Das zweite Jahr

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Das erste Jahr Babybuddha jetzt auf:

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Das Baby entlässt uns, schneller als uns lieb sein kann. Aber wir bemerken es nicht. Die Zeit für uns, Sinnvolles von unserem täglichen Meister zu lernen, ist kurz. Das Angebot des Babys, uns mitzunehmen in die tiefen und untiefen Bedingtheiten der Existenz und uns dort aufmerksam zu machen auf die Feinheiten und Grobheiten unseres Verhaltens, lässt sich nicht verlängern. Was wir im ersten Jahr nicht gelernt haben, können wir kaum je wieder zurückgewinnen. Jede Lektion wiederholt das Baby zur richtigen Zeit (seiner richtigen Zeit) einige Male, doch was vor sechs, acht, zehn Monaten von Bedeutung war, ist zwar nicht bedeutungslos geworden, aber nicht länger Teil des aktuellen Lehrplans. Das liegt nicht etwa an der Gültigkeit oder Ungültigkeit der anfänglichen Erkenntnisse, sondern daran, dass unser Baby nicht bleibt, was es gerade noch war, dass es anderes vorhat und sich durch nichts von seinem rasanten Tempo abhalten lässt, weiter und weiter aus sich herauszuschlüpfen. Seine Entwicklung ist unsere Entlassung. Unsere Entlassung: lässt uns das Wachstum unseres Babys nicht aufatmen? Ist nicht das erste Jahr das allerschwierigste Jahr, eine Herausforderung unserer Sinne, unserer Wahrnehmung und Aufmerksamkeit, wie sie eigentlich doch nur von Meisterschülern bewältigt werden könnte? Waren wir nicht überfordert, zu begreifen, was sich gar nicht auf die gewohnte Weise begreifen ließ, von dieser so stillen und schlanken Lehre unseres Babys, die bisweilen so wirkte, als hätte sie keinen, nicht den geringsten Inhalt? Oder ist es seine Vollkommenheit, die uns vor den harten Kopf stößt, seine freundliche Offenbarung, die uns zu einfach, zu wenig denkbar, zu großherzig erscheint? Die Liebe der Väter zu ihren Kindern sei keine Sache des Anfangs, schreibt Michel de Montaigne. Er findet kein Verständnis für die Leidenschaft, mit der man die gerade erst geborenen Kinder zu herzen pflegt, obwohl sie doch weder seelische Regungen zeigen noch eine ausgebildete Körperform aufweisen, durch die sie sich liebenswert machen könnten; auch habe ich es nur widerwillig ertragen, daß man sie in meiner Nähe aufzog. Einer wie Montaigne ist unser gemeinsamer Vorfahre. Was er gedacht hat, ist auch in uns gedacht worden. Ausgerechnet ein Mann von hoher Bildung und Vernunftliebhaber erster Ordnung, ist nicht in der Lage das Offensichtliche zu sehen. Das Baby ist mehr als wir. Vielleicht zeigt es wirklich keine seelischen Regungen und ja, sein Körper ist unserem weniger ähnlich als ganz und gar von ihm unterschieden. Kinder und Tote haben keine Seele heißt es bei Robert Musil und weiter, Kinder und Tote sind noch nichts oder sie sind nichts mehr, sie lassen denken, daß sie noch alles werden können oder alles gewesen sind. Offensichtlich wäre: Babys sind bereits alles, jetzt, da sie in ihrer körperlichen Weichheit und Wärme, die noch nichts von dem späteren Widerstand des Körpers gegen die anderen Körper an sich haben, vor uns liegen. Und offenbar ist: die unverletzte, geteilte Seele des Babys, die eine ganz andere Seele ist, als die verletzte, ungeteilte, die der erfahrene, erwachsene Mensch als die je eigene empfindet, ist ein Affront für unsere Beschränktheit (in der unser ganzer Stolz sein Heim gefunden hat). Für das Baby ist die Liebe des Erzeugers zu dem von ihm Erzeugten insofern ein Glück, dieser Instinkt, den Montaigne als den zweitstärksten (nach dem der Selbsterhaltung) bezeichnet, ein ein für allemal in uns eingepflanzter Instinkt, der das Überleben des Babys sichert. Zwei große Männer, zweimal die gleiche große Angst? Hinzusehen auf das Baby, es zu berühren, ihm zu folgen: auch die Nachschulung großer Männer ist möglich: darin liegt wohl das Glück des Großvatertums. Wenn die Weichheit und Wärme zurückkehren in den eigenen Körper, der seine ausgebildete Form aufzulösen beginnt, zaghaft, aber entschieden. (Eine gute Spekulation: wie die hohe Lebenserwartung der Gegenwärtigen durch die Möglichkeit wiederholter Vaterschaft, Großvaterschaft beiträgt, dem Mannsein neue Konturen zu geben; ein besonderes Geschenk der Zeit, die den jungen Männern, Vätern