6
Das erste Jahr Babybuddha jetzt auf:
http://www.hanser-literaturverlage.de/buch/babybuddha/978-3-446-25239-4/
oder über den Online-Buchhandel
Wir wissen nicht, was die anderen denken, fühlen, glauben und hoffen, wenn sie das sind, was wir so unhübsch kreativ nennen, weil uns schöpferisch zu großspurig vorkommt (in einer Gegenwart, in der das meiste auf eine eigensinnlose Einheitsgröße zurechtgestutzt wird, die sich mit müder Bequemlichkeit pflegen und hegen lässt, die wächst, aber nicht zuviel, die im schlechten Sinn unsterblich ist, letztlich wahrscheinlich deshalb, weil sie niemandem wehtut, kein Glück beschert und keine Sorgen macht. Das ist eine ungerechte Betrachtungsweise – natürlich: gerechtes Urteilen aber ist die Sache derer, die nicht in sich vergnügt sind). Ich bin in mir vergnügt – man könnte das gesamte Leben in all seinen Äußerungen möglicherweise auf Bachkantaten herunterbrechen. Ich bin in mir vergnügt, so vergnügt, so verflucht vergnügt (was für ein kraftvoll zärtlicher Fluch!), dass ich einen Zusammenhang entdecke, den es schlimmsten Fall (kein schlimmer Fall) gar nicht gibt. Johann Sebastian Bachs schöpferisches Tun deckt diesen Fall zweifellos ab (oder es ermöglicht ihn sogar erst). Es gibt eine Verbindung und diese Verbindung ist die Folge einer Schöpfung. Verbindung derer und dessen, die und das auf den ersten Blick, auch auf den zweiten unverbunden zu sein scheinen. Die Schöpfung schließt niemanden aus, also können der eine Hörer und der andere Hörer sich ohne Anstrengung begegnen, wie uns (dem einen Hörer und der anderen Hörerin) einfach so gelingt, eine Verbindung herzustellen zwischen Bachs Bauernkantate und dem Wachstum unseres Babys, die uns so weit gehen lässt, dass wir sie ohne Hochmut und Größenwahn in Babykantate umtaufen, und uns als Argument für unsere übermütige Tat eine einzige Arie darin genügt. Aber vielleicht genügt uns auch viel weniger als Argument, allein diesen Zusammenhang zu entdecken, zu spüren – darin liegt soviel Überzeugungskraft, besonders viel, wie uns scheint, da Bach schon so lange Jahre, Jahrhunderte tot ist. Ein toter schöpferischer Mensch (seine unendliche Großzügigkeit) legt keiner Ahnung, keiner Mutmaßung, keiner Spekulation Steine in den Weg, die ganze Präsenz Bachs, die wir beim hören spüren, rührt her aus der Zeitlosigkeit einer Musik, deren Einordnung ins 18te Jahrhundert ihr nicht widersprechen kann. Auch dies eine Parallele zu unserem Baby, ein verwandter Gedanke, der uns höchst musikalisch vorkommt: Der Geburtstag unseres Babys im 21sten Jahrhundert scheint uns geradezu die Existenz dieses 21sten Jahrhunderts wenn nicht zu widerlegen, so doch zu karikieren. Seine Gegenwärtigkeit kennt kein Jahrhundert, auch wenn es überhaupt nichts gegen sein eigenes einzuwenden hat. Bach hören, besonders die Kantaten, besonders diese Babykantate, besonders diese eine Arie (in der wir ihren Herzschlag vermuten), ist jedesmal wieder neues, unverbrauchtes und unverbrauchbares Hören, zu dem sich das 18te Jahrhundert (das Wissen darum, dass es dieses Jahrhundert irgendwie gegeben hat, haben muss) verhält wie die Schmeichelei einer Heimat und ihr Rückruf dorthin, wo sie nicht ist und nie wirklich war. Die 212er Kantate! 212: ein Bus meiner Jugend trug diese Nummer, ein Bus, meist überfüllt am Morgen, wenn ich ihn benutzte, um aus dem Vorort in die Stadt zu fahren, um meinem unbefriedigendem Studium an der Universität nachzugehen und mit dem ich am Nachmittag wieder zurückkehrte, ohne Überfüllung, oder überfüllt nur mit Schweigsamkeit, denn keiner der Fahrgäste sprach, lachte, weinte, jauchzte, stöhnte. So war dieser Bus gleichsam das Gegenteil der (mir damals unbekannten) 212er Kantate, die die neue Obrigkeit mit einem großen Fest feiert, auf dem getanzt, gejauchzt und gejubelt wird. Hier die Busdepression meiner Jugend, dort die tönende Freude, deren Gegenwart niemals ein Ende finden wird. Beides mehr oder weniger zufällig mit der Zahl 212 verbunden. Bestimmt ging und geht man bei der Numerierung von Busslinien systematischer vor, als man bei der Numerierung von Bachkantaten vorgegangen ist, ein weiterer Vorteil dieser Gattung, die uns Spätere, Unvertraute mit dem Kirchenjahr und seinen sonntäglichen und festtäglichen Anforderungen, leicht schwindlig werden lässt. Ja, unser Schwindel gereicht uns zum Vorteil, er lässt uns durch Bachs Kantatenwerk schlingern und Vermutungen anstellen, die uns bei