110

Wir können keine Hilflosigkeit an unserem Baby beobachten (oft genug hören wir von der Hilflosigkeit der Babys reden, wie von einer Selbstverständlichkeit, einer allgemeinen Wahrheit, doch diese Rede kommt uns nur vor wie der Ausdruck einer Hilflosigkeit). Ist das Baby einmal hilflos, ist dies immer auch und zugleich unsere Hilflosigkeit. Sind doch wir drei (das Baby, du, ich) ein Gefüge. Denn alles, was einem in einem Gefüge geschieht, geschieht allen. Und alles, was allen in einem Gefüge geschieht, ist nicht länger das, was einem allein geschieht. (Dies ist nun unser hilfloser Versuch uns zu erklären, dass die Hilflosigkeit niemals zu beobachten, sondern immer ein Dazugedachtes ist: In Wirklichkeit ist die Hilflosigkeit selbst das Dazugedachte.)

We cannot discern any helplessness in our baby (often enough we hear talk of the helplessness of babies, as if this were a universal, self-evident truth, but such talk only strikes us as an expression of helplessness). If the baby is ever helpless, it is always also and at the same time our helplessness. After all, the three of us (the baby, you, I) are joined together as one. For whatever happens to any one joined with others as one, happens to all. And whatever happens to all who are joined together as one is no longer what happens to one alone. (This now is our helpless attempt to explain to ourselves that helplessness can never be observed but is always imputed. In reality helplessness itself is what is imputed.)

109

Irgendetwas zieht uns in die Kirchen (wir sehen viel mehr Kirchen als früher, als wir ohne Baby reisten). Das Baby füllt die Kirche, ganz anders als wir, die wir uns dort verschwindend vorkommen (und ganz anders als die Touristen, die Kirchenliebhaber, selbst als die Gläubigen und Priester). Einmal legen wir vor dem Hochaltar unser Baby ab, geblendet von goldenen Strahlen, zwischen denen Engelsköpfchen schwirren, geblendet von der Madonna im goldenen Gewand, auf deren Schoß unser Baby sitzt, die rechte Hand zum Segen erhoben (wir vergessen zu denken, unser Baby kann noch gar nicht sitzen). Dann hören wir die Stimme des Babys, von dort oben auf uns herab fallend: kommt, lasst uns weiter ziehen.

Something is drawing us into the churches (we see many more churches than we used to when we traveled without a baby). The baby fills the church very differently from us who feel dwarfed there (and utterly unlike the tourists, the church lovers, even the believers and the priests). At one point we deposit the baby in front of the high altar, dazzled by the golden rays with little angels’ heads whirring among them, dazzled by the Madonna in her golden garment, on her lap our baby with his right hand raised in a gesture of blessing (we forget that our baby can’t sit up yet). Then we hear the baby’s voice coming down to us from above: Come, let us move on.

108

Was hat unser Baby vor einem Monat gemacht? Wir wissen es nicht mehr. Befragen unsere Aufzeichnungen, Bilder, Filme – aber sie helfen uns nicht. Sie bestätigen uns nur darin, dass wir es vergessen haben. Dass das, was wir erinnern, nichts mit dem zu tun hat, was an diesem einen Tag vor einem Monat geschah. Alles verloren, jammern wir, verloren das Echte, verloren der ganz besonderen Moment. Gerührt blicken wir auf das Baby (das Stück Banane, halb in seinem Mund, halb außerhalb seines Mundes, im silbernen Speichelglanz), vernehmen das zeitlose Gefühl des Augenblicks und schwören uns (unter großem Gelächter): nie werden wir diesen Moment vergessen!

What did our baby do a month ago? We longer know. We consult our notes, photos, films – but they don’t help us. They only confirm our forgetting. For what we remember has nothing to do with what happened on that one day a month ago. It’s all lost, we lament, the genuineness, that utterly special moment, lost. Moved, we look at the baby (the piece of banana half inside, half outside his mouth, in a silver gleam of saliva), notice the timeless quality of the moment, and swear (while laughing out loud): never will we forget this moment!

