DAS ZWEITE JAHR – 38

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38

Gegen was tauschen wir dich ein, kleines Baby? Du wächst und wächst, aber wohin, in was hinein, zu was heraus?

An die Macht? (In der Tageszeitung sehen wir auf der ersten Seite eine Babyfaust. Darüber die Zeile: Kinder an die Macht. Das Bild zum Text ist sonderbar wüst. Die rosige, hoch gereckte Faust vor schwarzem Hintergrund: – als Faust scheint sich hier die Macht aus der Schwärze herauszuheben, um sich durchzusetzen in der lichten Welt, um zuzuschlagen. Da die Faust zum Greifen, Festhalten, Behüten völlig ungeeignet ist – wie könnte sie da zur Macht geeignet sein? Selbst zum Zerstören taugt sie nicht besonders, höchstens für die gröbsten Arbeiten. Der Faust des Babys fehlt es obendrein an Spannung, es ist eine in sich ruhende Faust, die sich Tag für Tag mehr zur Hand entfaltet, einer sich langsam der Welt nähernden Hand, die sich ihrer nicht bemächtigen will, auch wenn sie gerne zupackt. Auch wenn sie eine Stunde lang eine Kastanie, einen Stein, ein Keks halten kann, wie kein Erwachsener eine Kastanie, einen Stein, ein Keks halten kann, vergisst diese Faust nie, sich wieder zu öffnen. – Die Kastanie, der Stein, das Keks sind hinterher durchgewärmt in einer Art, in der sonst nur noch die Sonne in der Lage ist, etwas durchzuwärmen: das ist die Faust des Babys.)

Don deLillo lässt in Zero Null eine sterbende, vielleicht schon gestorbene Frau sagen: … Wo bin ich. Was ist ein Ort. Ich kenne das Gefühl eines Irgendwo aber ich weiß nicht wo das ist … Was ich verstehe kommt von nirgendwo. Ich weiß nicht was ich verstehe bis ich es sage … Ich versuche jemand zu werden … Einiges weiß ich fast. Ich denke gleich werde ich etwas wissen aber dann kommt es doch nicht dazu … (Das Denken ist unsichtbar, die Wörter sind unsichtbar. Die Sprache ist unsichtbar. Später, wenn unser Baby, nicht mehr Baby, einmal wird schreiben und lesen können, wird es um so besser schreiben und lesen können, um so mehr es sich nicht von der Sichtbarkeit wird täuschen lassen. Das Denken hat viel mehr mit dem Hören zu tun, als mit dem Sehen. Um das zu erfahren, sollte unser Baby nicht bis zum tödlichen Ende warten. – Unser Baby weigert sich in meine Augen zu blicken, als ich ihm verbiete, es versuche, die guten Bücher aus dem Regal zu ziehen. Wenn ich so etwas sage, will es mich nicht sehen. Es ist so mächtig, dass es mich aus seinem Blick verbannen kann. Gesunde Macht, die ich mir stolz gefallen lasse. Aber die guten Bücher ….)

Wohin verwandelst du dich, wohinein? Woheraus? Manchmal steht unser Baby da, tagelang kommt uns vor, am gleichen Fleck, keine Veränderung, keine Entwicklung, keine Verwandlung. Das ist am unbegreiflichsten. (In diesen Momenten, Stunden, Tagen gleicht es uns. Wir könnten meinen, es würde uns damit in Schutz nehmen vor all unseren – unerfüllten – Wünschen nach Veränderung. Doch nichts liegt ihm ferner.)

Du bist Natur? (Natur! Wir sind von ihr umgeben und umschlungen – unvermögend aus ihr herauszutreten, und unvermögend tiefer in sie hineinzukommen … Sie schafft ewig neue Gestalten, was da ist war noch nie, was war kommt nicht wieder … Wir leben mitten in ihr und sind ihr fremde. Sie spricht unaufhörlich mit uns und verrät uns ihr Geheimnis nicht. Wir wirken beständig auf sie und haben doch keine Gewalt über sie … Sie scheint alles auf Individualität angelegt zu haben und macht sich nichts aus den Individuen … Sie lebt in lauter Kindern, und die Mutter, wo ist sie? – Goethe – Unser Mann. Du bist wie die Natur. Du bist wie Natur. Du bist Natur.)

Es ist vielleicht eigennützig, aber wieder trage ich unser Kind durchs Museum. Ein paar Bilder nur. Doch Bilder sind ihm zuviel. Bild an sich ist zuviel. An einem Bild lässt sich nichts Flüssiges finden, nichts Bewegliches, nichts Durchsichtiges. Bilder sind Bilder. Wir rasten vor Joseph Karl Stielers Goethe-Porträt. Dass Goethe den Blick von den Gedichten eines Königs, die seine rechte Hand hält, zur Seite hin abwendet, scheint mir ein gutes Zeichen zu sein. Unser Baby findet überhaupt nichts an diesem Bild, es ist fast so, als würde es das Bild nicht sehen, als könnte es überhaupt Bilder nicht sehen. Dann aber der Ruf zu Goethe hinauf: Opa!

Die Frage ist falsch. Unser Baby wächst in nichts hinein, zu nichts heraus. Es ist eben Natur, ohne Gestalt, ohne Ende. Sogar ohne Form. Es ist nur ein ähnlicher Mensch. Schon hunderte Male hat es sich gewandelt. Dieser Eindruck rührt nicht von seinen neu erworbenen Fähigkeiten her, es ist eher etwas Atmosphärisches zwischen uns. Natürlich wollen wir an den Charakter unseres Kindes glauben, an seine Individualität und Erkennbarkeit. Ein nötiger Glaube, der uns aber nicht den Blick auf das rätselhafte Wesen verstellt, das sich täglich neu erschafft. Das uns vollkommen fremd ist und uns vielleicht deswegen mit soviel Wärme, Vertrauen, Innigkeit entgegenströmt. So können wir zu unserem Baby nicht sagen: du bist der und der. Wir könnten zu uns sagen: So ein Baby ist gut erfunden.

What are we exchanging you for, little baby? You are growing and growing, but what are your growing into, or out to? What are you coming to?

Power? (On the first page of today’s newspaper we see a baby’s fist. Above it a statement: Power to the children. The picture is weirdly wild. The rosy fist, raised high, against a black background: — here power seems to rise as a fist from blackness to strike a blow at the light-filled world. Since a fist is utterly incapable of grasping, holding, or protecting – how could it be capable of power? It’s not even particularly well equipped for destruction; at best it can manage the crudest sorts of work. A baby’s fist, moreover, lacks tension; this fist rests within itself, developing more and more into a hand as the days pass, a hand that approaches the world gradually, and that does not want to take possession of it, though it does like to grip and grab. Even though it can hold a chestnut, a stone, a cookie for a full hour, in a way that no adult can hold a chestnut, a stone, or a cookie, this fist never forgets to open out again. Later the chestnut, the stone, the cookie are warm through and through, in a way that only the sun can warm a thing through and through: such is the baby’s fist.)

In his novel Zero K, Don Delillo has a dying, perhaps already deceased woman say: . . . Where am I. What is a place. I know the feeling of somewhere but I don’t know where it is. . . What I understand comes from nowhere. I don’t know what I understand until I say it. . .I am trying to become someone. . . I almost know some things. I think I am going to know things but then it does not happen. . . (Thought is invisible, words are invisible. Language is invisible. Later, when our baby, no longer a baby, will be able to write and read, he will be able to write and read all the better the more he succeeds in remaining undeceived by what is visible. Thought has much more in common with hearing than with seeing. To realize this, our baby should not have to wait until the deadly end – Our baby refuses to look into my eyes when I forbid him to pull the good books from the shelf. When I say something like that, he does not want to see me. He is so powerful that he can banish me from his sight. A healthy power, which I gladly put up with. But the good books . . .)

Where is your transformation taking you, what are you changing into, and out from? Sometimes our baby stands there, for days, it seems to us, on the same spot, no change, no development, no transformation. This is the most incomprehensible thing. (At such moments, hours, days, he resembles us. We could be tempted to think that in this way he wants to protect us from our – unfulfilled – desires for change. But nothing could be further from his mind.)

You are nature? (Nature! We are surrounded, engulfed by nature, incapable of leaving it, and incapable of penetrating more deeply into her depths . . . She creates eternally new forms, what is has never before existed, what was will never come back again . . . We live in her midst and yet are strangers to her. She speaks to us incessantly and does not reveal her secret to us. We constantly impinge upon her and yet have no power over her . . . She seems intent on individuality and does not care for individuals . . . She lives in countless children, but the mother, where is she? – Goethe – our man. You are like nature. You are like Nature. You are Nature.)

It may be self-serving, but once again I am carrying our child through the museum. Just a few paintings. But paintings are too much for him. A painting, any painting, is too much. There’s nothing fluid in a painting, nothing in motion, nothing transparent. Paintings are paintings. We halt in front of Joseph Karl Stieler’s portrait of Goethe. The fact that Goethe’s gaze is turning away from the poems by a king which his right hand is holding strikes me as a good sign. Our baby finds nothing in this picture at all, it’s almost as if he doesn’t see the picture, as though he is incapable of seeing any pictures. But then, looking up at Goethe, he calls out: Grandpa!

The question is wrong. Our baby isn’t growing into anything, out to anything. He is simply Nature, without structure, without end. Even without form. He is merely a similar human being. He has already changed hundreds of times. This impression has nothing to do with his newly acquired abilities, it is more like an atmosphere between us. Of course we want to believe in the character of our child, in his individuality, his recognizability. A necessary belief, which however does not occlude our view of the mysterious being who creates himself anew each day. Who is a complete stranger to us and perhaps for that reason streams so much warmth, trust, and tenderness in our direction. Thus we cannot say to our baby: you are this or that person. We could say to ourselves: A baby like this is well invented.

