DAS ZWEITE JAHR – 30

30

Das erste Jahr Babybuddha jetzt auf:

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Unser spielendes, turnendes, kletterndes Baby. Überall auf den Spielplätzen finden sich diese großen und kleinen Klettergerüste, die Häuschen, Stangen, Seile. Auch überall sonst gibt es etwas zum Greifen für Hand und Fuß (Hand und Fuß: sie liegen, stehen, haben sich noch ganz nahe, benehmen sich ähnlich, berühren sich gerne, würden sich manchmal am liebsten verknoten. Treppenstufen, Vorgartenzäune, Mäuerchen, Rampen zur Kirche hinauf und in den Laden des Getränkehändlers hinein, Bordsteine, Wandgitter, Fallrohre der Regenrinnen, Kellerfenster, große Steine gegen wildes Parken, Stühle und Bänke auf Freischankflächen, die Schütten vor den Buchläden mit dem Querbrett unten drin, Einkaufswagen, Blumenkübel … Alles könnte erklettert werden, einen Versuch ist es wert, manchmal scheint der Blick unseres Babys nur seinen kletterlustigen Gliedmaßen zu dienen, der Abschätzung, ob und wie diese Wand oder jenes Geländer geeignet sind, Zehen und Finger zu spreizen, einzuhaken und fest zusammen zu schließen (wir nennen es immer noch Baby, zärtlich, sentimental, klettern ein bißchen selbst an unserem Baby hoch, als könnten wir so sein Schwinden, Verschwinden aufhalten. Das Ziel seines Kletterns ist der Aufstieg, das Hinauf ist unendliche Verführung. Vielleicht klettert es auch nur dort hin, wo es eigentlich zu Hause ist: in der Höhe. Das ist etwas paradox. Um dorthin zu gelangen, wo es eigentlich zu Hause ist, muss es mehr sein als ein kleines kriechendes, krabbelndes Baby. Also, denken wir, kann es sein Ziel nur verpassen. Und das mit größtem Eifer, größter Lust und Freude. Sicherlich mißverstehen wir unser Baby einmal mehr, was wir als für uns vorteilhaft deuten; solange wir es mißverstehen, ist es und bleibt es unser Baby. So schnell geht uns unser Meister nicht verloren). Und doch, bei aller Begeisterung übers Klettern, widerstrebt unserem Baby die Routine, die automatische Wiederholung, das Zwangsläufige (beim Anblick der nächsten Klettergelegenheit). Uns im ersten Moment (und ein paar Momente mehr) plötzlich erscheinend, zögert unser Baby heute, betrachtet das bunte Häuschen mit der senkrechten Leiter, nähert sich ihm jedoch nicht, kehrt sogar um, sammelt ein Stöckchen auf, untersucht es, zieht die Rinde ab und lässt es wieder fallen. Danach kommt es auf unsere Decke zurück, steckt sich zwei Trauben in die Backe und unternimmt nichts weiter. Unser Baby ist kein Sportler. Es verspürt keinen Zwang, etwas, das ihm gefällt, zwangsläufig wiederholen zu müssen, es kennt keinen Gedanken, der ihm einen Trainigsplan aufnötigt, die oberste Sprosse ist kein Ziel für es, das es innerhalb der nächsten Woche zu erreichen gilt. Und doch wird es diese Sprosse erklettern, es scheint einer Art natürlicher, absichtsloser Zielsetzung zu folgen, die umso mehr verblüfft, da sie sich von einem Mal zum anderen Mal plötzlich zu erfüllen scheint. Und es gibt wohl eine Tagesform, der sich unser Baby keinesfalls widersetzt. Fließt seine Energie langsam, gering, tief, lässt es sich weder durch unseren Zuspruch, noch durch eigenen Wunsch dazu überreden, aktiver