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Das erste Jahr Babybuddha jetzt auf:
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Natürlich (und wahrscheinlich natürlicherweise) haben wir Angst um unser Baby. Das ist nichts Diffuses, nichts Eingebildetes, nicht einmal etwas Neurotisches. Die Angst meldet sich plötzlich, vermittelt durch eine Vorstellung, durch ein Gedankengespinst oder eine überraschende Einsicht (in die Größe des Lebens, seine Gefährdung, seine Illusion, seine harte Realität). (Eine der häufigsten, auf Spielplätzen zu belauschende Ängste ist die Befürchtung, das eigene Kind könnte geraubt werden. Der Dieb oder die Diebin nähern sich unauffällig, unsichtbar, wenn das Kind sich aus dem Blick von Mutter oder Vater entfernt hat, wenn es zum Türchen der Umzäunung gelaufen ist oder bereits auf den Gehweg hinaus, dann greift der Dieb oder die Diebin nach dem Kind und fort ist es, für immer verschwunden, unauffindbar. Schrecklicher noch als die Fantasien, was mit dem Kind geschehen könnte, ist die gemeine Gewissheit darüber, dass es niemals wiederkehren wird. Es ist weg, spurlos, geradezu aufgelöst. Die Überzeugung, diese Gefahr des Kindsraub könnte wirklich bestehen, ist riesig. Auch wenn man niemanden kennt, dem es zugestoßen ist, ist diese Gefahr höchst glaubwürdig. Hat man nicht schon oft darüber gelesen? Nicht nur in Diktaturen verschwinden und verschwanden Menschen, Kinder, Babys – in Serbien, Argentinien, China … – oder durch schreckliche Unfälle, es kann überall geschehen. Das Leben an sich ist vom Verschwinden bedroht, wo könnte sich diese Drohung deutlicher zeigen, als an einem Wesen, einem kleinen Menschen, der – so scheint es – nicht auf sich selbst aufpassen kann? Der einzige verbliebene Feind des Menschen – vielleicht war er ja überhaupt zu allen Zeiten der einzige – ist ein anderer Mensch. Also lauert die Gefahr an jedem Ort, auch an unserem, soweit friedlichen, an dem niemals Kinder geraubt werden, wie wir zu wissen glauben. Vielmehr, die Angst existiert auch ohne die realen Verhältnisse, ohne Bedrohung, ohne Erfahrung, ohne Kenntnisse. Und dann zerplatzt sie. War sie eben noch riesig, ist sie im nächsten Augenblick nicht einmal mehr winzig. Zerplatzt, verschwunden, aufgelöst – und in dieser Plötzlichkeit, mit der sie verschwindet, gleicht sie dem, was sie gerade noch herbeifantasiert hat. Und die Erleichterung, dass das für Sekunden verschwundene Kind jetzt wieder bei uns steht, ist demzufolge kaum spürbar. Die Angst ist zerplatzt und das Erstaunen darüber nicht größer als beim Zerplatzen von Seifenblasen. – Eine Mutter hat eine Seifenblasenmaschine mitgebracht. Sie ist eigentlich eine Pistole, roter Griff, gelber Lauf. Jetzt schießt sie, von Kinderhand bedient und Erwachsenenhand befüllt, ein schillernd-durchsichtiges Feuerwerk nicht in den Himmel, sondern vor die Nasen der erregten kleinen Zuschauer). Aber verschwinden nicht eher die Eltern als die Kinder? „… wie einst Buddha sprach, als ihm die Geburt eines Sohns gemeldet wurde: »Râhula ist mir geboren, eine Fessel ist mir geschmiedet« …“ heißt es in Friedrich Nietzsches Zur Genealogie der Moral im Essay über die asketischen Ideale. „… »eng bedrängt«, dachte er bei sich, »ist das Leben im Hause, eine Stätte der Unreinheit; Freiheit ist im Verlassen des Hauses«:»dieweil er also dachte, verließ er das Haus«.“ Einer Jātaka, Geburtsgeschichte nach vergnügte sich der spätere Buddha gerade an den Ufern des königlichen Teichs, als ihn die Nachricht über die Geburt seines Sohns erreichte. Und schon fiel seine Entscheidung zur Weltflucht. Für einen Moment zögerte er, wollte vor seiner Weltflucht doch noch seinen Sohn betrachten, fand ihn an der Brust seiner Mutter schlafend und dachte: „Wenn ich die Hand der Fürstin entferne, um meinen Sohn zu nehmen, so wird die Fürstin erwachen und es würde mir dadurch ein Hindernis für meinen Weggang entstehen. Wenn ich Buddha geworden bin, werde ich wiederkommen und ihn sehen.