DAS ZWEITE JAHR – 37

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37

Das Unglück der Anderen ist kein Märchen. Und doch trägt es ähnliche Züge. Schon deshalb, weil wir es nicht sehen können. Nicht sehen können, selbst, wenn wir es sehen. Und weil wir nicht wissen, ob wir ihm zurecht diese Bezeichnung geben dürfen: Unglück. Wir denken: das ist das Unglück. Genauso verwegen, anmaßend, vorschnell urteilen wir manchmal: das ist das Glück. Wir suchen das Unglück außerhalb von uns. Tatsächlich suchen wir es, eine leichte Suche, die schnell fündig wird. Es gibt soviel Unglück und überall. Das Glück ist seltener. Lässt es sich in uns finden, geschieht es plötzlich. Ebenso plötzlich wie es wieder verschwindet. Das Unglück ist beständiger. Es sitzt mit großer Ausdauer auf der Straße. Auf der Straße, die wir mehrmals die Woche entlanglaufen. Unsere wichtigeste Einkaufsstraße. Unsere Unglücksstraße. Dort und dort sitzt das Unglück und kann sich nicht wehren. Will sich nicht wehren. Es will nur da sitzen und auf eine Geste der Vorübereilenden warten. Wir können nicht vorübereilen. Unser Baby läuft auf dieser Straße gerne selbst, aber sein Laufen ist, nein, kein Schleichen, es ist schon Laufen, ein langsames Laufen, es ist kein Gehen, eher ein Laufen wie im Traum, wenn man nicht an den Menschen, Dingen und Häusern vorübergeht, sondern durch sie hindurch gleitet oder wenn die Menschen, Dinge, Häuser an einem vorbeiströmen, einen warm umspülen, sich aber nicht greifen lassen, dann aber, bleibt man vor einem Menschen, Ding, Haus stehen überdeutlich sichtbar werden. Unsere Augustenstraße (benannt nach einer, wie es heißt, wunderschönen Prinzessin) ist so: dort, wo wir sie entlanglaufen, sind die Häuser einfach und die Farben ihrer Fassaden hinter einem Grauschleier (der ganz gewiß kein Schleier ist) verborgen. Die Straße ist eng und laut und voller Betrieb. Eine ausnehmend lebendige Straße, nichts in dieser Straße scheint nicht zu leben; der Dreck auf den schmalen Grünstreifen, der die Straße von Geh- und Fahrradweg trennt, ist lebendig, der schmale, verbeulte Himmel über der Straße ist lebendig, jeder abgegriffene Türgriff zu den unzähligen Läden ist lebendig. Manchmal denken wir, in dieser Straße gibt es nur Leben, nichts als Leben; sind wir hier unterwegs, denken wir, was sollte es außer dem Leben schon noch geben? Die Bettler gehören zu dieser Straße, zu unserer Straße, gehören zu uns, das Unglück gehört zu uns. Das Unglück ist seßhaft. Immer sind es die gleichen Bettler vor den gleichen Läden, seitlich der Türen sitzen sie, manche knien, ein einziger (der mit dem Stock) steht (ein eigenartiges, in den Raum ragendes Stehen ist es). Jeder Bettler hat einen Becher dabei. Die meisten einen weißen Plastikbecher, andere einen Coffee-to-go-Becher, nur der stehende Bettler hat einen Metalldeckel umgedreht als Schale auf der geöffneten Hand liegen. Kein Bettler streckt die nackte Hand nach den Vorübergehenden aus. Die Becher stehen auf dem Boden, immer befinden sich nur ein paar Münzen in ihnen, meist sind es nur Centmünzen. Manchmal bleibt unser Baby stehen bei den Bettlern (so wie es überall verharren kann), wirft eine Münze, die wir ihm gegeben haben, in den Becher, aber auch wenn es keine Münze hineinwirft, lächelt der Bettler es an, wie er die erwachsenen Menschen nie anlächelt. Da unser Baby keinerlei Argwohn gegen die Bettler hegt (wie es überhaupt noch keinen Argwohn gegen irgendwen hegt), wollen wir uns auch darin üben (obwohl es sehr leicht ist, einen Bettler zu verdächtigen, niemand lässt sich leichter verdächtigen als ein Bettler, einem Bettler könne wir Unlauteres und Unehrenhaftes unterstellen, das stellt sich wie von selbst ein). Wer Gewalt und Unrecht tut, muss zuletzt ein Bettler werden, heißt es bei Jesus Sirach, ein Spruch, der die Jahrhunderte überdauerte, wie der Bettler die Jahrhunderte überdauerte (so verhält es sich mit dem Märchen und dem Bettler: beide sind niemals vergangen; der Bettler ist alt, gegenwärtig, ewig wie das Märchen. Eine Zeitlang, eine Woche, ein Jahrzehnt scheint der Bettler verschwunden, vergessen, dann taucht er wieder hinter der nächsten Straßenecke auf). Hat unser Bettler, der in unserer Unglücksstraße sitzt etwa Gewalt und Unrecht getan? (Fragen wollen wir ihn nicht, und könnten es auch nicht, seine Sprache ist uns unverständlich wie unsere ihm unverständlich zu sein scheint.) Büßt unser Bettler? (Kurz denken wir, am Ende wartet auf jeden von uns die Bettelei; sie ist der letzte Zustand, den eine einzelne Seele erreicht, bevor sie ganz in ihrer Unsterblichkeit verschwindet. – Vielleicht empfinden wir deshalb, wie alle an den Bettlern Vorübergehenden, Scheu vor ihnen.) Nein, unser Bettler büßt nicht. Er bettelt. Warum bettelt er? Weil er bettelt! (Vor wenigen Tagen ist unser Baby mit seiner Laterne mit den anderen Kindern von der Kirche – an der die Augustenstraße ihr Ende findet – losmarschiert. Lichtergewackel und große Erregung. Es gab ein Pferd zu sehen – unser Baby behauptete am nächsten Tag, das Pferd sei aus der Kirche gekommen – und auf dem Rücken des Pferdes saß der heilige Martin. Das Pferd war ein hochgewachsener Schimmel, der Mann in der Rüstung war schlank und ebenfalls hochgewachsen. Wie bei El Greco sah das aus, auf dem berühmten Bild, bei dessen Betrachtung ich im ersten Augenblick immer denke, das kann doch nur ein Dilettant sich ausgedacht, gemalt haben, um gleich danach zu denken, dieses Bild stammt von einem großen Meister, einem Genie. Leuchtend grün ist der Mantel, der Umhang, den der Ritter mit dem Bettler teilt, diesem schönen nackten Mann mit der Verletzung am Schienbein, nachlässig mit weißem Tuch verbunden. Schön ist auch der Ritter, die Teilung, das Pferd – ein ruhiges Bild, so ohne Eile wie nur die Malerei es darstellen kann, wie überhaupt diese Malerei der Eile jeden Raum verwehrt. Die Betrachtung der Bilder kommt uns jetzt lebensnotwendig vor, und mit diesem Eindruck sahen wir an jenem Sankt Martinstag auf unser groß gewordenes Baby, dessen Augen sich in ihrem Schauen nicht mehr bewegten, in der Zeitlosigkeit gebannt von dem Pferd und dem Reiter und dem Bettler und den Laternen und dem Feuer. Unser Baby, dieses Märchen.)

The misfortune of others is not a fairytale.  And yet it has similar traits. For one, because we cannot see it. Cannot see it even when we see it. And because we don’t know if we are justified in giving it this name: misfortune. We think: that is bad luck. It is just as reckless, presumptuous, premature when, sometimes, we decide: that is good luck. We seek misfortune outside ourselves. We do in fact seek it, an easy search that hits pay dirt quickly. There is so much misfortune everywhere. Good fortune is rarer. If it can be found in ourselves, it happens suddenly. Just as suddenly as it disappears. Misfortune is steadier. It sits on the street with tremendous persistence. The street we walk on several times every week. Our most important shopping street. Our street of misfortune. There and there, misfortune sits and cannot defend itself. Does not want to defend itself. It wants only to sit there, waiting for a gesture from the people hurrying past. Our baby himself likes to run on this street, but his running is — no, not a slinking or moseying along, it’s a run, but a slow run, not a walk, more like running in a dream when you’re not passing people, things, and houses but gliding through them, or when people, things, and houses flow past you and swirl around you like a warm current, ungraspable, but then, the moment you stop in front of a person, thing, or house, it becomes preternaturally visible. Our street, Augustenstrasse (named after a princess who is said to have been marvelously beautiful) is like that: In those parts of it where we walk, the houses are simple and the colors of their facades are concealed behind a veil (which is definitely not a veil) of gray. The street is narrow and loud and bustling. An exceptionally lively street, there is nothing here that does not seem alive; the dirt on the narrow grass verge that separates the street from the pedestrian and bicycle path is alive, the narrow, dented sky above the street is alive, every worn door handle leading into the countless stores is alive. Sometimes we think that in this street there is only life, nothing but life; going about our business here, we think, what else could there be here but life? The beggars are part of this street, our street, part of us, misfortune is part of us. Misfortune resides here. It is always the same beggars in front of the same stores, they sit by the side of the doors, sometimes they are kneeling, only one of them (the one with the stick) stands (a strange looming presence, the way he stands there). Each beggar has a cup. Most of them have a white plastic cup, others a “Coffee-to-go” cup. Only the standing beggar holds an upside-down metal lid on his palm. Not one beggar stretches out his naked hand to the passersby. Their cups stand on the ground, there are always just a few coins in them, usually only one cent coins. Sometimes our baby halts in front of the beggars (just as he might stop anywhere else), drops a coin we have given him into the cup, but even when he doesn’t drop a coin in it, the beggar will smile at him in a way that he never smiles at adults. Since our baby bears no mistrust toward the beggars (just as he does not yet bear any mistrust toward anyone), we want to practice this ourselves (even though it is very easy be suspicious of a beggar, no one is more suspect than a beggar, dishonest and dishonorable motives can be imputed to a beggar as a matter of course). He who commits violence and injustice, will in the end become a beggar, it says in Jesus son of Sirach, a saying that has lasted through the centuries, as the beggar has lasted through the centuries (that is how it is with fairytales and beggars: both have persisted through time; the beggar is ancient and present, eternal like the fairytale. For a while, a week, a decade, the beggar may appear to have vanished, seems all but forgotten, until he shows up again at the next street corner). Has our beggar, the one sitting in our street of misfortune, committed violence and injustice? (We don’t want to ask him, and wouldn’t be able to in any case, his language is incomprehensible to us, just as ours seems to be incomprehensible to him.) Is our beggar atoning for something? (Briefly we think, beggary awaits every one of us in the end; it is the last state an individual soul attains before utterly vanishing in its immortality. – Perhaps that is why, like all the people who are hurrying past the beggars, we feel shy in their presence.) No, our beggar is not penitent. He is begging. Why is he begging? Because he is begging! (A few days ago our baby marched off from the church – where the Augustenstrasse comes to an end — with a lantern, together with the other children. Waggling lights and great excitement. There was a horse to be seen – our baby claimed the next day that the horse had come out of the church – and on the back of the horse sat Saint Martin. The horse was tall and white, the man in armor was slender and tall as well. The sight resembled that famous painting by El Greco which always, at first glance, makes me think that only a dilettante could have conceived and painted it, only to realize a moment later that this is the work of a great master, a genius. The color of the cloak, the garment the knight is cutting with his sword to give half to the beggar, is a luminous green. The beggar is a beautiful naked man with an injured shin, haphazardly bandaged with a white cloth. The knight, too, is beautiful. The horse, the severing of the cloth, all of it is beautiful – a serene image, devoid of haste, a calm such as only a painting could depict, as indeed this picture bars entry to even a hint of haste. The contemplation of paintings now strikes us as a vital necessity, and it was under the impress of this conviction that, on Saint Martin’s day, we looked at our baby, who had grown so tall, and whose eyes no longer moved in their gaze, spellbound in timelessness by the horse and the rider and the beggar and the lanterns and the fire. Our baby, this fairytale.)

DAS ZWEITE JAHR – 36

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36

Du kleines veränderungswütiges Baby. Du kleiner Süchtling nach dem Anderen. Du Suchwilder und Suchwilderer (deiner Suche entgeht nichts, kein Artenschutzabkommen kann dich aufhalten, deine Moral ist äußerst flexibel, dehnbar, aufdenkopfstellbar, falls du überhaupt eine hast: der Bagger des Anderen ist dein Bagger!), du Möglichkeitsnarr, der du keine Scheu hast, der Realität, dem Möglichen, dem Machbaren die Stirn zu bieten, alles ist möglich, lautet dein Mantra, das erste und einzige Gebot deiner Religion, der Kern deiner unausgedehnten Philosophie. Nichts muss so bleiben wie es ist! Auf den Flügeln welches gewaltigen, doch leisen Optimismus bist du hierher gesegelt (zu uns, zu dir, zu mir), dass dich nichts davon abhalten kann, was du eben gelernt hast, im nächsten Augenblick wieder zu verlernen, so als würdest du das Lernen nicht ernst nehmen (nicht so ernst nehmen wie wir). Man sagt dir von allen Seiten Kontinuität nach, man behauptet Prozesse in deinem Handeln und Tun zu erkennen (und natürlich in deinem Gehirn; das Gehirn: der Hauptgötze moderner Wissenschaft, das Gehirn ist en vogue, ein unhübsches, groß in Mode gekommenes Organ, das für jede Erkenntnis herhalten muss, entschuldigender Zeuge, dass wir in all unserem Fühlen und Denken nicht ganz bei Trost und bei Sinnen sind), jede Mutter, jeder Vater sind überzeugt von deiner Entwicklung, die du stetig vorantreibst und die dich stetig vorantreibt, damit du irgendwann zu voller Entfaltung, Reife, Blüte gelangst. Aber dich schert das nicht. Unentwickelt oder entwickelt, du blühst schon, immer schon, bist ganz Blüte, schwer erkennbare Blüte, denn du blühst nie gleich (wie die dummen Blumen), du wechselt täglich deine Gestalt, vielleicht stündlich (wir sind nur zu langsam, es zu bemerken), manchmal bist du kaum wiederzuerkennen, unser eigenes Kind kommt uns dann vor wie ein fremdes Kind (warum magst du seit heute keine Bananen mehr?), das wir dann doch wieder als unser Kind erkennen, aber ein Zweifel bleibt (nicht an dir, nicht daran, dass du unser Kind bist, vielmehr an deiner schillernden Identität – mit der du offenbar zu spielen in der Lage bist, wie es nur ganz große Künstler können), ein Zweifel bleibt, der sich langsam umwendet, sich uns selbst zuwendet. Wie sollen wir dich erziehen, Nochbaby? (Sollen wir dich überhaupt erziehen?) Du flutscht uns aus den Händen, du bist wie eines der Vögelchen, das du auf alten Gemälden der heiligen Familie in der Hand hältst und das du jeden Moment freigeben könntest (so, als könntest du dich von dir selbst befreien, als wäre das kein großes Tun, nichts), du bist unfassbar, obwohl du dich so gerne und ausführlich auf unseren Schoß begibst, dir die Hand auflegen lässt und darin deinen täglichen Frieden findest. Du veränderst dich: das ist nichts, was du auch unternehmen würdest, sondern es ist etwas Prinzipielles, das du nicht stoppen kannst, wie du dein Wachstum nicht stoppen kannst, du Unstoppbarer, du in deinem ewigen Wachsen ewig Unbegreiflicher, du sorgenloser Weltknabe, der du Orte entdeckst, wo wir bisher dachten, dort sei nichts! (Du allein erkennst die Welt, denken wir manchmal, weil du sie nicht unterscheidest. Wir wissen nicht, was die Fuge im Mauerwerk einer Hauswand zu bedeuten hat. Du studierst sie, kehrst vielleicht morgen zurück zu ihr, vielleicht nie wieder.) Wie also erziehen wir dich, den sich wundersam Wandelnden? Fragen wir einen (der wenigen) heiligen Philosophen, Henri-Frédéric Amiel. In seinen Tagebüchern lesen wir: Das Kind sieht, was wir sind, durch das hindurch, was wir sein möchten, von daher kommt sein Ruhm als Physiognomiker. Es geht mit jedem von uns, so weit es kann; es ist ein schlauer Diplomat. Ohne es zu wissen, unterwirft es sich jedem Einfluß und spiegelt und verwandelt ihn gemäß seiner eigenen Natur: es ist ein Vergrößerungsspiegel. Darum ist es das erste Prinzip der Erziehung: Erziehe dich selbst! Oh ja, rufen wir emphatisch zu unserem Baby gewandt, du kluger Physiognomiker, du siehst durch unsere Gesichter hindurch (welch Freude bereitest du uns dadurch, dass wir durchsichtig sind für dich!), weil die kleinste Veränderung unseres Mundwinkels, jeder verzögerte Wimpernschlag, wie das magerste Beben unserer Wangen dir Offenbarung unserer Gedanken sind. Du hast uns unsere Frage nach deiner Erziehung angesehen und uns prompt zu uns selbst zurückgeleitet. Auch wir müssen Suchwilde und Suchwilderer werden, Möglichkeitsnarren und Süchtlinge nach dem Anderen. Sind wir es nicht längst? Sind wir es etwa schon? (Aber jetzt auf einmal gibt unser Baby den pathetischen Bewahrer, den eisernen Änderungsverweigerer, den wütenden Pedanten. So muss das kleine Seidenkissen in der Sofaecke liegen, nur so, nein, auch nicht so, genau so, ganz genau so und nicht anders! Du kleines veränderunghassendes Baby, du Süchtling nach dem Gleichen, du Wiederholungsdiktator … )