zu sein, als dieser Tagesform entsprechend. Nichts liegt ihm ferner, als ein für den eigenen Zustand blindes Training und doch verliert es die oberste Sprosse nie aus dem Auge, selbst wenn es zwei Wochen lang scheint, als hätte es jedes Interesse an ihr verloren, ja, als wüsste es nichts von dieser Sprosse (unser Baby, behaupten wir bewundernd und durchaus pathetisch, ist ein Sportler, der aus Freiheit erreicht, wozu der erwachsene Sportler sich zwingt und seinen Willen braucht; im ausgeschlossenen Aufgeben ähneln sich die beiden wiederum sehr und auch in dem: einmal ein Ziel erreicht zu haben, führt bald dazu, sich ein neues zu suchen. Gar nichts hält es vom Bewahren des einmal Bewältigten, Ruhm ist ihm fremd, seine Freude nach dem erfüllten Ziel ist wirklich nur augenblicklich, niemandem erzählt es von seinen Heldentaten, es ist froh, dass ihn die Sprache für solche Erzählungen nicht braucht. Vielmehr als alles andere ist das Erreichte Vergangenheit, gute Vergangenheit, ganz und gar vergangene Vergangenheit und genau deswegen Ursprung des Neuen, des ganz und gar neuen Ziels, ebenso im Augenblick entstehend). Hier kommt unser Ehrgeiz ins Spiel (den wir nur zu gerne auf unser Baby übertragen wollten. Eine kleine Dosis davon mag nicht schaden, aber es im Ganzen zu tun, wäre eine Dummheit), unser Ehrgeiz, der immer auch ein Übereilen ist. Unserem Baby Zeit zu lassen, seine Zeit zu lassen; wie oft (nicht zu oft glücklicherweise, denn unsere Erziehung durch unser Baby hat schon einige Früchte getragen) ertappen wir uns bei Ratschlägen oder auf dem Klettergerüst beim Vorschlagen von Handgriffen, die nur Ausdruck unserer Ungeduld und Unruhe sind, unserem Besserwissen und unseren Ambitionen entspringen. Unser Baby weiß, was es tut (braucht es Hilfe, wird es sich melden). Laut der Ärztin und Pädagogin Emmi Pikler ist es eine Frage des Friedens. Niemals ist der Mensch friedlicher, als wenn ihm möglich gemacht wird, sich selbst zu entdecken, seine Fähigkeiten selbst zu entwickeln, bei sich zu bleiben im Großwerden. Emmi Pikler zeigt uns in fünf Bildern einen zwei Jahre alten Jungen, wie er einen kleinen Tisch erklettert und sich oben aufrichtet. In dem Maße es (das Kind) beim Klettern höher und höher gelangt, wird es allmählich immer vorsichtiger. Es kennt die Unsicherheit des Tisches, es kennt die Gefahren. Es spielt und turnt zugleich. Auf jedem der einzelnen fünf Bilder sehen wir vollkommene Turnleistungen. Dieses Kind lässt man ruhig spielen. Niemand schreit es an, niemand holt es vom Tisch herunter. Doch ist es sich im klaren, daß es selber auf sich bei solchen Unternehmungen achtgeben muß. Dementsprechend verhält es sich auch. Es gibt auf sich acht. Wir können sicher sein, daß ihm nichts passieren wird. Wir können sicher sein, daß ihm nichts passieren wird. Wir können sicher sein, dass unserem Baby nichts passieren wird! Welch Trost und Vertrauen! (Da winkt uns unser Baby von oben zu, von dem kleinen Balkon im Kletterhäuschen aus, nachdem es die Schräge mit den knubbeligen Haltegriffen überwunden hat, die schwierige Schwelle zu den ebenen Brettern und das Gewackel der Seilbrücke – es winkt uns zu und sein Winken reicht weit über uns hinaus.)