deutlicherer Numerierung (wären etwa Zeit und Zahl der Kantaten synchronisiert) schwerfielen. Überhaupt können wir ruhig zugeben – und damit von diesen Äußerlichkeiten zu den Innerlichkeiten kommen -, macht uns das Bachhören leicht betrunken und dabei spielt es keine Rolle, dass unsere Babykantate eine weltliche und nicht geistliche Kantate sein soll (auch das ist eine Trennung, der wir durch und durch Weltlichen nur mit Fassungslosigkeit oder theoretischem Nicken begegnen können). Textlich ist die Arie in der 212er Kantate kurz wie alle Arien, Duette, Rezitative oder auch Chorale kurz sind. Aber kurz bedeutet manchmal eben ganz und gar nicht kurz. Nur hingeschrieben ist diese Arie kurz: Dein Wachstum sei feste / Und lache vor Lust! / und dann: Deines Herzens Trefflichkeit / Hat dir selbst das Feld bereit`, / Auf dem du blühen mußt. Hört man die Arie, wird aus der Kürze dann nicht etwa Länge – oder Länge nur als wieder- und wieder- und wieder- und wiederholte Kürze. Die Arie schraubt sich beim hören in uns hinein, tiefer und tiefer, als müsste in uns erst ein Grund angestochen werden, auf dem wir fähig zu Resonanz sind. Aber dann, einmal geöffnet, fluten uns die ersten beiden Zeilen mit einer Macht und Gewalt, durch die wir nichts als kurzweilig endlosen Genuß empfinden. Um so mehr, da wir beim hören immer unser Baby im Blick haben und den zupackenden Imperativ der ersten beiden Verse im Elternherz: Dein Wachstum sei feste und lache vor Lust! Genau das wünschen wir unserem Baby, das feste, vertrauende, in allen Irrungen unbeirrbare Wachstum, unterstrichen vom Lachen aus Lust, aus Lust darüber, feste, feste, feste zu wachsen. Das also ist das Herzstück der Babykantatenarie, simpel formuliert, ohne Hürden für jedes Denken und doch wahrscheinlich nur verständlich dem, der sich der Bachschen Balance zwischen Wahnsinn und Wahrheit hinzugeben vermag. Hierin ist Bach Meister. Wahnsinn und Wahrheit sind die beiden Seiten der Wippe, deren (hin und hergerissener) Angelpunkt wir sind. Nur die Musik, die musikalische Darbietung des doppelten Imperativs (der am Ende gar keiner ist) macht fühlbar, was in den Tiefen unserer Seelen irgendwann in schweren Schlummer gesunken ist. Betrachten wir unser Baby (das tatsächlich beim Kantatenhören in einen etwas kantigen Hüftenwipprhythmus verfällt) ist augenfällig, dass es, was ihm die Arie zuruft (in diesen starken, kleinen, gesilbt gesungenen, typisch bachschen Portionen) ohne Mühe gewissermaßen als Lebenskonzept mit in die Welt gebracht hat. Unser Baby wächst feste und lässt sich, was das Lachen vor Lust angeht, nicht lumpen. Im zweiten Teil der Kantate gibt es dann den sanfteren (und auch unsicheren) Ausblick in die Zukunft. Hat das Baby einen Ort, auf dem es wahrhaftig gedeihen und zur Blüte kommen kann, so kann dieser Ort nur sein eigenes treffliches Herz sein. Hier ist das bestellte Feld, auf dem es wachsen und blühen kann, woanders kann es (was die Musik verschweigen muss) alles Mögliche tun, sogar wachsen, sogar blühen, aber es wäre nicht mehr dasselbe Wachsen und Blühen, das uns der Anfang beschert hat. (Später am Abend sehe ich mich noch einmal im 212er Bus sitzen, es kommt mir so vor, als hätte ich meinen ersten Discman bei mir und in meinen Kopfhörern würde die Babykantate erklingen, genau die Stelle mit dem festen Wachstum und ich sehe, wie ich mich irritiert umblicke und erkenne, dass ich der einzige Fahrgast in diesem Bus bin und, eigentlich gar nicht verwunderlich, Busfahrer gibt es auch keinen. Dann sind plötzlich die Batterien des Discman leer und ich höre nur noch einen Herzschlag, einen schnellen Herzschlag, den schnellen Herzschlag eines Babys.) (Noch später am Abend, mitten in der Nacht: Wir wissen nicht, was die anderen denken, fühlen, glauben und hoffen, wenn sie schöpferisch sind. Nah bei Gott. Bach und Baby – ähneln sie sich in ihrer schöpferischen Wiederholung? Bach hat unsere Arie schon einmal zum Einsatz gebracht. Dreizehn Jahre vor der Babykantate in der Streitkantate Geschwinde ihr wirbelnden Winde um den herrlichsten Gesang. Ein Streit zwischen Phoebus und Pan. Zu Tanze, zu Sprunge, so wackelt das Herz hieß damals unser Dein Wachstum sei feste und lache vor Lust. Mit der selben Musik anderen Text zu bekleiden, kommt mir verwegen vor, unkreativ, unschöpferisch. Nicht genial, aber auch nicht pragmatisch, schon gar nicht nachlässig oder faul. Ich bin ein bißchen empört. Auch, weil ich sie nicht zu fassen kriege, diese schamlose Verwandlung. Diese raffinierte Schöpfung, die sich aus sich selbst heraus noch einmal, neu schöpft. Hinter Bach muss ein Baby stecken. Mit hüpfendem Herz.)