You change-obsessed little baby. You difference-addict. Wild little seeker and poacher in the wild (nothing escapes your search, no program for the protection of endangered species can stop you, your morality is exceedingly flexible, elastic, upendable, if you have one at all: the other child’s toy truck is yours!), you fool for possibility, who are not afraid to defy all that declares itself real, possible, doable. Everything is possible: that is your mantra, that is the first and only commandment in your religion, the core of your unelaborated philosophy. Nothing must remain as it is! On the wings of what mighty yet quiet optimism did you sail into this realm (ours, yours, mine), that nothing can prevent you from unlearning everything you learned a moment ago at the very next moment, as if you did not take learning seriously (as seriously as we do). People credit you with consistency, claim to recognize processes in your actions and behavior (and of course also in your brain; the brain: the supreme idol of modern science, the brain is in vogue, an unattractive organ that has become hugely fashionable in recent years, to which all knowledge and understanding are attributed, an exculpatory witness attesting that in all our feeling and thinking we are out of our senses and not of sound mind); every mother, every father is convinced of your development, which you are constantly driving onward and which constantly drives you onward, so that at some point you will arrive at a full unfoldment, maturity, flowering. But you don’t give a fig for any of that. Developed or undeveloped, you are already flourishing, already in full bloom, a flowering that is difficult to recognize, for you never flourish in the same way (as the stupid flowers do), changing as you do day by day, perhaps hour by hour (we are just too slow to notice); sometimes you are almost unrecognizable, so that our own child suddenly no longer seems like our own (why are you suddenly refusing bananas today?), until we again recognize him as our child, but a doubt remains (not of you, not of the fact that you are our child, but rather of your iridescent identity – which you are evidently able to play with, a gift only very great artists can deploy), a doubt remains, which slowly turns around, turns to face us. How should we raise you, you not-yet-fledged, you still a baby? (Should we raise you at all?) You slip through our fingers, you are like one of those little birds you hold in your hands in the old paintings of the holy family and which you could let loose at any moment (as if you could free yourself of yourself, as if there were nothing to it, nothing), you are ungraspable, even though you love to sit on our laps for extended periods of time and let us place a hand on your body and find your daily peace in that. You change: that is not something you would undertake in addition; it is a fundamental thing which you cannot prevent, just as you cannot stop your growth, you unstoppable one, eternally incomprehensible in your growing, you carefree world-child, who discover places where previously we thought there was nothing! (You alone know the world, we sometimes think, because you do not distinguish it. We don’t know what a gap in the brickwork of a wall means. You study it, may return to it the next day, or never again.) How shall we raise you then, you mysteriously changing child? Let us ask a saintly philosopher, one of the few, Henri Frédéric Amiel. In his journals we read: The child sees what we are behind what we wish to be. Hence his reputation as a physiognomist. He extends his power as far as he can with each of us; he is the most subtle of diplomatists. Unconsciously he passes under the influence of each person about him, and reflects it while transforming it after his own nature. He is a magnifying mirror. This is why the first principle of education is, Train yourself! Oh yes, we call out emphatically, addressing our baby, you wise physiognomist, you see through our faces (and what joy you give us by rendering our faces transparent for you!), because the smallest shift in the corner of our mouth, the slightest lag in the batting of an eyelid, the meagerest quiver of our cheeks reveals our thoughts to you. You spotted in us the question concerning your education and promptly directed us back to ourselves. We too must become wild seekers and poachers in the wild, fools for possibility, difference-addicts. Haven’t we been that all along? Could it be that we already are that? (But now suddenly our baby puts on the pathos of preservation and plays the iron opponent of change, the furious pedant. The little silk pillow should lie in the corner of the couch, like this, no, not like that, only like this, exactly like this and no other way! You little change-hating baby, you sameness-addict, you dictator of repetition . . .)

DAS ZWEITE JAHR – 35

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35

Unser Baby, unser Zeitmeister. Mit dem Baby lernen wir die Zeit kennen, ganz anders kennen, so, als würden wir sie überhaupt nicht kennen, als wären wir ihr noch nie begegnet. Die Babyzeit ist eine ganz andere Zeit (und wir merken auch hier wieder, dass wir uns beeilen müssen, denn die Babyzeit verrinnt schnell, schneller als jede Zeit verrinnen könnte; schon jetzt wechselt sie manchmal in die altbekannte Zeit, als könnte sie auf Dauer gegen diese nicht bestehen; schon jetzt verwechseln wir die eine und die andere; – andererseits, wenn es eine Zeit gibt, die nicht vergeht, welche Zeit sonst könnte es sein als die Babyzeit?), die Babyzeit ist die ganz andere Zeit, sie unterscheidet sich nicht nur ein bißchen von der vertrauten Zeit, der skalierten Zeit, der wir so gehorsam folgen, nein, die Babyzeit ist dieser Zeit nicht im Geringsten ähnlich, die Babyzeit ist eine unvergleichliche Zeit, eine vollendete Zeit, eine vollkommene Zeit (während die normale Zeit immer vergleichbare Zeit ist, unvollendete Zeit, unvollkommene Zeit). Im Paulusbrief an die Galater heißt es: Als die Zeit erfüllt war, sandte Gott seinen Sohn, geboren von einer Frau und dem Gesetz unterstellt, damit er die erlöse, die unter dem Gesetz stehen, und damit wir die Kindschaft erlangen. (Wir sind so frei, auch die Bibel als unser Erbe in unserem Sinn zu verwenden, behandeln, verwandeln. Und wir sind so frei, uns in unserer Auslegung durchaus gottähnlich zu machen, es ist uns ein Vergnügen. Damit befreien wir uns von unserer größten menschlichen Hemmung, der Hemmung vor Gott. – Wow, antwortest du, es ist eigenartig, wie sehr Gott immer noch gefürchtet wird, von allen, auch den religösen, am meisten Furcht haben die, die sich von ihm abgewendet haben. – Wow, antworte ich. – Wau, wau, wau, macht unser Kind.) Also: die erfüllte Zeit, als die Zeit in Erfüllung ging (sehnten wir uns nicht immer nach der Erfüllung der Zeit, und auch heute noch?), kam das Kind auf die Welt, das Baby, unser Junge. Uns scheint, er brachte die erfüllte Zeit mit, noch einmal mit, uns scheint, er brachte damit die verlorengegangene Zeit mit, es scheint, mit unserem Baby ist das Eschaton über uns hereingebrochen, für uns angebrochen, wow! (Unser Kind ruft wau, wau und schleudert den weißen Plüschhund an seinem Stummelschwanz quer durchs Zimmer. Der Hund prallt ans Tischbein, ein Klacken ist zu hören, das heißt, sein Glasauge wurde getroffen. Unser Baby krabbelt hinüber und sieht sich seinen Hund genauer an. Das Auge ist gebrochen. Ein Teil sitzt noch fest in der flachen Augenhöhle des Hundes, der andere Teil liegt unter dem Tisch. Unser Kind blickt lange auf den Hund, zeigt nickend auf das halbe Auge, ruft einmal putt etta, aber so, dass es wie eine Frage klingt.) Dann kommt uns vor, beide Zeiten, die alte und die neue (die ungestillte und die gestillte) sind zugleich anwesend, sind sich plötzlich zum Verwechseln ähnlich, als gäbe es nur eine Zeit, die eine Zeit, aus der es kein Entkommen gibt und in der es kein Ankommen gibt, diese eine Zeit, der man zugleich (in der gleichen Zeit) leicht entkommt und in der anzukommen zugleich (in der gleichen Zeit) ein Kinderspiel ist. Jetzt sehen wir klar (unser Baby untersucht mit etwas geöffneten Lippen das halbe, abgefallene Auge des Plüschhundes, hält es hoch, bringt es nah zu seinem Mund, legt es dann wieder genau an die Stelle unter dem Tisch, wohin es vorhin gesprungen ist): Erst dann lernen wir die Zeit richtig kennen, wenn wir ihr nachgeben und wir nicht wollen, dass sie uns nachgibt. Wenn wir uns ihr hingeben. Hingabe ist das Zauberwort, das die Zeit zu öffnen versteht. (Geben wir uns unserem Baby hin, geben wir uns der Zeit hin. Kurz glauben wir, unser Baby ist die Zeit, nichts sonst. – In einem rührseligen Heinz Rühmann Film – wahrscheinlich haben wir ihn einst an einem müden regnerischen Sonntagnachmittag im Fernsehen angeschaut – singt der Vater, der nicht der echte Vater ist, dem kleinen Jungen Ulli, dessen Mutter nach Amerika ausgewandert ist, immer wieder zur Schlafenszeit das berühmte La-le-lu-Schlaflied vor. Wenn der Vater mit dem Sohne, heißt der Film merkwürdigerweise, und doch sind die beiden, der Heinz-Rühmann-Vater und sein Leihsohn, Pflegesohn, Sohntraum inniger, einiger, vertrauter als wirklicher Vater und wirklicher Sohn es sein könnten. Sie sind geradezu eins. Und in der Musik des La-le-lu ist auch die Zeit der beiden eins, eine Zeit, eine ideale Zeit. Vaterzeit ist Sohnzeit und Sohnzeit Vaterzeit. Doch am Ende wird der Sohn den Vater verlassen, wie ihn sein echter, verstorbener Sohn verließ, aber der Zuschauer fühlt dabei mehr mit dem Vater als mit dem Sohn, als wäre der Vater der verlassene Sohn; merkwürdig ist diese Verkehrung und schwer vorstellbar, das den Autoren des Film bewußt war, was sie schrieben. Die Rührung, die die Geschichte des Films auslöst, verdankt sich ihrer bewußtlosen Erfindung. Als Ulli das erste Mal bei seiner neuen-alten Mama übernachtet, singt er seinem Hund La-le-lu vor und gleich schläft der Hund ein, gleich darauf er selbst.)