Our playing, climbing gymnast of a baby. Everywhere in the playgrounds there are these big and small jungle gyms, the little houses, bars, ropes. Everywhere else, too, there is something to grasp hold of for hand and foot (hand and foot; they still lie and stand and hold close to each other, behave similarly, like to stay in touch, seem at times intent on knotting themselves together). Stairways, front yard fences, little walls, ramps leading up to the church and into the liquor store, curbstones, wall grills, the downspouts of rain gutters, cellar windows, large stones set up to prevent wild parking, stairs and benches in outdoor taverns, the chutes in front of libraries with the transverse board at the bottom, shopping carts, flower tubs . . . Everything might conceivably be climbed, it’s worth a try, sometimes our baby’s glance seems only to serve his limbs’ love of climbing, to assess the possible use of  this wall or that railing for the spreading and clasping and gripping of fingers and toes (we still call him baby, tenderly, sentimentally, even climb upward a little alongside our baby ourselves, as though in this way we could hold back his vanishing, his disappearance). The goal of his climbing is ascendance itself, the vertical rise is an infinite enticement. Perhaps he is only climbing to where he is essentially at home: height. This is a bit of a paradox. To get to where he is essentially at home, he needs to be more than a creeping, crawling little baby. Therefore, we think, he can only miss his goal. And this with the greatest eagerness, the greatest pleasure and joy. Surely we’re misunderstanding our baby once again, a possibility we interpret as being to our advantage; as long as we misunderstand him, he is and remains our baby. This Master won’t be lost to us so soon). And yet, with all his enthusiasm for climbing, our baby resists routine, automatic repetition, the force of compulsion (in view of the next opportunity for climbing). And today – suddenly, it seems to us at the first moment (and for a few moments more) — our baby hesitates, observes the colorful little house with the vertical ladder but doesn’t approach it and even turns around, picks up a twig, examines it, pulls off its bark, and drops it. Thereupon he returns to our blanket, stuffs two grapes into his cheeks, and undertakes nothing further. Our baby is not a sportsman. He feels no compulsion to repeat something he likes again and again, he is unacquainted with the kind of thinking that would impose a regimen of training, the uppermost rung is not, for him, a goal that must be reached within a week. And yet he will reach that rung, he seems to be following a natural, unintentional trajectory, which is all the more astonishing as it seems to find its goal suddenly again and again. And there seem to be variations of fitness, like those of athletes, from day to day. When his energy flows slowly, with less intensity, at a deep level, no encouragement from us, nor even his own desire, can persuade him to be more active than his momentary fitness will permit. Nothing is further from his mind than some training or regimen not fitted to his own state and condition, and yet he never loses sight of the uppermost rung, even if for two weeks it seems as if he has lost all interest in it, in fact as if he knew nothing of this rung (our baby, we assert, full of admiration and not without pathos, is an athlete who achieves, as an effortless outflow of his freedom, what an adult athlete forces himself to achieve with an effort of will; on the other hand, the two are very similar in the way that for them, giving up is out of the question, and also in a second respect: that once they have reached a goal, they look for a new one. He is completely uninterested in holding on to what he has attained, he knows nothing of fame, his pleasure in an achieved goal is truly only for the moment, he tells no one about his heroic deeds, he is glad that language does not need him for the telling of such stories. Attainment is, to a much greater degree than anything else, a thing of the past, a good past, an utterly past past, and precisely for this reason a source for the new, for the utterly and completely new goal, which also arises in the moment). Here our ambition comes into play (which we would only be too keen to confer to our baby. A small dose of it may not do much harm, but to do it whole hog would be more than foolish), our ambition, which is always also a form of haste. To give our baby time to take his time; how often (not too often, happily, for the education we have received from our baby has already borne some fruits) we catch ourselves giving advice or recommending ways of grasping the bars of the jungle gym that are only an expression of our impatience and unrest, our know-it-all insecurity and our ambition. Our baby knows what he is doing (if he needs help, he will let us know). According to the pediatrician and pedagogue Emmi Pikler, it is a matter of peace. Never is a human being more peaceful than when he is enabled to discover himself, to develop his capacities by himself, to be at home with himself while growing up. In five pictures, Emmi Pikler shows us a two-year-old boy climbing a small table and standing up on top of it. As he climbs higher and higher, he gradually becomes more careful. He knows the table is not safe, he understands the dangers of climbing it. He is both playing and performing a gymnastic feat. On each of the five pictures we see perfect demonstrations of athletic skill. This child is being allowed to play in peace. No one is shouting at him, no one is pulling him off the table. Yet he is well aware that he himself needs to be careful with such activities. And he behaves accordingly. He takes care of himself. We can be sure that no harm will befall him. We can be sure that no harm will befall him. We can be sure that no harm will befall our baby! What consolation and assurance! (And just now our baby waves to us from above, from the little balcony in the house built for climbing, after he has mastered the incline with the knobbly handholds, the difficult threshold to the level boards and the swaying of the rope bridge – he waves to us and his waving reaches far beyond us.)

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