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Unser Baby wird sich an diesen Moment (es versucht umständlich einen Holzklotz auf einen anderen zu stellen und bleibt ganz bei der Sache, obwohl es mit diesen beiden nicht gelingen mag) nicht erinnern. Und auch nicht an die ganzen Momente drumherum. Nicht an gestern oder vorgestern, nicht an letzte Woche oder letzten Monat, auch nicht an die kommende Woche oder den kommenden Monat. Würden wir es eines fernen Tages befragen, wie war es denn damals, als du ein Jahr alt warst (mit den Klötzen gespielt hast), so würde es (die Person, die es geworden ist) antworten: Ich weiß es nicht. So geht es dir, so geht es mir, so geht es uns allen. Wir (ohne die geringste Anmaßung können wir dieses wir benutzen), erinnern uns nicht an unsere erste Zeit, die ersten Wochen, Monate, Jahre. Wir besitzen in dieser Zeit noch nicht einmal etwas, das wir Erinnerung nennen können, in dem Sinn, in dem wir es später, als Erwachsene als Erinnerung bezeichnen. Wir nehmen dieses Nichtwissen hin, wie wir (die ewig Neugierigen, die ewig Kontrollierenden) kein anderes Nichtwissen hinnehmen. Was uns sonst unerträglich allein in der Vorstellung erscheint, etwa den gestrigen Tag nicht erinnern zu können, in diesem (Baby-)Fall, bereitet es uns keine Sorgen. Ich weiß nicht, was ich bis zu meinem fünften oder sechsten Jahre tat, schreibt Jean-Jacques Rousseau zu Beginn seiner autobiographischen Bekenntnisse, was also bleibt ihm übrig, als mit der Erzählung des eigenen Lebens nach diesen fünf oder sechs Jahren zu beginnen. Als würde das Leben einmal anfangen (mit der Geburt) und dann noch einmal (mit dem Einsetzen des Gedächtnisses). Das Leben beginnt mit einer Amnesie, mit einer alles andere als krankhaften Amnesie, einer einzigartigen Art von Amnesie, man könnte sie natürliche oder gottgegebene Amnesie nennen. Wie könnte dieser Gedächtnisverlust keine weitreichende Bedeutung für das Leben haben? Er grundiert alles, was ihm an Erfahrung und Gefühlen und Bewusstsein folgt, aber merkwürdigerweise wird er so behandelt, als gäbe es ihn nicht. Als gäbe es diesen ersten Skandal in unserem Leben nicht, den größten vermutlich, den wir je erlebt haben oder erleben werden. Was erstrecht ein Skandal ist (hier blicken wir auf unser Baby, das jenseits aller Skandale mittlerweile an einem seiner Holzklötze zu nagen begonnen hat). Immerhin hat die Wissenschaft (ohne ihre Entdeckungen des in Wahrheit längst Vorhandenen, scheinen wir Modernen uns aber nicht fortbewegen zu können) in den letzten Jahrzehnten das Baby als interessantes, einer Untersuchung würdiges Objekt entdeckt, was sie zu so eitel verstiegenen Behauptungen dieser Art veranlasst: In den letzten 30 Jahren haben wir mehr über das gelernt, was Baby und Kleinkinder wissen, als in den letzten 2500 Jahren. (Zum Beispiel, dass sechs Monate alte Babys schon zwischen Schwedisch und Englisch unterscheiden können. In: Gopnik/Kuhl/Meltzoff, Forschergeist in Windeln.) Solche Wissenschaftler machen bereits Babys zu ihresgleichen, zu Wissenschaftlern, deren einziger Lebenssinn Forschung und Experiment, und sei es nur in eigener Sache, zu sein scheinen. Im Grunde wiederholt sich in diesem Denken nur die Theorie des leeren Gefäßes, das es zu füllen gilt, nur dass dieses Babygefäß nicht von außen gefüllt wird, sondern sich gleichsam selbst füllt. (In diesem Moment nickt unser Baby zu uns herüber, wir sollen den Mund ruhig voll nehmen, Mund voll nehmen ist toll, sagt sein Nicken, natürlich haben wir recht, unser Baby hat überhaupt nichts von so einem Wissenschaftler an sich, aber die Idee mit dem sich selbst füllenden Gefäß findet es hübsch.) (Und noch etwas nickt es zu uns herüber: Zum Beispiel Winnicotts Idee des Übergangsobjekts – Zipfel einer schönen Decke oder ein Stofftier -, wir sollen nicht traurig sein, aber es hatte einfach keine Lust auf ein Übergangsobjekt, weder lutscht es gerne an Stoffdecken, noch findet