Our baby, our master of time. With the baby we are getting to know time in an utterly different way, so different it almost seems as if we did not know time at all, as if we had never made its acquaintance. Baby time is a completely different kind of time (and here again we notice that we must hurry, for baby time runs out quickly, more quickly that any sort of time could run out; already now it is sometimes turning into the old familiar time, as if it were not capable of withstanding it in the long run; already we are confusing the one with the other; – on the other hand, if there is a time that does not pass, what time could it be if not baby time?), the baby time is the completely different time, it does not just slightly differ from the familiar time, the scaled time we follow so obediently, no, baby time does not resemble this time in the least, baby time is an incomparable time, a perfect time, a complete time (while normal time is always comparable time, imperfect time, incomplete time). In Paul’s letter to the Galatians it says: But when the time was full come, God sent his son born of a woman and made bond unto the law, to redeem them which were under the law: that we through election might receive the inheritance that belongs unto the natural sons. (We are free to employ the Bible as our inheritance and transform it in our own sense. And we are free to make ourselves godlike in our interpretation, it pleases us to do so. In this way we liberate ourselves from our greatest human inhibition, the inhibition before God. – Wow, you reply, it’s strange, the degree to which how God is still feared, by everyone, even by the religious people, and the ones most frightened are the ones who turned away from him. – Wow, I reply. – Bow wow, says our child.) So: in the fullness of time, when the promise of time was fulfilled (did we not always long for the fulfillment of time, and don’t we still?), the child came into the world, the baby, our boy. It seems to us that he brought the fulfilled time with him, brought it with him once more, it seems to us that in doing so he brought with him the time that was lost; with our baby the eschaton, the end time, has descended upon us, has begun, wow! (our child cries: Bow Wow. And hurls his white stuffed dog by its stubby tail straight across the room. The dog bangs into the table leg, there is a clacking noise, which means that its glass eye was struck. Our baby crawls over to it and looks at his dog more closely. The eye is broken. One part is still firmly attached to the dog’s flat eye socket, the other part is under the table. Our child looks at the dog for a long time, points at its half eye, nodding, calls out “bokin” once, but in such a way that it sounds like a question.) Then it seems to us that both times, the old one and the new (the unappeased and the appeased) one are present simultaneously, are suddenly almost indistinguishable, as if there were only one time, the single time from which there is no escape and into which there is no arrival, this one time from which one easily escapes (at the same time) and into which it is childishly easy to arrive. Now we see clearly (our baby, his lips slightly parted, is exploring the half of the dog’s eye that fell off, holds it up, brings it close to his mouth, puts it back precisely where it fell underneath the table): We never really get to know time until we give in to it and stop wanting it to give in to us. When we give ourselves over to it. Hingabe – the German word for self-abandon – is a magical word that knows how to open up time. (If we abandon ourselves to our baby, we abandon ourselves to time. In short, we believe that our baby is time, and nothing other than that. – In a maudlin film with Heinz Rühmann – we probably saw it on some tired rainy Sunday morning on TV – the father who is not the real father sings the famous La-le-lu lullaby every evening to the little boy Ulli, whose mother has emigrated to America. When the father with his son is the name of the film for some reason, and yet these two, the Heinz-Rühmann-father and his borrowed son, foster son, son dream, are closer, more intimate, in greater rapport than any real father and real son could be. They are practically one. And in the music of the La-le-lu their common time is one, one time, an ideal time. Father-time is son-time and son-time is father-time. But in the end the son will leave the father, just as his real, deceased son left him, but the viewer’s feelings are more with the father than with the son, as if the father were the son being left behind; this reversal is strange and it is hard to imagine that the authors of the film were aware of what they were writing. The emotion produced by the plot of this film is due to the unconscious source of its invention. When Ulli spends his first night with his new-old Mama, he sings to his dog La-le-lu, and instantly the dog falls asleep, and right after that the boy.)

DAS ZWEITE JAHR – 34

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34

Kommen wir mit den anderen Kindern zusammen, beginnen wir zu vergleichen. Das Vergleichen ist uns gegeben, das Nichtvergleichen müssen wir uns mühsam erarbeiten. Wir vergleichen automatisch, fast könnten wir glauben, es sei uns angeboren. Es geschieht gleichsam ohne Gedanken (vielleicht ist es ein Zeichen von Gedankenlosigkeit?), es geschieht von selbst, plötzlich, kündigt sich nicht an und will mit seinem Urteil alles erfassen. Das Richtige. Das Beste. Das Angemessene. Das Altersgemäße, der Entwicklung unseres Kindes entsprechende – eigentlich das Normale. Wir fürchten, etwas könnte nicht normal sein, hören überall Geschichten von Kindern, die sich nicht normal verhalten, Kindergartengeschichten und Schulgeschichten. Normal ist ein Kind, wenn es tut, was wir glauben, dass es in diesem Alter tun sollte. Ein bißchen Abweichung ist erlaubt, aber alles, was über das bißchen hinaus geht, macht Sorgen. Wir können uns ermahnen, jeder Abweichung gegenüber uns freundlicher zu verhalten (was uns auch nicht schwer fällt, die Liebe zu unserem Kind macht unsere Duldsamkeit von Anfang höchst dehnbar), wie wir uns selbst davon überzeugen können (wir sind einigermaßen bewandert in pädagogischen Konzepten), dass alles seine Zeit hat, alles seinen Raum braucht, sich alles fügen wird, dass wir auf keinen Fall Grund haben, besorgt zu sein, uns Gedanken zu machen, gar durchzudrehen. Aber so sehr wir unseren Argumenten glauben schenken wollen, sowenig können wir es. Denn wir sind besorgt, machen uns immer Gedanken, und wir könnten leicht durchdrehen (nur ein Schritt ist es bis dorthin, dass wir ihn nicht gehen, hängt vielleicht damit zusammen, dass unsere Furchtlosigkeit doch größer ist als unsere -kümmerliche – Furcht). Nein, unser Baby gibt uns wenig Anlass, an seiner babygemäßen Entwicklung zu zweifeln. Es ist nicht der schnellste Läufer, was überhaupt nichts macht. Es rennt nicht besonders gern, es steht lieber oder geht gemächlich von der Schaukelmöwe zum Schaukelpinguin. Steigt langsam hinauf und wippt dann mal heftiger, mal weniger heftig, steigt wieder herab, steht und schaut, schaut auch auf die rennenden Kinder, zum Teil jünger als es selbst, die einer Art inneren Explosion zu gehorchen scheinen, die sie in den Hochgeschwindigkeitsmodus schießt. Diesen Modus kennt unser Baby nicht, interessiert sich nicht für ihn, sein Rennen ist ein gemächlicher Trab, mit kaum in den Schultern schwingenden Armen und kleinen Schritten. Das macht nichts, sagen wir uns und offenbaren uns dann doch diese gemeinsame Heimlichkeit, in der wir denken: unser Baby könnte doch richtig rennen, warum rennt es nicht wie die anderen (die anderen, die auch nicht rennen, bemerken wir gar nicht, wollen wir gar nicht bemerken), jedes Kind trägt doch diesen Impuls zu rennen in sich, in seinen Beinen, in dem für seinen unendlichen, grenzenlosen Geist (seinen explosiven Geist) viel zu kleinen Körper, der seltsamerweise dennoch der gleichen Schwerkraft unterworfen ist wie wir (manchmal auf unserem Arm, gibt unser Baby sein gesamtes Gewicht an uns ab und ist verblüfft, wenn es uns irgendwann zu schwer wird und wir es wieder absetzen wollen; gerne hätte es sich weiter von uns in der Illusion wiegen lassen, es könnte schweben). Nein, wir wollen nicht, dass unser Babykind rennt wie alle anderen; doch, wir wollen, dass unser Babykind rennt wie alle anderen. Wir wollen es, das ist tief in uns verwurzelt, etwas für jemand anderen zu wollen (unser Leben scheint immer ein bißchen absurd zu sein), wir sehen an den Anderen etwas, das anders, besser, richtiger, normaler sein könnte und wollen es durch ein Eingreifen verändern. Die Autonomie des Anderen respektieren wir zwar, wollen sie aber nicht wahrhaben (vielleicht spüren wir in diesem Zwiespalt die Ungetrenntheit aller Lebewesen und unsere mal sanfte, mal heftige Verzweiflung, nur eines, ein einziges von diesen selbst zu sein). (Du kannst die Ungetrenntheit auch erkennen, die Verzweiflung nicht. Dein Gebären lässt dich gütiger über das Leben denken) Sind wir nicht Märchengestalten? (Wir beide, du, ich, sogar unser Baby? Die manchmal gemeinsam und manchmal getrennt in ihrer Geschichte auftreten?) Die Brüder Grimm, Das eigensinnige Kind: Es war einmal ein Kind eigensinnig und tat nicht, was seine Mutter haben wollte. Darum hatte der liebe Gott kein Wohlgefallen an ihm und ließ es krank werden, und kein Arzt konnte ihm helfen, und in kurzem lag es auf dem Totenbettchen. Als es nun ins Grab versenkt und die Erde über es hingedeckt war, so kam auf einmal sein Ärmchen wieder hervor und reichte in dei Höhe, und wenn sie es hineinlegten und frische Erde darüber taten, so half das nicht, und das Ärmchen kaum immer wieder heraus. Da mußte die Mutter selbst zum Grabe gehen und mit der Rute aufs Ärmchen schlagen, und wie sie das getan hatte, zog es sich hinein, und das Kind hatte nun erst Ruhe unter der Erde.

As soon as we meet with the other children, we start comparing. Comparing comes naturally to us, not comparing is a skill we have to laboriously acquire. We compare automatically, it almost seems to be an innate faculty. It happens virtually without any thoughts (perhaps it’s a sign of thoughtlessness?), it happens of its own accord, suddenly, unannounced, and seeks to encompass everything with its judgment. The right thing. The best thing. The proper thing. The age-appropriate thing – basically the normal thing. We are afraid that something might not be normal; all around us we hear stories about children who don’t behave normally, in kindergarten or in school. A child is normal when it does what we think it should be doing at its age. Some slight deviation is allowed, but anything that goes beyond that slight difference is cause for alarm. We can admonish ourselves to be more accepting of every deviation from the norm (which is not hard for us, our love for our child makes our forbearance highly elastic from the beginning), just as we can rest assured (being reasonably well versed in pedagogic concepts) that everything happens in its own time and needs its own space, that everything will come together, that there is absolutely no reason for us to be concerned, to worry, let alone freak out. But however much we would like to believe our arguments, we are not able to do that. For we are worried, are always concerned, and we could easily freak out (it’s just a step away, and that we don’t take that step may be due to the fact that our fearlessness happens to be greater than our – pitiful – fear). No, our baby gives us little reason to doubt that his development might not be baby-appropriate. He is not the fastest runner, which doesn’t matter one bit. He’s not particularly fond of running, he prefers to stand or walks at a leisurely pace from the sea-gull rocker to the penguin rocker. Climbs it slowly, rocks himself back and forth, sometimes slightly, sometimes with greater force, climbs back down, stands, looks around, looks at the running children as well, some of them younger than himself, who seem to be obeying an inner explosion that is shooting them into high velocity mode. Our baby does not know this mode, is not interested in it, his running takes place at a leisurely trot that barely sets his arms swinging in his shoulders, and with small steps. It doesn’t matter, we tell ourselves, while nonetheless revealing to ourselves the secret thought we hold in common: surely our baby could actually run, why doesn’t he run like the others (and the others who also don’t run we prefer not to notice); surely every child bears within it this impulse to run on its legs, in its body, which is much too small for its infinite, boundless spirit (its explosive spirit), this body that is strangely subject to the same gravity as we are (sometimes, while being held in our arms, our baby gives over to us his entire weight, and is surprised when at some point he gets too heavy for us and we want to put him back down; he would really prefer to continue being held suspended in the illusion that he can float). No, we don’t want our baby child to run like all the others; yes, we do want our baby child to run like all the others. We want it, it is deeply rooted within us to want something for some else (our life always seems to be somewhat absurd), we see in the others something that could be different, better, more correct, more normal, and we want to change it by some intervention. We may respect the other’s autonomy, but we don’t want to acknowledge it (maybe in this dichotomy we sense the undividedness of all creatures and our sometimes gentle, sometimes intense despair at being only one, a single one of the countless many). (You can see the undividedness too, but not the despair. Your birth-giving nature allows you to think more kindly about life.) Are we not fairytale creatures? (the two of us, you, I, even our baby? Who sometimes appear in their story together and sometimes separately?) The Brothers Grimm, The Obstinate Child: There once was an obstinate child who did not do what its mother wanted. Therefore God had no goodwill towards it, and no doctor could help it, and it was not long before it lay on its little death bed. And after it was buried in the grave and was covered with a blanket of earth, suddenly its little arm pushed out from the earth, reaching up, and when they put the little arm back down and covered it with earth, it came out again and kept coming out like that, over and over. Then the mother herself had to go to the grave and struck the little arm down with a stick, and only after she had done that was the child finally peaceful under the earth.