“ Diente also der Fortgang, die Abwendung vom Familienleben, die endgültige Erleuchtung des Bodhisattva damit nicht eigentlich der Errettung seines Sohns, ja, der ganzen Menschheit? Kann die Menschheit nicht anders erlöst werden, als durch zeitweiliges Verschwinden der Erzeuger, die dann für lange Zeit die Retter sein werden? (Ob die Mütter eines Tages ähnlich geschickt und geschwind im Verschwinden sein werden wie die Väter?) Nietzsche jedenfalls betrachtet die selbstverordnete Askese des Buddha und all der anderen Erlöser, Philosophen, Stifter so: „er verneint nicht damit »das Dasein«, er bejaht darin vielmehr sein Dasein und nur sein Dasein, und dies vielleicht bis zu dem Grade, daß ihm der frevelhafte Wunsch nicht fern bleibt: pereat mundus, fiat philosophia, fiat philosphus, f i a m! …“ Die Weltflucht ist Familienflucht, Alltagsflucht, Gemeinsamkeitsflucht? In diesem Konzept von Erkenntnis, Erweiterung, Erleuchtung verschwinden die Kinder, die Babys. Die Angst, sie könnten geraubt werden, ist ebenso die Angst der Beraubten und Geraubten. Das Leben außerhalb (des Spielplatzes!) zu suchen ist eine so eigenartige Vorstellung, als wollte man das eigene Kindsein nicht wahr haben. Zugleich die Angst das Kindsein zu verlieren: würde uns unser eigenes Kind geraubt, würden wir selbst geraubt. Ein Raub, der niemals wieder gut zu machen wäre. Im Zarathustra sagt Nietzsche: „Ich habe eine Frage für dich allein, mein Bruder: … Du bist jung und wünscht dir Kind und Ehe. Aber ich frage dich: bist du ein Mensch der ein Kind sich wünschen darf? Bist du der Siegreiche, der Selbstbezwinger, der Gebieter der Sinne, der Herr deiner Tugenden? … Ich will, daß dein Sieg und deine Freiheit sich nach einem Kinde sehne … Über dich sollst du hinausbauen … Ehe: so heiße ich den Willen zu zweien, das Eine zu schaffen, das mehr ist, als die die es schufen …“ Am Ende ist es wieder die Sehnsucht nach dem Übermenschen (der wo beginnt? Im Überbaby? Überbaby gefällt uns viel besser als Übermensch, Überbaby klingt nach einem Witz, über den der Übermensch nicht verfügt). Buddhas Flucht und Zarathustras Selbstüberwindung ähneln sich, der Wunsch nach Größe, Verbesserung, Vervollkommnung, nach tiefster Läuterung und höchster Genesung findet sich bei beiden. Und die Blindheit vor Ort. Dem Blick des Boddhisattva engeht der Buddha, der Meister zu seinen Füßen, an der Brust seiner Frau liegt er, unschuldig und fromm harrt er der Entscheidung seines (oh ja, auch er ist einer) Schülers. Der Boddhisattva betrachtet sein Kind und liest dessen erste Lehre aber als: Fliehe mich, Vater! Zarathustra möchte den reifen (den überreifen) Menschen als erstes Glied der Zeugung, des Schaffens, des Fortgangs der Welt. Beides ist Folge des Umstandes, dass das Baby, das Kind schon geraubt worden ist, schon abhanden gekommen, schon verschwunden (und die Angst, ein Kind könnte geraubt werden, ist also eine Rückkehr an diesen Ursprung). (So gehen wir vom Spielplatz nach Hause: Es gibt nichts Schöneres, als die Welt umzudeuten. Sage ich zu meinem merkwürdig schweigsamen Sohn, der auch heute wieder nicht verschwunden ist, der auch heute wieder dem Räuber entgangen ist. Keinen Laut gibt er von sich, kein Gebrabbel. Es ist ja nicht so, dass er ein Vielredner wäre, dazu fehlt es ihm noch an Sprache. Aber auch das Schweigen des Babys ist ja sprechend oder nicht sprechend. Heute ist es stumm. Endlich begreife ich: die alte, längst vergessene Leidenschaft des Steinlutschens ist wieder zurückgekehrt. Dick beult sich die rechte Backe und auf meinen, ich-verstehe-Blick hin, öffnet unser Baby kurz den Mund und schiebt den Stein mit der Zunge nach vorne. Glänzender Stein auf Zunge im zarten Schein des Abendrots.)