107

Und das Baby? (Unsere Fragerei erwidert es mit Aufmerksamkeit. Die gleiche Frage gefällt ihm. Dem Wohlklang unserer Stimmen scheinen unsere Wiederholungen nichts anhaben zu können. Mit Bewunderung und ohne Lidschlag lauscht es ihnen. Ihr wollt euch selbst verzaubern, sagt es mit den Augen. Ihr versteht euch viel viel besser, wenn ihr euch wiederholt. Hier bei mir, an meinem Ort, könnt ihr euch am besten wiederholen. Jeder Zauber braucht Wiederholung. Und das ist es doch, was ihr sucht: Zauber.)

And the baby? (Our constant questions elicit his alert attention. He appreciates the question. Our repetitions don’t seem to have impaired the melodiousness of our voices. He listens with admiration and without batting an eye. You are trying to cast a spell on yourselves, he says with his eyes. You understand yourselves much, much better when you repeat yourselves. Here, where I am, is the best place for you to repeat yourselves. Every magic spell needs repetition. And that is what you are looking for isn’t it? Magic.)

106

Und das Baby? (immer wieder fragen wir: und das Baby? Es ist unsere liebste Frage, wir stellen sie jeden Tag vielmals, mit nicht nachlassender Neugier. Es ist geradezu so, als würde diese Frage, einmal gestellt, sofort ihre Wiederholung erregen und als würde jede Antwort auf diese Frage sofort anraten, sie neuerlich zu stellen. Wir können uns nicht satt fragen an dieser Frage, wir wollen uns nicht satt fragen an dieser Frage. Genau so: wir können uns nicht satt hören an der Antwort auf diese Frage, wir wollen uns nicht satt hören an der Antwort auf diese Frage. So fragen wir wieder und wieder: Und das Baby?)

And the baby? (again and again we ask: and the baby? It is our favorite question, we ask it many times every day, with unremitting curiosity. It’s almost as if the question prompts its own repetition as soon as it is posed, and as if every answer to the question immediately suggests that we ask it again.  We cannot get our fill of this question and don’t want to get our fill of this question. In the same way: We cannot get our fill of the answer to this question and don’t want to get our fill of the answer to this question. So we ask again and again: And the baby?)

105

Mit dem Baby sein und keinen Gedanken haben. Kurze Unruhe, die mich anstiftet absichtlich zu denken (das Ergebnis steigert meine Unruhe). Mein Versuch, absichtslos zu denken mißlingt ohne Verzögerung. Ratlos folge ich einem kratzenden Geräusch. Das Baby schabt mit den gebogenen Fingern (seine Nägel müssten geschnitten werden) über den grauen Stoff des Sofas. Ausdauernd bearbeitet es das Gewebe, blickt aber nie in die Richtung seines Tuns. Ihm jetzt dabei zu folgen, scheint mir zu einfach. Ich warte ab.

Being with the baby and not having a thought. A brief disquiet impels me to think on purpose (the effect is to increase my restlessness). An attempt to think without purpose fails without delay. At a loss, I attend to a scraping sound. The baby is scratching the gray material of the couch with his bent fingers (he needs to have his nails cut). He persists in scraping he fabric, but never turns his gaze to what his fingers are doing. To follow him in this activity seems too simple to me. I’ll wait and see.

104

Unter Frauen. Wie anders ihr nun seid (du, die anderen Frauen), mit den Babys an der Brust, auf dem Arm, im Schoß. Als würde das, was in euch gewachsen ist, auch nachdem ihr geboren habt, weiter in euch wachsen (während das Baby draußen, in der Welt euer Wachstum mit seinem eigenen begleitet). Wie anders ihr nun seid! Aber nur uns, euren Männern, ist dies sichtbar: es ist unser Schwelgen im Üppigen.

Among women. How different you are now (you, the other women), with babies at your breasts, in your arms, on your laps. As if that which grew inside you continues to grow within you after you have given birth (while the baby outside, in the world, accompanies your growth with its own). How different you are now! But this is only visible to us (to me, to the other men) who revel in this luxuriance.