DAS ZWEITE JAHR – 33

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33

Einem Freund, dessen Frau eben ein Kind geboren hat, gratulieren wir zur Geburt seiner Vaterschaft (in der Formulierung unsere Gratulation kommen wir uns unzeitgemäß vor, altmodisch, übermodern; Vaterschaft ist eine Geburt für den, der Vater geworden ist, genaugenommen ist eine Geburt eine Doppelgeburt: Kindgeburt, Vatergeburt. – Eine Triplegeburt scheint es nicht zu sein. Die Mutter ist mindestens früher geboren; wenn je). Bei Freud heißt es in Moses, ein Ägypter: Die ersten Kinderjahre werden von einer großartigen Überschätzung des Vaters beherrscht, der entsprechend König und Königin in Traum und Märchen immer nur die Eltern bedeuten, während später unter dem Einfluß von Rivalität und realer Enttäuschung die Ablösung von den Eltern und die kritische Einstellung gegen den Vater einsetzt. Vielleicht war demnach unsere Gratulation voreilig, oder wir hätten sie besser zeitlich einschränken und so den neuen Vater ermutigen sollen, doppelt die ersten Jahre der Vaterschaft zu genießen, bevor sie sich, wenn schon nicht in die Hölle, in etwas Höllenähnliches verwandeln würde. (Als Vater – aber auch Mutter, erstrecht als Kind – müssen wir immer wieder zu Freud zurückkehren. Zum einen scheint er selbst eine Art Urvater zu sein, auch wenn seine Lebenszeit noch nicht weit zurückliegt. Zum anderen ist er ebenso eine besondere Art Vater, Übervater, Überfamilienvater, der die Suche nach der Quelle von Glück und Unglück, immer wieder dorthin zu lenken versteht, wo die Familie beginnt. Außerdem ist er uns im Laufe der Jahre sympathisch geworden, wie jeder, der schreiben kann.) Wir wollen Freud umgestalten: Die ersten Vaterjahre werden von einer großartigen Überschätzung des Kindes beherrscht, der entsprechend König und Königin in Traum und Märchen immer nur die Kinder bedeuten, während später unter dem Einfluß von Rivalität und realer Enttäuschung die Ablösung vom Kind und die kritische Einstellung zum Sohn einsetzt. Was wir damit noch nicht gesagt haben und also in unsere erweiterte Gratulation zur Vaterschaft mit einbauen, ist, dass die Überschätzung des Kindes, des Babys für uns notwendig ist. Wir müssen es auf den Thron setzen, und müssen bedeutet hier nicht etwa, dass es uns möglich wäre, es unter anderen Umständen, oder selbst wenn wir andere Eltern wären, es nicht auf den Thron zu setzen. Ein müssen also, das, ohne Zwang zu sein, auf die Unausweichlichkeit unseres Handelns, Denkens, Tuns aufmerksam macht und uns dadurch, anders, als wir zu denken gewohnt sind, eine Tür in die Freiheit aufstößt. Und weil wir schon dabei sind: natürlich ist auch die Vaterschaft selbst unausweichlich gewesen und keinesfalls Folge einer Wahl oder unseres Willens. Wir gratulieren dem Freund und neuen Vater mit der Bemerkung, es musste (ja) so kommen. Jetzt, vom ersten Atemzug des Babys an, beginnt die Überschätzung des Kindes, wir wissen das aus eigener Erfahrung. Es ist aber eben eine großartige und gutartige Überschätzung, die wir nötig hatten und haben; denn die richtige Einschätzung der Vaterschaft wäre doch nur die uns genehmste (und angenehmste) Einschätzung gewesen, dergestalt ein Unding. Unsere Einschätzung muss fehlgehen, notgedrungen, wir waren und sind nicht in der Lage, richtig einzuschätzen, was Vatersein bedeutet, was hätten wir auch davon? Unser Baby ist unser Überschatz, es lässt uns keine Zeit und gibt uns keine Möglichkeit, das Richtige zu tun, wie wir es sonst, in allen anderen Dingen immer tun (natürlich wollen wir das Richtige tun, aber jetzt sehen wir klar, wir wollen das Richtige tun, aus unserer Überschätzung des Babys heraus, – das wir übrigens niemals unterschätzen, seit wir es zu unserem Überschatz gemacht haben; und auch, seitdem es uns mit diesem Schalk in den Augen anblickt, mit dieser gutmütigen Frechheit, die sich ganz und gar bewusst zu sein scheint, dass wir Eltern es unterschätzen sowieso nicht, und richtig einschätzen gleich zweimal sowieso nicht können, was besonders für seinen Vater gilt, der ihm gerade beim Kastaniensortieren zusieht: immer wieder eine Kastanie zwischen zwei andere legen, immer wieder eine Kastanie, die zwischen zwei anderen liegt, in die Hand nehmen und sie woanders zwischen zwei Kastanien legen, die offene Kastanienkette auf dem roten Teppich …). Diese zweite Geburt (nach der Selbstgeburt diejenige zur Vaterschft hin) ist vielleicht tatsächlich eine Geburt ins Glück (auch eine Überschätzung, sogar Selbstüberschätzung womöglich), eine Geburt ins Glück, die die vorangegangene Geburt gleichsam aufhebt in der Verdopplung dieses Vorgangs. Auch ist die zweite Geburt – so beschwerlich sie sich manchmal anfühlen will und so langdauernd und immer noch nicht beendet – eine Erleichterung: sie nimmt der eigenen Geburt ihre Erdenschwere und lässt den Geborenen flüchtiger werden). Sogemäß kann der Dichter Peter Handke den antiken Dichter in seiner Kindergeschichte zu Wort kommen lassen: Sind Kinder allen Menschen doch die Seele. Wer dies nicht erfuhr, der leidet zwar geringer, doch sein Wohlsein ist verfehltes Glück. (Seit ein paar Tagen küsst uns unser Sohn. Manchmal auf den Mund. Feuchte Seidenküsse, unbestimmt und selbstlos und zufällig wie Tropfen. Aber auch entschieden, vorsätzlich, wirkungsvoll. Wir halten still wie Kinder.)

A friend’s wife has just given birth. We send him a message congratulating him on the birth of his fatherhood (the formulation makes us feel anachronistic, old-fashioned, hypermodern; fatherhood is a birth for a man who has become a father; strictly speaking, a birth is a double birth: childbirth, fatherbirth – It does not appear to be a triple birth. The mother was born earlier, at least; if ever). According to Freud, in Moses and Monotheism: The child’s early years are governed by grand overestimations of his father; kings and queens in a dream or fairy tale always represent the parents. Later, under the influence of rivalry and real disappointments, separation from the parents and a critical attitude towards the father sets in. This suggests that our congratulations might have been premature, or that we should have given them a temporal limit, in order to encourage the young father to doubly appreciate the first years of fatherhood, before it turns into a hellish condition if not into hell itself. (As a father – but also as a mother, and even more so as a child – we need to return to Freud again and again. For one, he himself seems to be a kind of primordial father, even though the time when he lived was not very long ago. Secondly, he is also a special kind of father, an Über-father, an Über-family father, who knows how to direct the search for the source of happiness and unhappiness again and again to the place where the family begins. Furthermore, we have come to grow fond of him over the years, as does everyone who can write.) We want to reformulate Freud: The father’s early years are governed by grand overestimations of the child; kings and queens in a dream or fairy tale always represent the children. Later, under the influence of rivalry and real disappointments, separation from the child and a critical attitude towards the son sets in. What remains unsaid in this formulation, and what we intend to include in an expanded message of congratulation, is that the grandiose estimation of the child, the baby, is for us a necessity. We have to put him on the throne, and to say that we have to does not mean that under different circumstances, or even if we were different parents, it would be possible for us not to put him on a throne. A have to which, without its being forced on us, makes us aware of how inescapable our actions, our thinking, our choices are, thereby pushing open for us a door into freedom, in a way that is different from our customary way of thinking. And having broached that subject, we must acknowledge also that fatherhood itself was inescapable and in no way the result of a choice or our will. We congratulate our friend, the new father, with the remark that it had to happen the way it did. Now, from the baby’s first breath on, there begins the overestimation of the child, we know that from our own experience. But it is a grand and benign overestimation, which we needed and still need; for the right estimation of fatherhood would have merely been the estimation that was most convenient (and most agreeable) to ourselves, and on those grounds alone an absurdity. Our estimation has to go astray, necessarily, we were and are not in a position to estimate rightly what it means to be a father, and of what use would that be to us anyway? Our baby is our Über-treasure, he leaves us no time and gives us no opportunity to do the right thing in the way we otherwise, under all other circumstances, always do (of course we want to do the right thing, but now we see clearly, out of our overestimation of the baby, — whom we, incidentally, have never underestimated since the day we made him our Über-treasure; and also every since he has looked at us with this roguish look in his eyes, this good-natured impudence that seems to be perfectly conscious of the fact that we, his parents, are not capable of underestimating him in any case, and even less of estimating him rightly, which is particularly true of his father, who happens at the moment to be watching him arrange chestnuts: putting a chestnut between two others again and again, taking one chestnut that lies between two others into his hand, again and again, and placing it somewhere else between two chestnuts, the open chain of chestnuts on the red rug . . .) This second birth (after the birth of oneself, the one that will lead to fatherhood) is perhaps in fact a birth into happiness (also an overestimation, perhaps even an overestimation of oneself), a birth into happiness that, as it were, suspends the preceding birth in the doubling of this process. Also, the second birth – arduous though it may feel at times, and of such long duration and still not completed – is a relief: it relieves one’s own birth of its earthly weight, endowing the one who was born with a fugitive lightness). Thus the poet Peter Handke, in his Child Story, gives utterance to the ancient poet: “For children are the soul of all humans. He who has not experienced this, suffers less acutely, but his well-being is a failed happiness.” (For the past several days, our son has been kissing us. Sometimes on the mouth. Moist silken kisses, indefinite and selfless and accidental as drops. But also decisively, deliberately, effectively. We hold still, like children.)

