spielt es noch für eine Rolle, ob es unsere Welt ist oder die des Babys. Möglich, dass die Welt unseres Babys eine oberflächliche Welt ist oder die Welt der Oberfläche oder die Welt, die nur Oberfläche ist. In einem Salute to Carolee Schneemann schreibt der Filmemacher und Schriftsteller Jonas Mekas kurz und knapp: So much has been said about the „essence“ of things and men that you`ll forgive me if I say a few words in praise of the surface. (Nein, es ist kein Experiment in der reichen Stadt, es ist Zufall. Im Museum der Moderne auf dem Mönchsberg stolpern wir in eine Carolee Schneemann Werkschau: ohne Absicht, nur, weil es regnet und wir nicht draußen sein können, nur, weil wir auf jede Ausstellung, die uns über den Weg läuft, neugierig sind, oder einfach nur so. Gibt es eine Verwandtschaft der Oberflächlichkeit dieser Kunst mit der oberflächlichen Welt unseres Babys? Ein kurzer Schrei klärt über die Unverwandtschaft auf. Obwohl wir die blutigen, saftigen Bilder sich wälzender Körper meiden und nur die harmlosen Objekte betrachten, war nie ein größeres Unwohlsein unseres Babys spürbar als in dieser Ausstellung. Wir haben unverantwortlich gehandelt, haben einen Moment geglaubt, die Welt der Kunst könnte der Welt des Babys zumindest ähnlich sein, besonders die Welt der oberflächlichen Kunst. Keine Welt, erkennen wir jetzt, könnte der Babywelt unähnlicher, fremder, geistesunverwandter sein als die Welt der Kunst. Selbst wenn der Blick der Kunst ein naiver sein sollte, gibt es keine Verwandtschaft. Unser Baby blickt nie naiv. Den frommen Wunsch der Kunst nach reinem, unverstelltem, offenem, spitzfindigem, ursprünglichem, eigentlichem Blick teilt das Baby nicht im Geringsten. Die Welt der Kunst, müssen wir zugeben, ist unsere Welt, die Welt des Babys ist kunstfern, kunstfrei, kunstlos.) Zwei Welten. Jonas Mekas sagt: I`am only celebrating what I see. Was uns sympathisch ist, ist unserem Baby gleichgültig. Es feiert nicht. Sein Jauchzen beim Anblick der Tauben, die auf ein hingeworfenes Stückchen Brot eilig zutrippeln, gilt vielleicht nur diesem komischen Anblick der Vögel, die ihre irdische Höchstgeschwindigkeit so deutlich sichtbar erreicht haben, und dennoch kaum einen Flügelschlag riskieren, der sie erheblich schneller zum Brot bringen würde. Oder unser Baby jauchzt nur deshalb, weil es im Brotwurf seine Kausalität entdeckt und den Zusammenhang Brot-Taube, der verblüfft und erheitert. Aber es feiert nicht, wendet sich ab mit der gleichen Plötzlichkeit, mit der sich die Tauben abwenden, obwohl das Spiel noch nicht zu Ende ist und auch wenn es zu Ende ist. (Und gleich wieder bellt uns der Zweifel an. Nur zu gerne würden wir unser Baby in unser Bewußtseinsboot ziehen und mit ihm auf dem Fluß der Zusammenhänge uns mal treiben lassen, mal unser verständiges Padel auspacken, um dahin und dorthin steuern. Uns davon abzuhalten, unsere beiden Welten zu verknüpfen, ist wirklich unmöglich.) Ein Gewinn lockt uns, auf den beiden Welten zu bestehen. Die Welt des Babys ist nicht unsere Welt und unsere Welt ist nicht die des Babys, rufen wir wiederholt, weil wir den Gewinn deutlicher hervorlocken wollen. Denken wir nur an unsere Welt, bleibt uns nur der Verlust (oh doch, wir mögen unsere Welt, machen uns aber nichts vor: nur unsere Welt ist Verlust). Wollten wir nur auf der Welt des Babys bestehen, als  einziger Welt (was wir gar nicht könnten), als der Welt, die wir verloren haben (schon wieder Verlust, kaum neigen wir uns einer Seite zu: Verlust), wäre das Rätsel ungleich größer. Beide Welten sind ein Rätsel, die Welt des Baby, unsere Welt. Und dass es zwei Welten sind, ist ein Rätsel. Die Lösung liegt natürlich in der Verbindung, die wir, nein, nicht abstreiten, aber zurückhalten. Die Verbindung kann keine einfache sein, das ist uns klar: sie kann nicht so sein, dass es uns möglich wäre, sie zu verstehen. Wir müssen uns den Unverstand gestatten und doch nicht aufhören, die beiden Welten zu verbinden. Sieh, sagen wir, dort ist unser Baby in seiner Welt. Ohne seine Welt wäre unsere verloren. Traurig, aber wahr: seine Welt braucht unsere Welt nicht. Aber unser Baby braucht uns, wie wir unser Baby brauchen. Diese zwei Welten sind nur deshalb zwei Welten, weil sie nicht eine sind. Wenn sie eine wären, wären sie nicht zwei und es gäbe keine Babys. Mein Gott, rufen wir (es ist uns so herausgerutscht), das Baby ist doch unser Meister! So ist es auf die Welt gekommen: als unser Meister. Nur auf welche Welt? Doch nicht auf seine eigene! (So geht es eine Zeitlang dahin, während unser Baby an diesem regnerischen Tag in ein merkwürdiges Schlendern verfällt und, es mag glauben, wer will, nach einigem Herumwandern tatsächlich und erstaunlich vorsichtig Martin Heideggers Sein und Zeit aus dem Bücherregal zieht und vor sich auf den Boden legt. Es ist der Band mit dem verfärbten Umschlag, irgendwie hat die Sonne über die Jahre das ursprüngliche Braun des Umschlags – am Buchrücken besonders deutlich – in ein helles Pistaziengrün verwandelt, verschoben, verzaubert, entzaubert, als wäre Grün die eigentliche Farbe des Buches. Und es mag auch glauben, wer will, unser Baby schlägt das Buch – es ist sein erster Versuch – im vorderen Drittel auf und deutet dann wie wild mit dem Zeigefinger auf diese Stelle: Und wenn die Frage nach der „Welt“ gestellt wird, welche Welt ist gemeint? Weder diese noch jene, sondern die Weltlichkeit von Welt überhaupt. Und zum Dritten mag es glauben, wer will, nach seiner wilden Deuterei, schlägt es das Buch wieder zu und trägt es zu dir, übergibt es dir mit harscher Entschiedenheit und gibt dir deutlich zu verstehen, dass du es einfach nur festhalten sollst. – Später am Abend sagen wir uns, im Grunde leben wir doch alle wie aus einer Höhle, aus einer verborgenen Babywelt heraus unser Leben. Und dann sagen wir, es soll doch bitte nie aufhören mit dem Baby und seiner Meisterschaft, aber es wird irgendwann aufhören – oder? -, es sei denn … Oder ist es noch zu früh, an ein weiteres Baby zu denken? Seltsam, dass die Menschen bei uns sich auf ein, zwei, drei Nachkommen eingeregelt haben, aber vielleicht braucht man nicht mehr als ein, zwei, drei Meister in einem Leben.)