103

Ein Fest. Alle Kinder sind da. Große und kleine. Es ist warm. Wir sind draußen. Heute ist jeder sichtbar. Alle huldigen dem Baby. Die kleinen Kinder streichen seine Wangen, seinen Kopf, seine Füße. Dann laufen sie wieder weg und herum. Die großen Kinder halten seine Hand, zeigen ihm etwas, reden mit ihm, erzählen ihm etwas. Dann laufen sie wieder weg und herum. Später machen die kleinen Kinder, was die großen Kinder machen, und die großen Kinder machen, was die kleinen Kinder machen. Manche küssen seine Füße und blicken glücklich auf, als hätten sie ein Geschenk erhalten. So vergeht der Tag. Alle huldigen dem Baby. Dann laufen sie wieder weg und herum.

A party. All the children are there. Big ones and little ones. It’s warm. We are outside. Today each person is visible. Everyone pays homage to the baby. The little children stroke his cheeks, his head, his feet. Then they run again, away and around. The big children hold his hand, show him something, talk to him, tell him something. Then they run again, away and around. Later the little children do what the big children do, and the big children do what the little children do. Some of them kiss his feet and look up happily as if they had received a present. That is how the day goes by. Everyone pays homage to the baby. Then they run again, away and around.

102

Der Babybauch. Ein Bäuchlein, das keine Zurückhaltung kennt. Das ganze Leben findet im Bauch statt, sagen wir uns und versuchen unseren Bauch freizugeben (du deinen, ich meinen). Es fällt uns schwer; in unserer Bauchgewohnheit (ihn einzuziehen, ihn zu hindern in die Weite zu atmen) stehen wir in einer ehernen Tradition. Aber jetzt, mit diesem Lehrer, mit diesem Baby, brechen wir mit dieser Tradition. Es ist ein Vergnügen! Wir tun es dem Baby gleich und greifen mit dem Bauch nach den Sternen. Alles, was fortan in uns eingeht (übers Auge, Ohr, durch den Mund) wird sogleich in den Bauch geschickt. Essen, denken, hören, sehen, fühlen – dort im Bauch versammelt sich alles, um dem Babybauch zu huldigen, dem Bauch der Bäuche. Dann sehen wir weiter.

The baby’s belly. A belly that knows no holding back. All of life takes place in the belly, we tell ourselves, and try to release our belly (you yours, I mine). It is difficult for us; in our belly habits (pulling it in, not letting it expand with the breath) we stand in an iron tradition. But now, with this teacher, with this baby, we are breaking with this tradition. It is a delight! We do as the baby does and reach for the stars with out belly. From now on, everything that enters us (through the eye, ear, or mouth) is immediately sent to the belly. Eating, drinking, hearing, seeing, feeling – there, in the belly, everything gathers to pay homage to the baby’s belly, the belly of bellies. We’ll see what comes next.

101

Klein sein wie das Baby. Es hat die richtige Größe. Wie es dort in der Welt liegt, immer mittig. Wie anders wir. Wir sind so groß, so groß, zu groß. Bewegen wir uns auf die Mitte der Welt zu, geraten wir sogleich ins Stolpern. Dumm wird es, wenn wir sogar größer als die Welt sind. Wenn wir jede Dimension sprengen (und von welcher Tat versprechen wir uns mehr?). Also denken wir, wir sind zu groß. Durch unsere Größe entgeht uns das Größte. (Es ist die kleine blaue Socke mit dem Angry Bird, die dem Baby eben vom Fuß gerutscht ist.)

To be small like the baby. He is the right size. The way he lies there in the world, always in the middle. How different we are. We are so big, so big, too big. As soon as we approach the middle of the world, we stumble. It gets even more stupid when we are bigger than the world. When we burst through all dimensions (and is there a deed that holds more promise for us?) So we think we are too big. Because of our size, we miss the greatest of all. (It’s the little blue sock with the Angry Bird that just slipped off the baby’s foot.)