DAS ZWEITE JAHR – 32

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32

In allen möglichen Dingen können wir uns irren, aber nirgendwo ist die Gefahr größer als beim Essen. Beim Essen? Was kann man beim Essen falsch machen? Wie überhaupt ist die Möglichkeit, beim Essen etwas falsch zu machen, zu verstehen? Hat dieser Gedanke, beim Essen etwas falsch zu machen, etwas mit dem Essen an sich zu tun oder nicht vielmehr mit unserer merkwürdigen Fähigkeit, alles in Frage zu stellen, selbst das Einfachste, Fundamentalste, Natürlichste? Unser Baby ist mittlerweile gut ausgestattet, nur die Backenzähne lassen noch auf sich warten. Die beiden unteren schimmern schon im Zahnfleisch, die Mühen ihres Durchbruchs portionieren sich, jeder Schub ist ein Vielfaches schmerzhafter als bei Schneide- oder Eckzähnen. Aber auch ohne die Backenzähne (unsere stärksten Mittel auch die widerspenstigste Nahrung zu zertrümmern, zerkleinern, zermahlen) ist unser Baby fähig, so ziemlich jede feste Nahrung aufzunehmen, die wir, mundgerecht, kindermundgerecht auf seinen Teller legen (natürlich versucht es sich auch an so monströs harten Produkten wie Walnüssen mit Schale, noch harten Birnen, oder an abbeißresistenten Tierischem wie einem Rindersteak oder einem Stück harten Parmesan). Aber legen wir das Richtige auf seinen Teller? Es ist keine Frage, die wir uns zu stellen brauchen, es ist geradezu so, als würde die Frage aus unseren Lebensmitteln aufsteigen, aus jedem Lebensmittel hervorplatzen, so omnipräsent ist sie, so aufdringlich, so ganz und gar nicht befriedigend beantwortbar. Es scheint zu dieser Frage zu gehören, dass sich zwar eine passende Antwort finden lässt, aber jeder noch so guten Antwort scheint ein Verfallsdatum innezuwohnen, die uns die Frage wieder und wieder stellen lässt. Über uns schwebt eine ungeheure Drohung: wir könnten das Falsche essen! Das uns Unverträgliche, Unzuträgliche, das uns physisch wie moralisch zerstören könnte. Auch wenn wir uns einiges Fehlverhalten bei unserer eigenen Ernährung (auch beim Trinken) nachsehen, so wirkt die Drohung hundertmal stärker, wenn wir unser Baby füttern. Bei ihm, für seine Zukunft, sein Gedeihen, wollen wir alles richtig machen. Doch unser Baby scheint dem Essen nicht diese Hauptrolle zuzusprechen wie wir. Es isst gerne, aber manchmal auch nichts. Manchmal nur Ananasstücken, auf keinen Fall, egal in welcher Zubereitung, Karotten. Gerne kleine Marmeladenbrote ohne Rinde, kein Fleisch, jede Art von Fisch, natürlich Bananen, trockenen Kuchen mit Sahne. Das Essen ist interessant, aber für unser Baby, das lange im Schlaraffenland der Muttermilch gelebt hat (und für einen kleinen Abendtrunk mit großer Freude dorthin zurückkehrt, um in dem einzig real existierenden Paradies friedlich in den Schlaf zu sinken), ist das Essen eine Sache unter vielen anderen, es isst, weil wir essen, so wie es Vieles tut, weil wir es tun. Von der Notwendigkeit des Essens hat es keine Ahnung (notfalls, denkt es vielleicht, bleibt mir ja immer noch die Brust), wenig hält es auch von unserem Essensernst: essen ist doch eine durchaus komische Sache, man steckt sich etwas in den Mund, das man zerkauen und schlucken soll, aber man kann sich doch alles in den Mund stecken, man muss keine Unterschiede zwischen den Dingen machen (vielleicht denkt es: die ganze Welt ist essbar!) und kann sie auch jederzeit wieder ausspucken (wir schlucken ja – einmal in unserem Mund – fast alles runter, was unser Baby manchmal durchaus mit großer Verwunderung beobachtet). Essen: harmlose, freudvolle, genüßliche Angelegenheit, der wir ausnehmend gerne in Gesellschaft nachgehen. Aber dann: ein Fluch liegt über dem Essen! Das Gummibärchen (überall wird es unserem Kind angeboten: im Treppenhaus von der Reinigungsfrau, im Schuhladen, beim Bäcker, auf dem Spielplatz … die Leute scheinen alle stets ein paar Gummibärchen bei sich zu tragen): ein Monstrum ist jedes Gummibärchen, obwohl so winzig, bunt und niedlich. Schweinefett und Zucker in freundlich tierische Gestalt gegossen. Was ist schlimmer? Fett oder Zucker? (In seinem Aufsatz Das innere Erleben der Nahrungs- und Genußmittel scheibt Rudolf Steiner: Wenn die Seele eine Entwicklung durchmacht, dann erlebt sie alles das, was sie an Zuckersubstanz aufnimmt oder in sich hat, wie etwas, was ihr innerliche Festigkeit gibt, was sie innerlich stützt, was sie gewissermaßen mit einer Art natürlicher Egoität durchzieht. Und in dieser Beziehung darf sogar dem Zucker in einer gewissen Beziehung eine Art Lobrede gehalten werden. Gerade derjenige, der eine Seelenentwicklung durchmacht, kann oftmals bemerken, daß er es sogar oft nötig hat, etwas Zucker aufzunehmen, weil ja die seelische Entwicklung dahin gehen muß, immer selbstloser und selbstloser zu werden … Durch den Zucker wird … eine Art unschuldiger Egoität geschaffen, die ein Gegengewicht bilden kann gegen die notwendige Selbstlosigkeit auf moralisch-geistigem Gebiete. Guter Zucker, schlechter Zucker – schon greift unser Baby in Richtung des Gummibärchens, dargeboten von einer Hand, die ihm weit entgegenkommt; fast schon sind wir dazwischengesprungen, zögern noch.) (Fett, Schweinefett? Die Grausamkeit der industriellen Tierhaltung ist mittlerweile bekannt. Das meiste Fleisch, das auf den Tellern landet, ist unter würdelosen Umständen dorthin gelangt. Verrückteweise sieht man es ihm nicht an. Grausamkeit riecht nicht. Oder doch? Gestehen wir uns mehr Grausamkeit zu, als wir uns glauben machen wollen? Brauchen wir sie, damit es uns schmeckt? Das wollen wir weit von uns weisen! Denken wir darüber nach, dann wollen wir lieber, viel lieber Fleisch von artgerecht gehaltenen Tieren essen, von glücklichen Tieren, Tieren, denen niemand unnötigen Schmerz zugefügt hat. Trauen wir uns, können wir uns trauen, dass wir es damit ernst meinen? In seinem Buch Tiere essen, schildert Jonathan Safran Foer eine Szene anlässlich eines Aquariumbesuchs: Und da war diese Scham, Mensch zu sein: die Scham, dass 20 der rund 35 klassifizierten Seepferdchenarten weltweit vom Aussterben bedroht sind, weil sie bei der Fischproduktion „unabsichtlich“ sterben. Gerade waren wir noch beim Schwein, jetzt sind wir beim Fisch und plötzlich bei der Scham. Unser Baby hat unsere Unachtsamkeit ausgenutzt und nach dem Gummibärchen gegriffen. Schon klemmt es zwischen seinen Schneidezähnen. Hat es nicht neulich diesen Marienkäfer, der über den Küchentisch laufen wollte, mit ruhiger Hand, ruhigem Zeigefinger auf die Tischplatte gedrückt, gerade so dass seine Beinchen einknickten?) Der Fluch: was schadet uns und unserem Baby, was nützt uns und unserem Baby. Kein Grund zur Scham, kein Grund zu Fatalismus. Manchmal kommt uns vor, als würde gerade das Essen (und all die Hintergedanken die es erzeugt) uns hindern, in den Augenblick zu kommen, obwohl es nichts augenblicklicheres gibt, als die Nahrungsaufnahme (schon im Mund, schon zerkaut, schon geschluckt, schon vergessen unsere Lust, unser Hunger). Der Augenblick (auch wörtlich genommen), notwendig, um zu sehen, was wir tun. Der Augenblick: die meditative Schule des offenen Auges, der Hinwendung zum Ganzen unseres Tuns. Der Augenblick: ohne den das Denken leer bleibt, wertlos, gewissermaßen fleischlos. Betrachten wir unser Baby kommt es uns so vor: es isst im zweifellosen Vertrauen, dass das, was wir ihm vorsetzen, das Richtige ist. Wollten wir das naiv nennen oder es mit seiner Unkenntnis entschuldigen, es also nicht ernst nehmen, würden wir uns selbst und das, was wir betrachten, nicht ernst nehmen. Auch unseren Irrtum nicht. (Zwölf, oft quälende Jahre lebte Irina Tweedie bei ihrem Sufimeister Bhai Sahib in Indien. Jeder Tag bestand aus der gleich intensiven, nicht nachlassenden – selbst, wenn sie nachließ – Suche nach der Wahrheit. Nach dem Wunsch nach innerem Frieden. Sie schreibt: Es regnet … ein leichtes Nieseln, und es ist heiß. Ich habe ihn gefragt, ob ich Vegetarierin bleiben soll. Ich weiß, daß es einige seiner Schüler sind und andere wiederum nicht. Er sagte, er würde mir das überlassen. Vegetarismus könnte zur festen Weltanschauung werden, zur Religion, zu einem Hindernis. „Sie können sich nicht in den Himmel essen. Tuns Sie das, was das Beste für sie ist.“)

There are all sorts of things in which we can err, but nowhere is the danger greater than in eating. in eating? What can one do wrong in eating? What does it even mean to say that it is possible to do something wrong in eating? Does this idea of doing something wrong in eating have anything to do with eating as such, or doesn’t it rather come from our peculiar ability to put everything in question, even the simplest, most basic, most natural things? Our baby by now is well equipped, only his molars are still slow in coming. The two lower ones are already glimmering through his gums, the labor of their cutting advances in irregular intervals, each push is many times more painful than it was with the incisors or canines. But even without the molars (our strongest tools for smashing, crushing, grinding), our baby is able to ingest just about any solid food we put on his plate in bite-sized, baby-bite-sized portions (and of course he tests his abilities on such monstrously tough products as unshelled walnuts, pears that are still hard, or a piece of steak that resists being torn off with one’s teeth, or a piece of hard parmesan cheese). But are we putting the right thing on his plate? This is not a question we need put to ourselves, it virtually bursts forth from every article of food: it is that omnipresent, that insistent, and virtually impossible to answer in a satisfactory way. One essential aspect of this question seems to be that, while a fitting answer may well present itself, there is always a date of expiration that seems to inhere even in the best of answers, forcing us to pose the question again and again. A terrible threat hangs over us: we could be eating the wrong things! Eating things that are incompatible with, detrimental to our systems, capable of destroying us, both physically and morally. Even if we forgive ourselves some misconduct in our own eating (and also drinking), the threat feels a hundred times greater when we are feeding our baby. Where he is concerned, his future, his flourishing, we want to do everything right. But our baby does not seem to attribute the same central importance to the act of eating that we do. He likes to eat, but there are times when he eats nothing at all. Sometimes just pieces of pineapple, and never carrots, no matter how we prepare them. He likes little marmalade sandwiches without a crust, no meat, all kinds of fish, bananas of course, dry cake with cream. Food is interesting, but for our baby, who lived for a long time in a lotus land of ever-available mother’s milk (a source to which he happily returns for an evening drink, in order then to drift off into sleep in the only real paradise on earth), eating is one topic among many, he eats because we eat, just as he does many things because we do them. He has no conception of the need for food (if there’s a need, he may think, there’s always the breast), nor does he think much of our seriousness about eating: eating is funny, you put something in your mouth that you’re supposed to chew and swallow, but you can put anything in your mouth, you don’t need all these distinctions (maybe he thinks: you can eat the whole world!), and you can always spit out what you put in (we, after all, once there is food in our mouths, swallow almost everything down, which our baby sometimes observes with great wonder). Eating: a harmless, joyful, pleasurable business we are particularly fond of pursuing in company. But then: a curse hangs over this very pleasure! The little gummy bear (handed out to our child wherever we go: in the stairwell by the cleaning woman, in the shoe store, at the baker’s, on the playground . . . everyone seems to be carrying around with them a couple of gummy bears): every one of them is a monster, however pretty, cute and colorful it may look. Pork fat and sugar poured into the friendly shape of a little animal. Which is worse? Fat or sugar? In his essay, The Inner Experience of Nutrition and Stimulants, Rudolf Steiner writes: When the body develops, it experiences the intake of sugar and the body’s sugar content as though receiving inner stability, inner support, and it is permeated to a certain extent with a kind of natural egoity. In this regard, one can extol the virtues of sugar. In fact, in the process of spiritual development one often notices a need for sugar, because through development the soul aims to become progressively more selfless . . . Eating sugar creates a kind of “innocent egoity,” as it were, that can balance the selflessness necessary in the moral and spiritual spheres. Good sugar, bad sugar – already our baby is reaching out for the gummy bear, proffered by a hand that approaches him from afar; we almost intervened, are still hesitating.) (Fat, pork fat? The cruelty of industrial farming is by now a well-known fact. Most of the meat that lands on our plates has arrived there under disgraceful circumstances. The crazy thing about is that you can’t tell by looking at it. Cruelty has no smell. Or does it? Do we permit ourselves more cruelty than we want to admit? Do we need it to make our food tasty? That is a notion we decidedly reject! If we think about it, we would rather, much rather, eat the meat of animals that were kept in a species-appropriate manner, happy animals, animals on whom no one has inflicted unnecessary pain. Do we dare, can we trust ourselves, to be serious about this? In his book, Eating Animals, Jonathan Safran Foer describes a scene at the aquarium: There was shame in being human: the shame of knowing that twenty of the roughly thirty-five classified species of sea-horse worldwide are threatened with extinction because they are killed “unintentionally” in seafood production. Just a moment ago we were talking about pigs, now we have arrived at fish, and suddenly at shame. Our baby has taken advantage of our inattention and reached out for the gummy bear. It’s already clamped between his incisors. Recently, when a ladybug wanted to cross our kitchen table, didn’t he press it down against the tabletop with a steady hand, a steady forefinger so that its little legs buckled beneath it?) The curse: what is harmful to us and our baby, what is useful to us and our baby? No cause for shame, no cause for fatalism. Sometimes it seems as if the act of eating, above all (and all the ulterior thoughts it produces), prevent us from being in the moment, even though there is nothing that is more of the moment than the intake of food (already in the mouth, already chewed, already forgotten, our pleasure and our hunger). The moment (and that nice double meaning the German word gives it: Augenblick – eye-glance), necessary for seeing what we are doing. The Augenblick: the meditation school of moment-to-moment open-eyed presence, the attention turned toward the entirety of our activity. The Augenblick: without which thought remains empty, worthless, even fleshless, in a sense. When we observe our baby, this is our impression: he eats in doubtless trust that what we put before him is right. If we were to call that naïve and excuse it with his ignorance, in other words not take it seriously, we would be failing to take ourselves and even what we are looking at, even our own error, seriously. (For twelve, often torturous, years, Irina Tweedie lived with her Sufi master in India. Every day consisted of the same intense, unrelenting – even when the intensity relaxed – quest for truth. For quelling the desire for inner peace. She writes: It is raining . . . a soft drizzle, and it is hot. I asked if I should remain vegetarian. I know some of his disciples are, and some are not. He said he leaves it to me. Vegetarianism can become a creed, an obstacle, a religion. “You cannot eat yourself into heaven. Do what is best for you.”)