We don’t know what others think, feel, believe, and hope when they are being what we agree to call “creative” in that diminished sense given to a once large word by a time when most things are whittled down to a one-size-fits-all dimension that can be fostered and cultivated in a sleepy sort of way, that grows, but not too much, that is immortal in the sense that it simply goes on, probably because it doesn’t hurt anyone, makes no one happy, and causes no concern. That’s an unfair view of it — of course: but fair judgment is the business of people who are content within themselves. Ich bin in mir vergnügt — one could almost break down the entirety of life in all its expressions to the titles of Bach cantatas. I am content within myself, so content, so damned content (what a powerfully tender curse) that I have discovered an interconnection that may at worst (and that worst case would not be a bad thing) not hold true. Johann Sebastian Bach’s creative work surely covers this case (or even enables it in the first place). There is a connection and this connection is the result of a creation. A connection between those who and that which at first glance and even at second glance seem unconnected. The creation excludes no one, so any one listener and any other may meet without effort, just as we (this one and this other listener) find it not hard at all to establish a connection between Bach’s Peasant Cantata and the growth of our baby, which allows us to go so far as to call it, without presumption or megalomania, the Baby Cantata, with a single aria as fully sufficient support for our bold decision. But perhaps much less than an argument is needed, but simply the feeling of having discovered this connection — there is more than enough to convince us in that, all the more so as Bach has been dead for so many years and centuries. A dead creator (his infinite generosity) places no obstacles in the way of any hunch, any supposition, any speculation. Bach’s entire contemporameity, which we feel as we listen, derives from the timelessness of his music, a fact that is not refuted by its provenance in the 18th Century. Here too there is a parallel to our baby, a related idea that strikes us as highly musical: our baby’s birthday in the 21st Century may not exactly refute this 21st Century but does seem to lampoon it. His presence in the present day needs and knows no century, even though he himself has no objection to being present. Listening to Bach, especially the cantatas, especially this Baby Cantata, especially this one aria (in which we believe we can discern its heartbeat) is each time a new, unspent, inexhaustible hearing that bears the same relationship to the 18th Century (the knowledge that such a century somehow existed and must have existed) as does the moment — any moment — to the inveiglements of a homeland calling us back to where it neither is nor ever really was. The 212th Cantata! 212: A bus from my younger days bore this number, a bus that was usually overcrowded in the mornings when I used it in order to get from the suburb to the city in order to pursue my unsatisfactory studies, and on which I returned in the afternoon, when it was uncrowded, or crowded only with reticence, for none of the passengers spoke, laughed, wept, cheered, groaned. So this bus was in a sense the opposite of the 212th Cantata (which I had not heard yet), which celebrates the new authorities with a great feast full of dancing, cheering, and jubilation. Here the bus depression of my youth, there the sound of joy itself, whose presence will never come to an end. Both more or less accidentally connected by the number 212. No doubt those who arrange the numeration of buses proceed more systematically than those who numbered Bach’s cantatas, an additional advantage of this genre, which makes us latecomers, unfamiliar with the liturgical year and the requirements of its special Sundays and feast days, slightly dizzy. Indeed our dizziness is to our advantage, for it allows us to lurch through Bach’s choral work making suppositions that would be difficult to entertain if the numbering were clearer (as it might be if the time and number of the cantatas were synchronized). In