Das erste Jahr Babybuddha jetzt auf:
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In Babydingen brauchen wir keinen Rat. Doch – nur ganz selten, in den wenigen Augenblicken, in denen wir Ratlosigkeit verspüren, vollkommene Ratlosigkeit, in Augenblicken, in denen unser Baby uns vorkommt, wie nichts und niemand, das und der uns bekannt wären, in Augenblicken, in denen unser Begreifen schlagartig erblindet und ertaubt, in Augenblicken, in denen unsere Unwissenheit so vollkommen ist wie die Ratlosigkeit. Es hängt vermutlich damit zusammen, dass unser Baby dann Selbst ist, unabhängig von uns, ein Anderer, gar nicht unser Baby, dass es sich all unseren möglichen und gewünschten, erhofften, ersehnten Zugriffen entzieht, entzogen ist, durch eine anonyme Macht, die sich gleichsam zwischen uns wirft, uns trennt. Dann geht uns mit einem unhörbaren Donner unser Meister verloren. Eine kleine Szene, die uns nicht ausschließt, in wir aber nicht hineingehören, keine Rolle spielen, nicht einmal als Zuschauer. So steht unser Baby auf seinem gestuften Stuhl und gießt aus unserem großen Glas Wasser in seinen blauen kleinen Becher, immer weiter gießt es, bis das Wasser überfließt, auf den Tisch und weiter auf den Boden hinuntertropft. Wir sehen, was es tut und sehen es doch nicht. Die Klarheit seines Handelns, die Intensität, mit der es selbst sein Schütten betrachtet, die Ruhe, die kein Überfließen stören kann, die Entschiedenheit, mit der bis zum letzten Tropfen vom großen Glas in den kleinen Becher umgefüllt wird, die stille Freude über das die Ränder seines Bechers übersteigende Wasser, die Lust an der schieren Unendlichkeit dieses Schüttens und Überfließens (so scheint der Vorrat an Wasser, die Quelle im großen Glas unerschöpflich in diesem ewigen Moment, der in Wirklichkeit vielleicht zehn, fünfzehn Sekunden dauert – welchem Eindruck sollen wir glauben?) – in all dem ist das Baby so innig mit sich und seinem Tun, dass für uns nicht einmal die Rolle der Außenstehenden überbleibt: wir sind verschwunden. Verschwunden die Verbindung zu unserem Kind, so sehr verschwunden, dass sie sich uns in ihrer bitteren Wahrheit zeigt: als Illusion. Unser Kind ist ein Stillleben, das nicht still hält. Oder doch: es selbst hält still, erstaunlich still, unzittrig steht es auf seinem Stuhl, während das Wasser vom Glas in den Becher fließt. So ein Stillleben ist unser Baby, dass es Bewegung in ein unbewegtes Bild zaubert. Auch das ein Grund, warum wir verschwunden sind. Möglicherweise so verschwunden, wie wir verschwunden waren, als unser Baby noch nicht geboren war, nicht gezeugt, kaum gedacht, gewünscht, ersehnt. Dann jedoch spüren wir genau darin, in unserem Verschwinden, jetzt in diesem aktuellen Verschwinden eine große Erleichterung: unser Baby verantwortet sich selbst. Alles hat auch eine praktische Seite. Wir könnten sagen, es wäre besser, wenn du deine Wasserspiele im Bad machen würdest, dort könntest du soviel gießen wie du willst, noch besser wäre es, wir würden nach draußen gehen, aber draußen ist es jetzt zu kalt, und die Wasserpumpe auf dem Spielplatz ist schon für den Winter abgestellt. Natürlich werden wir die Pfütze unter dem Tisch aufwischen und auch die Sauerei auf dem Tisch, die aufgeweichte Scheibe Brot und das angeklebte Kuvert in den Müll werfen, denn du, unser Baby, wirst ganz plötzlich dein Stillleben verlassen und ins Wohnzimmer trippeln. Unser Baby verantwortet sich selbst. Und sein Stillleben wäre nicht sein Stillleben, wenn wir es woanders hin verlegen würden. Außerdem, unser Wunsch die Wasserspiele am Küchentisch an einen anderen, wassersicheren Ort zu verlegen, soll er nicht nur ablenken von dieser unglaublichen Autonomie unseres Babys, durch die wir seine Meisterschaft verlieren? Was? Gewinnen wir sie nicht erst dadurch, immer wieder, immer wieder aufs Neue? (Niemand sonst als ein kleines Kind kann uns so sehr glauben lassen an unsere notwendige Anwesenheit, an unsere Unabdingbarkeit, an unsere Zuständigkeit.) Jetzt ist es Zeit, sich Rat zu holen denken wir, wen könnten wir fragen, wer könnte entscheiden, was wichtiger ist für uns, die tiefe Verbundenheit unseres Babys mit uns oder ihr lautlos donnerndes Verschwinden? Zum Beispiel bei E.M. Cioran in der Charakterisierung eines berühmten Dichters: Ich halte ihn für ebenso willensstark wie fanatisch. Selbst wenn die Welt zusammenstürzte, würde er weder die angefangene Arbeit abbrechen noch das Thema wechseln. In den wesentlichen Dingen ist er sicher unbeeinflußbar. Was das übrige, das Unwesentliche betrifft, so ist er wehrlos, vermutlich schwächer als wir andere … Mit und in unserem einseitigen Blick (oh, ja, wir lieben seine Einseitigkeit!) gelten diese Worte mehr noch als Beckett unserem Baby. Jetzt haben wir unseren Rat gefunden. Nicht als Alibi für eigene Trägheit, gedankliche Schwäche, nicht aus Hilflosigkeit, die eine Autorität anruft, sondern aus Gründen des richtigen Ausdrucks. Manchmal fehlen uns einfach die passenden Worte und wir müssen suchen, wo wir sie uns ausleihen können. Unsere Ratlosgkeit ist vielleicht nur eine sprachliche Schwäche, unser Empfinden ist deutlich, unser Möglichkeiten es auszudrücken aber sind wie von ihm verschluckt. Es ist geradezu so (und das könnten die besten Momente sein), dass unser Baby uns hin und wieder unsere Sprache raubt, bis auf den letzten Buchstaben. Wir sind also gar nicht ratlos, sondern nur sprachlos. Am ratlosesten sind wir, wenn unser Baby verschwunden ist, obwohl es in unserer Nähe steht. Und wir interpretieren unsere Sprachlosigkeit als Ratlosigkeit. So sind wir: oft wissen wir nicht, was was ist. (Nein, wir holen uns keinen Rat. Wir holen einen Wischlappen und machen sauber.)