DAS ZWEITE JAHR – 31

31

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Natürlich (und wahrscheinlich natürlicherweise) haben wir Angst um unser Baby. Das ist nichts Diffuses, nichts Eingebildetes, nicht einmal etwas Neurotisches. Die Angst meldet sich plötzlich, vermittelt durch eine Vorstellung, durch ein Gedankengespinst oder eine überraschende Einsicht (in die Größe des Lebens, seine Gefährdung, seine Illusion, seine harte Realität). (Eine der häufigsten, auf Spielplätzen zu belauschende Ängste ist die Befürchtung, das eigene Kind könnte geraubt werden. Der Dieb oder die Diebin nähern sich unauffällig, unsichtbar, wenn das Kind sich aus dem Blick von Mutter oder Vater entfernt hat, wenn es zum Türchen der Umzäunung gelaufen ist oder bereits auf den Gehweg hinaus, dann greift der Dieb oder die Diebin nach dem Kind und fort ist es, für immer verschwunden, unauffindbar. Schrecklicher noch als die Fantasien, was mit dem Kind geschehen könnte, ist die gemeine Gewissheit darüber, dass es niemals wiederkehren wird. Es ist weg, spurlos, geradezu aufgelöst. Die Überzeugung, diese Gefahr des Kindsraub könnte wirklich bestehen, ist riesig. Auch wenn man niemanden kennt, dem es zugestoßen ist, ist diese Gefahr höchst glaubwürdig. Hat man nicht schon oft darüber gelesen? Nicht nur in Diktaturen verschwinden und verschwanden Menschen, Kinder, Babys – in Serbien, Argentinien, China … – oder durch schreckliche Unfälle, es kann überall geschehen. Das Leben an sich ist vom Verschwinden bedroht, wo könnte sich diese Drohung deutlicher zeigen, als an einem Wesen, einem kleinen Menschen, der – so scheint es – nicht auf sich selbst aufpassen kann? Der einzige verbliebene Feind des Menschen – vielleicht war er ja überhaupt zu allen Zeiten der einzige – ist ein anderer Mensch. Also lauert die Gefahr an jedem Ort, auch an unserem, soweit friedlichen, an dem niemals Kinder geraubt werden, wie wir zu wissen glauben. Vielmehr, die Angst existiert auch ohne die realen Verhältnisse, ohne Bedrohung, ohne Erfahrung, ohne Kenntnisse. Und dann zerplatzt sie. War sie eben noch riesig, ist sie im nächsten Augenblick nicht einmal mehr winzig. Zerplatzt, verschwunden, aufgelöst – und in dieser Plötzlichkeit, mit der sie verschwindet, gleicht sie dem, was sie gerade noch herbeifantasiert hat. Und die Erleichterung, dass das für Sekunden verschwundene Kind jetzt wieder bei uns steht, ist demzufolge kaum spürbar. Die Angst ist zerplatzt und das Erstaunen darüber nicht größer als beim Zerplatzen von Seifenblasen. – Eine Mutter hat eine Seifenblasenmaschine mitgebracht. Sie ist eigentlich eine Pistole, roter Griff, gelber Lauf. Jetzt schießt sie, von Kinderhand bedient und Erwachsenenhand befüllt, ein schillernd-durchsichtiges Feuerwerk nicht in den Himmel, sondern vor die Nasen der erregten kleinen Zuschauer). Aber verschwinden nicht eher die Eltern als die Kinder? „… wie einst Buddha sprach, als ihm die Geburt eines Sohns gemeldet wurde: »Râhula ist mir geboren, eine Fessel ist mir geschmiedet« …“ heißt es in Friedrich Nietzsches Zur Genealogie der Moral im Essay über die asketischen Ideale. „… »eng bedrängt«, dachte er bei sich, »ist das Leben im Hause, eine Stätte der Unreinheit; Freiheit ist im Verlassen des Hauses«:»dieweil er also dachte, verließ er das Haus«.“ Einer Jātaka, Geburtsgeschichte nach vergnügte sich der spätere Buddha gerade an den Ufern des königlichen Teichs, als ihn die Nachricht über die Geburt seines Sohns erreichte. Und schon fiel seine Entscheidung zur Weltflucht. Für einen Moment zögerte er, wollte vor seiner Weltflucht doch noch seinen Sohn betrachten, fand ihn an der Brust seiner Mutter schlafend und dachte: „Wenn ich die Hand der Fürstin entferne, um meinen Sohn zu nehmen, so wird die Fürstin erwachen und es würde mir dadurch ein Hindernis für meinen Weggang entstehen. Wenn ich Buddha geworden bin, werde ich wiederkommen und ihn sehen.“ Diente also der Fortgang, die Abwendung vom Familienleben, die endgültige Erleuchtung des Bodhisattva damit nicht eigentlich der Errettung seines Sohns, ja, der ganzen Menschheit? Kann die Menschheit nicht anders erlöst werden, als durch zeitweiliges Verschwinden der Erzeuger, die dann für lange Zeit die Retter sein werden? (Ob die Mütter eines Tages ähnlich geschickt und geschwind im Verschwinden sein werden wie die Väter?) Nietzsche jedenfalls betrachtet die selbstverordnete Askese des Buddha und all der anderen Erlöser, Philosophen, Stifter so: „er verneint nicht damit »das Dasein«, er bejaht darin vielmehr sein Dasein und nur sein Dasein, und dies vielleicht bis zu dem Grade, daß ihm der frevelhafte Wunsch nicht fern bleibt: pereat mundus, fiat philosophia, fiat philosphus, f i a m! …“ Die Weltflucht ist Familienflucht, Alltagsflucht, Gemeinsamkeitsflucht? In diesem Konzept von Erkenntnis, Erweiterung, Erleuchtung verschwinden die Kinder, die Babys. Die Angst, sie könnten geraubt werden, ist ebenso die Angst der Beraubten und Geraubten. Das Leben außerhalb (des Spielplatzes!) zu suchen ist eine so eigenartige Vorstellung, als wollte man das eigene Kindsein nicht wahr haben. Zugleich die Angst das Kindsein zu verlieren: würde uns unser eigenes Kind geraubt, würden wir selbst geraubt. Ein Raub, der niemals wieder gut zu machen wäre. Im Zarathustra sagt Nietzsche: „Ich habe eine Frage für dich allein, mein Bruder: … Du bist jung und wünscht dir Kind und Ehe. Aber ich frage dich: bist du ein Mensch der ein Kind sich wünschen darf? Bist du der Siegreiche, der Selbstbezwinger, der Gebieter der Sinne, der Herr deiner Tugenden? … Ich will, daß dein Sieg und deine Freiheit sich nach einem Kinde sehne … Über dich sollst du hinausbauen … Ehe: so heiße ich den Willen zu zweien, das Eine zu schaffen, das mehr ist, als die die es schufen …“ Am Ende ist es wieder die Sehnsucht nach dem Übermenschen (der wo beginnt? Im Überbaby? Überbaby gefällt uns viel besser als Übermensch, Überbaby klingt nach einem Witz, über den der Übermensch nicht verfügt). Buddhas Flucht und Zarathustras Selbstüberwindung ähneln sich, der Wunsch nach Größe, Verbesserung, Vervollkommnung, nach tiefster Läuterung und höchster Genesung findet sich bei beiden. Und die Blindheit vor Ort. Dem Blick des Boddhisattva engeht der Buddha, der Meister zu seinen Füßen, an der Brust seiner Frau liegt er, unschuldig und fromm harrt er der Entscheidung seines (oh ja, auch er ist einer) Schülers. Der Boddhisattva betrachtet sein Kind und liest dessen erste Lehre aber als: Fliehe mich, Vater! Zarathustra möchte den reifen (den überreifen) Menschen als erstes Glied der Zeugung, des Schaffens, des Fortgangs der Welt. Beides ist Folge des Umstandes, dass das Baby, das Kind schon geraubt worden ist, schon abhanden gekommen, schon verschwunden (und die Angst, ein Kind könnte geraubt werden, ist also eine Rückkehr an diesen Ursprung). (So gehen wir vom Spielplatz nach Hause: Es gibt nichts Schöneres, als die Welt umzudeuten. Sage ich zu meinem merkwürdig schweigsamen Sohn, der auch heute wieder nicht verschwunden ist, der auch heute wieder dem Räuber entgangen ist. Keinen Laut gibt er von sich, kein Gebrabbel. Es ist ja nicht so, dass er ein Vielredner wäre, dazu fehlt es ihm noch an Sprache. Aber auch das Schweigen des Babys ist ja sprechend oder nicht sprechend. Heute ist es stumm. Endlich begreife ich: die alte, längst vergessene Leidenschaft des Steinlutschens ist wieder zurückgekehrt. Dick beult sich die rechte Backe und auf meinen, ich-verstehe-Blick hin, öffnet unser Baby kurz den Mund und schiebt den Stein mit der Zunge nach vorne. Glänzender Stein auf Zunge im zarten Schein des Abendrots.)

DAS ZWEITE JAHR – 30

30

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Unser spielendes, turnendes, kletterndes Baby. Überall auf den Spielplätzen finden sich diese großen und kleinen Klettergerüste, die Häuschen, Stangen, Seile. Auch überall sonst gibt es etwas zum Greifen für Hand und Fuß (Hand und Fuß: sie liegen, stehen, haben sich noch ganz nahe, benehmen sich ähnlich, berühren sich gerne, würden sich manchmal am liebsten verknoten. Treppenstufen, Vorgartenzäune, Mäuerchen, Rampen zur Kirche hinauf und in den Laden des Getränkehändlers hinein, Bordsteine, Wandgitter, Fallrohre der Regenrinnen, Kellerfenster, große Steine gegen wildes Parken, Stühle und Bänke auf Freischankflächen, die Schütten vor den Buchläden mit dem Querbrett unten drin, Einkaufswagen, Blumenkübel … Alles könnte erklettert werden, einen Versuch ist es wert, manchmal scheint der Blick unseres Babys nur seinen kletterlustigen Gliedmaßen zu dienen, der Abschätzung, ob und wie diese Wand oder jenes Geländer geeignet sind, Zehen und Finger zu spreizen, einzuhaken und fest zusammen zu schließen (wir nennen es immer noch Baby, zärtlich, sentimental, klettern ein bißchen selbst an unserem Baby hoch, als könnten wir so sein Schwinden, Verschwinden aufhalten. Das Ziel seines Kletterns ist der Aufstieg, das Hinauf ist unendliche Verführung. Vielleicht klettert es auch nur dort hin, wo es eigentlich zu Hause ist: in der Höhe. Das ist etwas paradox. Um dorthin zu gelangen, wo es eigentlich zu Hause ist, muss es mehr sein als ein kleines kriechendes, krabbelndes Baby. Also, denken wir, kann es sein Ziel nur verpassen. Und das mit größtem Eifer, größter Lust und Freude. Sicherlich mißverstehen wir unser Baby einmal mehr, was wir als für uns vorteilhaft deuten; solange wir es mißverstehen, ist es und bleibt es unser Baby. So schnell geht uns unser Meister nicht verloren). Und doch, bei aller Begeisterung übers Klettern, widerstrebt unserem Baby die Routine, die automatische Wiederholung, das Zwangsläufige (beim Anblick der nächsten Klettergelegenheit). Uns im ersten Moment (und ein paar Momente mehr) plötzlich erscheinend, zögert unser Baby heute, betrachtet das bunte Häuschen mit der senkrechten Leiter, nähert sich ihm jedoch nicht, kehrt sogar um, sammelt ein Stöckchen auf, untersucht es, zieht die Rinde ab und lässt es wieder fallen. Danach kommt es auf unsere Decke zurück, steckt sich zwei Trauben in die Backe und unternimmt nichts weiter. Unser Baby ist kein Sportler. Es verspürt keinen Zwang, etwas, das ihm gefällt, zwangsläufig wiederholen zu müssen, es kennt keinen Gedanken, der ihm einen Trainigsplan aufnötigt, die oberste Sprosse ist kein Ziel für es, das es innerhalb der nächsten Woche zu erreichen gilt. Und doch wird es diese Sprosse erklettern, es scheint einer Art natürlicher, absichtsloser Zielsetzung zu folgen, die umso mehr verblüfft, da sie sich von einem Mal zum anderen Mal plötzlich zu erfüllen scheint. Und es gibt wohl eine Tagesform, der sich unser Baby keinesfalls widersetzt. Fließt seine Energie langsam, gering, tief, lässt es sich weder durch unseren Zuspruch, noch durch eigenen Wunsch dazu überreden, aktiver zu sein, als dieser Tagesform entsprechend. Nichts liegt ihm ferner, als ein für den eigenen Zustand blindes Training und doch verliert es die oberste Sprosse nie aus dem Auge, selbst wenn es zwei Wochen lang scheint, als hätte es jedes Interesse an ihr verloren, ja, als wüsste es nichts von dieser Sprosse (unser Baby, behaupten wir bewundernd und durchaus pathetisch, ist ein Sportler, der aus Freiheit erreicht, wozu der erwachsene Sportler sich zwingt und seinen Willen braucht; im ausgeschlossenen Aufgeben ähneln sich die beiden wiederum sehr und auch in dem: einmal ein Ziel erreicht zu haben, führt bald dazu, sich ein neues zu suchen. Gar nichts hält es vom Bewahren des einmal Bewältigten, Ruhm ist ihm fremd, seine Freude nach dem erfüllten Ziel ist wirklich nur augenblicklich, niemandem erzählt es von seinen Heldentaten, es ist froh, dass ihn die Sprache für solche Erzählungen nicht braucht. Vielmehr als alles andere ist das Erreichte Vergangenheit, gute Vergangenheit, ganz und gar vergangene Vergangenheit und genau deswegen Ursprung des Neuen, des ganz und gar neuen Ziels, ebenso im Augenblick entstehend). Hier kommt unser Ehrgeiz ins Spiel (den wir nur zu gerne auf unser Baby übertragen wollten. Eine kleine Dosis davon mag nicht schaden, aber es im Ganzen zu tun, wäre eine Dummheit), unser Ehrgeiz, der immer auch ein Übereilen ist. Unserem Baby Zeit zu lassen, seine Zeit zu lassen; wie oft (nicht zu oft glücklicherweise, denn unsere Erziehung durch unser Baby hat schon einige Früchte getragen) ertappen wir uns bei Ratschlägen oder auf dem Klettergerüst beim Vorschlagen von Handgriffen, die nur Ausdruck unserer Ungeduld und Unruhe sind, unserem Besserwissen und unseren Ambitionen entspringen. Unser Baby weiß, was es tut (braucht es Hilfe, wird es sich melden). Laut der Ärztin und Pädagogin Emmi Pikler ist es eine Frage des Friedens. Niemals ist der Mensch friedlicher, als wenn ihm möglich gemacht wird, sich selbst zu entdecken, seine Fähigkeiten selbst zu entwickeln, bei sich zu bleiben im Großwerden. Emmi Pikler zeigt uns in fünf Bildern einen zwei Jahre alten Jungen, wie er einen kleinen Tisch erklettert und sich oben aufrichtet. In dem Maße es (das Kind) beim Klettern höher und höher gelangt, wird es allmählich immer vorsichtiger. Es kennt die Unsicherheit des Tisches, es kennt die Gefahren. Es spielt und turnt zugleich. Auf jedem der einzelnen fünf Bilder sehen wir vollkommene Turnleistungen. Dieses Kind lässt man ruhig spielen. Niemand schreit es an, niemand holt es vom Tisch herunter. Doch ist es sich im klaren, daß es selber auf sich bei solchen Unternehmungen achtgeben muß. Dementsprechend verhält es sich auch. Es gibt auf sich acht. Wir können sicher sein, daß ihm nichts passieren wird. Wir können sicher sein, daß ihm nichts passieren wird. Wir können sicher sein, dass unserem Baby nichts passieren wird! Welch Trost und Vertrauen! (Da winkt uns unser Baby von oben zu, von dem kleinen Balkon im Kletterhäuschen aus, nachdem es die Schräge mit den knubbeligen Haltegriffen überwunden hat, die schwierige Schwelle zu den ebenen Brettern und das Gewackel der Seilbrücke – es winkt uns zu und sein Winken reicht weit über uns hinaus.)