immer zu knapp ist.) Montaignes Vaterschaft beginnt gewissermaßen zum falschen Zeitpunkt. Dann aber mit Großherzigkeit, Freigiebigkeit und einer gesunden Sichtweise auf den eigenen Tod, der den Ort für den Nachwuchs freimacht. Die echte, sinnvolle Zuneigung sollte erst in dem Maße aufkommen und sich entwickeln, wie uns die Kinder ihr Wesen erkennen lassen. Immerhin! Sind die ersten Jahre des Kindes ersteinmal verbraucht, kann die väterliche Zärtlichkeit endlich ihre Liebe vergießen. Doch an welches Wesen? Gemeint ist das Wesen des Kindes, das der Wesenlosigkeit des Babys folgt. Diese Sichtweise kann nicht ohne Folgen geblieben sein und bleibt bis heute nicht ohne Folgen. Es liegt auf der Hand (oder auf dem Wickeltisch): uns, so wie wir jetzt sind, im Vollbesitz (oder Fast- oder Halbbesitz) unserer geistig-seelischen Kräfte, geht etwas voraus, ist etwas vorausgegangen, das sich im Baby nicht finden (denn dann wäre es etwas Verborgenes), sondern schlicht sehen lässt, aber wie nur? Betrachtet man das Baby von oben, außen, als überlegter, kluger Mensch, muss es unsichtbar bleiben. Nur der Schüler kann es sehen. Oder der, der sich als Schüler dem Baby nähert, seiner ungezwungenen Meisterschaft, die die gesamte Leistung einer Kultur auf den Kopf zu stellen vermag, um etwas herauszuschütteln, für das es im besten Fall (und auch in allen anderen Fällen) ein freundliches Lächeln übrig hat. Das Baby pflegt im Gegensatz zu Montaignes Haltung seiner Wesenslosigkeit gegenüber kein Ressentiment gegen jede Form ausgebildeter Wesenhaftigkeit. Wer etwas sein will, muss, kann, der soll es sein. Die Großzügigkeit des Babys ist ungebrochen, natürlich auch dem sympathischen Montaigne zeigt es sie und zu Musil verbindet es sogar eine (wesensverwandte) Liebe zur Ganzheit, die sich durch keinen noch so präzise geschliffenen Gedanken abhalten lässt. Da sehen wir unser Baby herumlaufen und an einem Baum halt machen, vor einer Robinie im Schloßrondell und plötzlich beginnt es an der Rinde zu nagen, an diesem wulstig, rissigen Selbstschutz des Baumes und ebenso plötzlich erinnern wir uns an den Erste-Hilfe-Kurs für Babys und Kleinkinder, dessen Referent uns vor allerlei gewarnt hat, eben auch vor der Rinde der Rubinie, vor ihrer toxischen Wirkung und schon springen wir zu unserem Baby, um es vor der Schädlichkeit, die in diesem weitverbreiteten, anspruchslosen Baum lauert, zu behüten. Zu spät? denken wir. Nein, nicht zu spät: kleines Nagen / kann nicht schaden. Zu spät für etwas Anderes. So wie wir unser Baby nun von der Rubinie fortlaufen und vor uns davonwackeln sehen, denken wir wehmütig daran, womöglich schon Entlassene zu sein. Ein Prinzip der Babymeisterschaft scheint darin zu bestehen, uns unausgebildet zu entlassen, das heißt, von der Erlangung der Meisterschaft des Babys sind wir mindestens so weit entfernt wie von den erloschenen Sternen am Tag unserer Geburt. Aber wir greifen vor (weil wir eben so vorauseilend Spürende sind), noch ist unser Baby da, noch unterrichtet es uns, auch wenn die Einheiten kürzer geworden sind. Noch immer gilt in jeder Unterrichtstunde (die immer noch jede Stunde des Tages und der Nacht sein kann): sieh hin und schweige! Wir wollen so ehrlich sein wie Montaigne (dessen Ehrlichkeit diesen angenehmen Lesemodus seiner Schriften ermöglicht; kein Spiel mit dem Leser, kein Versteckspiel mit sich selbst) und am Ende dieses Tages (nein, noch nicht das Ende, die Sonne scheint warm, wärmer als in früheren Frühlingen, und unser Baby steht auf dem Gras um die Rubinien, Gras, das kräftig zu wachsen begonnen hat und unser Baby – noch ist es ja so leicht! – während es dort drüben steht, ein wenig anhebt und zum schweben bringt) bekennen wir also, dass wir statt in der Umarmung mit den Musen in der mit unserer Frau, unserem Mann ein vollkommen wohlgestaltetes Kind gezeugt zu haben vorziehen. Montaigne ist sich darin unsicher, oder neigt sogar dazu, das Erzeugnis mit den Musen vorzuziehen. Wir vermuten deshalb, weil er nie von einem, von seinem Baby entlassen wurde (sechs Töchter hatte Montaigne, nur eine von ihnen überlebte das Babyalter. Grausame Zeit, in der die Meister verstarben, bevor sie Schüler gefunden hatten).

 

 

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