fact we might as well admit — and thereby move from these externals to the inner reality — that listening to Bach makes us slightly drunk, and it makes no difference that our Baby Cantata is supposed to be a worldly and not a religious cantata (that too is a distinction to which we thoroughly worldly beings can only respond with bewilderment or with theoretical nods). Textually, the aria in the 212th Cantata is short in the way all arias, duets, recitatives and also chorals are short. But short sometimes means not short at all. The aria is only short as a sequence of words: May your growth be steady / And laugh for joy! / And then: Your heart’s excellence / has tilled the field / On which you shall flourish! When one hears this aria, this brevity does not become length — or length only as a brevity that is repeated and repeated and repeated again. The aria turns and winds its way into us as we listen, deeper and deeper, as if to reach a ground within us where are capable of resonance. But then, once we are opened, the first two lines flood us with a force and a power by which we feel nothing but endless self-refreshing enjoyment. All the more so, as, while we listen, we always have our baby in view and feel the gripping imperative of the first two verses in our parental heart: May your growth be steady and laugh for joy! That is exactly what we want for our baby, that his growth may be steady, trusting, unerring amid what confusions may come his way, underscored by laughter that comes from the joy of steady, steady, steady growth. This, then, is the heart of the Baby Canata’s aria, simply formulated, presenting no barrier to thought and yet probably understandable only to those who can give themselves over to Bach’s balance between madness and truth. This is where Bach’s mastery lies. Madness and truth are the two sides of the seesaw, whose (always teetering) pivot we are. Only music, the musical performance of the double imperative (which ultimately is not imperative at all) makes palpable that depth in our souls that at some time fell into a deep slumber. Observing our baby (who while listening to Bach is actually lapsing into a somewhat angular swiveling motion of his hips) it becomes obvious that what the aria is calling out to him (in these strong, small, syllabically sung, typically Bach-like portions) is something he effortlessly brought into the world with him, as his life’s motto, as it were. Our baby is growing steadily, and where laughing for joy is concerned, he is not to be outdone. In the second part of the cantata there follows a gentler (and also less certain) outlook on the future. If there is a place for our baby to truly thrive and flourish, that place can only be his own excellent heart. Here is the tilled field on which he can grow and flourish. Where else (and the music must keep this secret) can he do everything possible, even grow, even flourish, but it would no longer be the same growing and flourishing that the beginning bestowed on us. Later in the evening I see myself in the 212 bus again, it seems to me that I have my first Discman with me and that the Baby Cantata is sounding in my headset, precisely the part about the steady growth, and I see myself looking around, a bit puzzled, and realize I am the only passenger on the bus and that, not really surprisingly, no one is driving the bus either. Then suddenly the batteries of the Discman have died and I hear only a heartbeat, a quick heartbeat, the quick heartbeat of our baby.) (Still later in the evening, in the middle of the night: We don’t know what the others think, feel, believe, or hope when they are creative. Bach and Baby — do they resemble each other in their creative repetition? Bach had already deployed our aria on an earlier occasion. Thirteen years before the Baby Cantata in the glorious Swift you whirling winds, or The Dispute between Phoebus and Pan. Instead of our May your growth be steady and laugh for joy , the earlier lines are Dancing and leaping, thus waggles the heart. Using the same music to clothe different words strikes me as brazen, indeed uncreative. Not brilliant, but also not pragmatic, and certainly not perfunctory or lazy. I am slightly indignant. In part because I cannot grasp this shameless transformation. This subtle creation that creates itself anew out of itself. Somewhere behind Bach there must be a baby. With a leaping heart.)