Our playing, climbing gymnast of a baby. Everywhere in the playgrounds there are these big and small jungle gyms, the little houses, bars, ropes. Everywhere else, too, there is something to grasp hold of for hand and foot (hand and foot; they still lie and stand and hold close to each other, behave similarly, like to stay in touch, seem at times intent on knotting themselves together). Stairways, front yard fences, little walls, ramps leading up to the church and into the liquor store, curbstones, wall grills, the downspouts of rain gutters, cellar windows, large stones set up to prevent wild parking, stairs and benches in outdoor taverns, the chutes in front of libraries with the transverse board at the bottom, shopping carts, flower tubs . . . Everything might conceivably be climbed, it’s worth a try, sometimes our baby’s glance seems only to serve his limbs’ love of climbing, to assess the possible use of  this wall or that railing for the spreading and clasping and gripping of fingers and toes (we still call him baby, tenderly, sentimentally, even climb upward a little alongside our baby ourselves, as though in this way we could hold back his vanishing, his disappearance). The goal of his climbing is ascendance itself, the vertical rise is an infinite enticement. Perhaps he is only climbing to where he is essentially at home: height. This is a bit of a paradox. To get to where he is essentially at home, he needs to be more than a creeping, crawling little baby. Therefore, we think, he can only miss his goal. And this with the greatest eagerness, the greatest pleasure and joy. Surely we’re misunderstanding our baby once again, a possibility we interpret as being to our advantage; as long as we misunderstand him, he is and remains our baby. This Master won’t be lost to us so soon). And yet, with all his enthusiasm for climbing, our baby resists routine, automatic repetition, the force of compulsion (in view of the next opportunity for climbing). And today – suddenly, it seems to us at the first moment (and for a few moments more) — our baby hesitates, observes the colorful little house with the vertical ladder but doesn’t approach it and even turns around, picks up a twig, examines it, pulls off its bark, and drops it. Thereupon he returns to our blanket, stuffs two grapes into his cheeks, and undertakes nothing further. Our baby is not a sportsman. He feels no compulsion to repeat something he likes again and again, he is unacquainted with the kind of thinking that would impose a regimen of training, the uppermost rung is not, for him, a goal that must be reached within a week. And yet he will reach that rung, he seems to be following a natural, unintentional trajectory, which is all the more astonishing as it seems to find its goal suddenly again and again. And there seem to be variations of fitness, like those of athletes, from day to day. When his energy flows slowly, with less intensity, at a deep level, no encouragement from us, nor even his own desire, can persuade him to be more active than his momentary fitness will permit. Nothing is further from his mind than some training or regimen not fitted to his own state and condition, and yet he never loses sight of the uppermost rung, even if for two weeks it seems as if he has lost all interest in it, in fact as if he knew nothing of this rung (our baby, we assert, full of admiration and not without pathos, is an athlete who achieves, as an effortless outflow of his freedom, what an adult athlete forces himself to achieve with an effort of will; on the other hand, the two are very similar in the way that for them, giving up is out of the question, and also in a second respect: that once they have reached a goal, they look for a new one. He is completely uninterested in holding on to what he has attained, he knows nothing of fame, his pleasure in an achieved goal is truly only for the moment, he tells no one about his heroic deeds, he is glad that language does not need him for the telling of such stories. Attainment is, to a much greater degree than anything else, a thing of the past, a good past, an utterly past past, and precisely for this reason a source for the new, for the utterly and completely new goal, which also arises in the moment). Here our ambition comes into play (which we would only be too keen to confer to our baby. A small dose of it may not do much harm, but to do it whole hog would be more than foolish), our ambition, which is always also a form of haste. To give our baby time to take his time; how often (not too often, happily, for the education we have received from our baby has already borne some fruits) we catch ourselves giving advice or recommending ways of grasping the bars of the jungle gym that are only an expression of our impatience and unrest, our know-it-all insecurity and our ambition. Our baby knows what he is doing (if he needs help, he will let us know). According to the pediatrician and pedagogue Emmi Pikler, it is a matter of peace. Never is a human being more peaceful than when he is enabled to discover himself, to develop his capacities by himself, to be at home with himself while growing up. In five pictures, Emmi Pikler shows us a two-year-old boy climbing a small table and standing up on top of it. As he climbs higher and higher, he gradually becomes more careful. He knows the table is not safe, he understands the dangers of climbing it. He is both playing and performing a gymnastic feat. On each of the five pictures we see perfect demonstrations of athletic skill. This child is being allowed to play in peace. No one is shouting at him, no one is pulling him off the table. Yet he is well aware that he himself needs to be careful with such activities. And he behaves accordingly. He takes care of himself. We can be sure that no harm will befall him. We can be sure that no harm will befall him. We can be sure that no harm will befall our baby! What consolation and assurance! (And just now our baby waves to us from above, from the little balcony in the house built for climbing, after he has mastered the incline with the knobbly handholds, the difficult threshold to the level boards and the swaying of the rope bridge – he waves to us and his waving reaches far beyond us.)

DAS ZWEITE JAHR – 29

29

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Du Sohn, ich Vater! So beginnt Tradition (die längst begonnen hat, aber am liebsten im stillen Hintergrund ihre Kontinuität spinnt): ich bin einige Jahre länger da, meine Zeit geht der Zeit unseres Babys voran, der Augenblick meiner eigenen Geburt, ja, Auferstehung, Entstehung, meiner Selbstschöpfung, meines Geschöpftwerdens, meines Traumeintritts, meines Denkanfangs, meines ersten Gefühls – all das war da, bevor das Baby da war, bevor es selbst mit all dem daherkam, sich zeigte, sich zu uns neigte. Sohn, Vater, Vater, Sohn, so geht es fort und immer weiter (und es zeigt sich in dieser kleinen Relation Vater-Sohn oder Sohn-Vater, wie undenkbar das Leben und sein Fortgang sich erweisen. Wie soll man das verstehen, dass der Vater ein Sohn war, selbst bevatert von einem Vater, der selbst Sohn war? Eine so unmögliche Aufgabe für jedes Nachdenken, dass es doch naheliegt, in ihr etwas sanft Ironisches zu vermuten, das sich um so mehr verstärkt, wenn ich meinem Sohn in die Augen blicke, in die tiefe Vergangenheit seines Augenlichts, wie in sein weites zukünftiges Strahlen. Ich erkenne mich wieder in meinem Sohn und ich glaube behaupten zu dürfen, – wenn auch auf andere Weise – mein Sohn erkennt sich in mir, seinem Vater wieder. „Denn dem Menschen ist am Wiedererkennen gelegen; er möchte das Alte im Neuen wiederfinden und das Typische im Individuellen. Darauf beruht alle Traulichkeit des Lebens, welches als vollkommen neu, einmalig und individuell sich darstellend, ohne daß es die Möglichkeit böte, Altvertrautes darin wiederzufinden, nur erschrecken und verwirren könnte.“  schreibt Thomas Mann in seiner Rede zum 80sten Geburtstag Sigmund Freuds, betitelt Freud und die Zukunft. Eine ebenso kluge wie rührende Rede, die der eine Sohn dem anderen Sohn, da er an der Festveranstaltung zu seinem  eigenen Geburtstag nicht teilnehmen wollte, bald danach persönlich in (Wien-)Grinzing vorlas. Oder der eine Vater las dem anderen Vater seine Rede vor. Oder vielleicht so: Der eine liest als Sohn dem anderen, neunzehn Jahre älteren Vater seine Rede vor. Eine Rede, die eine tiefe Verneigung ist, so tief, wie sich nur liebende Söhne vor ihren Vätern verneigen können. Um dann in der folgenden – und innewohnenden – Aufrichtung sich als selbstbewußter Sohn zu zeigen und zu äußern: der Dichter spricht zum Analytiker und der hört – naturgemäß – zu. Diese Verneigung und Aufrichtung ist auch insofern naturgemäß, als der Analytiker der Ältere und der Dichter der Jüngere ist, obwohl zugleich zuerst der Dichter dagewesensein muß, bevor der Analytiker die Bühne betreten konnte. Unser seinem Babysein entwachsendes Baby ist beides in einem. Unermüdlicher Analytiker, der vor aller zu öffnender Metaphorik ersteinmal jede Art von Tür, Tor, Lade, Klappe, Clip etc. in ihren simplen oder komplizierten Mechanismen erkunden und ergründen will und diese Forschung mit ebenso unermüdlicher Dichtung, die sich von selbst in seiner Kehle und auf seiner Zunge zu erfinden scheint, begleitet. Eine Dichtung, die die Worte wiederholt und wiederholt, knetet und formt, damit sie deutliche Gestalt bekommen und so vielleicht behalten können. Eine Dichtung, die aber auch bereits erfindet, das ist nur zu sehen in der Beteiligung des ganzen Gesichts, des ganzen Körpers und dem Sternenfunkeln der Augen. Mein Sohn, denke ich, und augenblicklich kehrt Ruhe in mich ein. Sein kleiner Zeh dichtet nicht schlechter als seine Oberlippe, die er gerne ein wenig hochzieht, wenn er spricht und lacht. Unser Sohn sieht uns ganz, das heißt nicht nur, dass er uns ganz sieht, sondern uns nicht nur mit dem Auge, vielmehr mit seinem ganzen Körper betrachtet – vielleicht ist es das, seine stets zugleich körperhafte Geistigkeit, die erst die große Verbindung zwischen uns stiftet). Du Sohn, ich Vater! Kaum ausgesprochen, schon ist der Mythos lebendig. Mein Sohn: genauso geistige wie körperliche Verbundenheit, Reihung, Nachfolge. Wie aber nun, schreibt Thomas Mann, wenn der mythische Aspekt sich subjektivierte, ins agierende Ich selber einginge und darin wach wäre, so daß es mit freudigem oder düsterem Stolze sich seiner „Wiederkehr“, seiner Typik bewußt wäre, seine Rolle auf Erden zelebrierte und seine Würde ausschließlich in dem Wissen fände, das Gegründetet im Fleisch wieder vorzustellen, es wieder zu verkörpern? Und: Das Leben, jedenfalls das bedeutende Leben, war also in antiken Zeiten die Wiederherstellung des Mythus in Fleisch und Blut … Der Mytus ist die Legitimation des Lebens; erst durch ihn und in ihm findet es sein Selbstbewußtsein, seine Rechtfertigung und Weihe. Komm her Sohn, rufe ich, komm her, lass uns unser bedeutendes Leben betrachten! Lass uns den weiten Rückgriff wie den weiten Vorgriff spüren, wie uns beide an Anfang und Ende des Universums jagen, um uns im nächsten Augenblick hierher zurückzuholen. Wir zelebrieren das gemeinsam und jeder für sich und sei es nur, wenn du versuchst auf meine Rücken zu klettern, frühmorgens bei unseren gymnastischen Übungen und ich dich auf mir liegen lassen und meine Dehnung und Streckung unterbreche. Deine Körperwärme, meine Körperwärme. Die Grenzen unserer Körper sind nur undeutlich bestimmbar, als wäre die je eigene Körperoberfläche die je eigene Illusion. Mit Geist aufgeladener Körper sind wir und haben unseren Spaß dabei so zu tun, als wären wir zwei. Der Mythos also beginnt zum Beispiel, wenn wir so beisammen sind, mein Rücken dich trägt, dich, der stolz seine Rolle auf Erden zelebriert, ganz unfeierlich-feierlich im ganz und gar Gewöhnlichen eines beliebigen Morgens. (Tatsächlich kann ich den Stolz heranwachsen sehen im Heranwachsen unseres Babys. Er ist vielleicht entscheidend für die Überwindung des Babys und den Einstieg in den Mythos, in unsere kleine Tradition, die wir im Schatten dieser beiden großen Männer erfinden. Im Schatten: denn dort ist es kühl und die Gedanken überhitzen nicht so leicht.)