In baby matters we need no advice. But actually – we do, very rarely, in the few moments when we feel perplexed, completely perplexed, at moments when our baby seems like nothing and no one known to us, moments when our comprehension is all of a sudden struck blind and deaf, moments when our ignorance is as perfect as our perplexity. Presumably it has to do with the fact that our baby is then Himself, independently of us, an Other, not at all our baby; that something is withholding him from our possible and wished-for, hoped-for, longed-for reach, an anonymous, separating power that seems to thrust itself between him and us. Then it seems that quietly, amidst inaudible thunder, we are losing our master. A little scene that does not exclude us, but where we do not belong, where we have no role to play, not even as an audience. There is our baby, standing on his striped chair, pouring water from our large glass into his little blue cup, pouring continually until the water runs over onto the table and then drips onto the floor. We see what he is doing and yet we don’t see it. The clarity of his actions, the intensity with which he observes his own pouring, the calm that cannot be disturbed by the overflowing, the decisiveness with which the water is decanted from the big glass to the little cup, the quiet joy at the sight of the water rising over his cup’s edge, his delight in the sheer infinity of this pouring and overflowing (and indeed the supply of water, the wellspring in the large glass seems inexhaustible at this eternal moment, which in reality lasts ten, maybe fifteen seconds – to which of these impressions should we lend credence?) – throughout this occurrence, the baby is so intimately alone with himself and his activity that not even the role of bystanders is left to us: we are gone. So is our connection with our child; it has disappeared so thoroughly that it reveals itself to us in its bitter truth: as an illusion. Our child is a still life that does not hold still. Or actually it does; he himself holds still, astonishingly still, he is standing on his chair, not a quiver in his body, while the water flows into the cup. Our baby is such a still life that he conjures movement into a motionless picture. And that is another reason why we are gone. Possibly just as gone as we were when our baby was not yet born, not conceived, scarcely imagined, hoped-for, longed-for. But then, precisely in this, our disappearance, in this present disappearance, we sense a great relief: our baby is taking charge of himself. Everything has a practical side. We could say, it would be better if you would play your water games in the bathtub, there you could pour as much as you want, and it would be even better if we went outside now, except it’s too cold outside, and the pump on the playground has already been turned off for the winter. Of course we will wipe the puddle on the floor and the mess on the table, throw the soaked slice of bread and the stained envelope into the trashcan, because you, our baby, will suddenly leave your still life and trundle off into the living room. Our baby is in charge of himself. And his still life would not be his still life if we moved it to another location. Besides, our desire to relocate the water games to another, more waterproof place, isn’t its real purpose to distract us from our baby’s unbelievable autonomy, through which we are losing his mastery? What? Aren’t we in fact winning it anew, again and again, in precisely this way? (No one can can convince us of our necessary presence, our indispensability, our responsibility, the way a small child can.) Now it is time to seek advice, we think, whom could we ask, who could decide what is more important for us, our baby’s deep connection with us or his soundlessly thundering disappearance? For example in E. M. Cioran’s characterization of a famous poet: I consider him strong-willed and fanatical in equal measure. Even if the world were to collapse, he would neither interrupt the work he has begun or change the subject. I have no doubt that in essential matters it is not possible to deter him. As for all the other, inessential matters, he is helpless and presumably weaker than the rest of us . . . With and in our one-sided view (oh, yes, we love its one-sidedness!), these words apply to our baby even more than they apply to Beckett. Now we have found our advice. Not as an alibi for our own inertia or mental weakness, not out of helplessness that needs to consult an authority, but for reasons of right expression. Sometimes we simply lack fitting words and we have to look around for someone to borrow from. Our perplexity may just be a linguistic weakness, our feeling is clear, but our means of expression are, as it were, swallowed up in the feeling. It’s virtually (and these can be the best moments) as if our baby occasionally robs us of our language, down to the last letter. So it’s not perplexity – we’re just speechless. We are most speechless when our baby has disappeared even though he is standing right near us. And we interpret our speechlessness as perplexity. This is how we are: we often don’t know what is what. (No, we don’t ask anyone’s advice. We get a mop and clean up.)