es das Ansichdrücken von Stofftieren attraktiv, aber es versichert uns, mit seiner Entwicklung ist dennoch alles in Ordnung! Und es hat noch nie Lust verspürt, sich von seiner Mutter abzulösen.) Gehen wir zurück, warum sind wir abgeirrt von der Amnesie, mit der unser Leben beginnt? Wir würden ihr gerne einen Grund geben, wir würden gerne sagen, alles, was ist, hat einen Sinn, also muss auch diese ganz spezielle Amnesie einen Sinn haben. So ein Baby ist ja von Anfang an mit Entwickeln beschäftigt, es braucht seine ganze Kraft für sein Wachstum, sein physisches und psychisches Vorankommen, außerdem hat es ja längst eine Erinnerung (zum Beispiel die an seine Holzklötze, es weiß, wo sie sich befinden, unter dem unteresten Brett im Bücherregal, das macht Spaß sie dort mit ihrer roten Kiste, in der sie liegen, hervorzuziehen), im Grunde können wir uns unsere Spekulation sparen, wozu soll sie führen? Es ist durchaus unheimlich, sich das vorzustellen (obwohl wir in der Betrachtung unseres erinnerungsfreien Babys gar nichts Unheimliches erkennen können): die ersten Jahre unseres Lebens gehören uns nicht. Wir können nicht sagen, wo wir damals waren und auch nicht wer wir waren. Gewissermaßen waren wir nirgendwo und sind niemand (doch: unser Baby sitzt im Wohnzimmer und ist unser Baby). Unheimlich also: wir beginnen das Leben ortlos (obwohl wir damals wo waren, aber wir können uns nicht daran erinnern) und so, als wären wir niemand. Selbst, wenn diese erste Zeit allein dazu dienen würde, in unserem Babygehirn die richtigen Schaltkreise anzulegen, unsere Augen und unser Tasten, das Greifen und Kauen und all die anderen körperlich-geistigen Dinge und Fähigkeiten zu entwickeln, würde dies unseren Skandal nicht verkleinern. Wir lernen und wachsen, aber wir wissen nichts davon! Vielleicht muss man sogar soweit gehen, zu behaupten, am Anfang unseres Lebens wissen wir nicht einmal, dass es uns gibt. Wir sind so sehr da und so ganz und gar da, dass für ein Nichtdasein, einen Zweifel am Dasein kein Platz bleibt. Diese Eigenart des Erwachsenen, das Leben in Zweifel zu ziehen, es als ein fragwürdiges und begrenztes Erlebnis zu betrachten (wenn nicht immer, so doch hin und wieder; oder immer?), mag nur ein Vorbote unseres drohenden Verschwindens sein und insofern würde unser Baby einer Täuschung unterliegen, einem Babyglauben an Ewigkeit und Unsterblichkeit. Aber sieht unser Baby so aus, als würde es einer Täuschung unterliegen? Das können wir sofort beantworten, weil wir es sofort sehen: nicht im Geringsten! Wieder könnte man sofort sein Unwissen (es weiß eben nichts von diesen Dingen, Leben und Tod) ins Spiel bringen, womit der Zweifel an der Tragfähigkeit des Lebens zum Ausdruck seiner Reife gehören würde. Nur der Wissende zweifelt, der Unwissende glaubt höchstens (unser Baby zweifelt nicht und ein Glaube scheint nicht vorhanden. Mit dem einen angenagten Klotz führt es nun eine Art Schraffur auf dem Boden aus, in schnellen, leicht zackigen Bewegungen, hin und her wischt sein Arm, immer schneller, bis ihm der Klotz aus der Hand flutscht). Irgendwie fällt es uns schwer, beim Thema zu bleiben. Als würde es das Thema (der Skandal unserer frühen Amnesie) gar nicht geben oder anders, sobald wir es zum Thema machen wollen, verschwindet es. Wir könnten es so herum probieren: Die Amnesie hat nie aufgehört. Noch heute leben wir auf dem Boden einer Erinnerungslosigkeit und was wir als Erinnerung bezeichnen ist unsere Ausflucht aus diesem Zustand. Denn genau besehen, wissen wir überhaupt nichts von dem, was letzte Woche geschah oder heute vor einem Jahr (und die Ausnahmefälle, in denen wir ganz genau wissen, was heute vor einem Jahr geschah, lassen wir als Widerlegung nicht gelten, weil diese Ausnahmefälle meist einhergehen mit Augenblicken der Verzweiflung oder großer Erregtheit, die sich beide gleichsam mittels einer fixen Idee über das, was ganz genau geschah, zu trösten versuchen ). Und wir wissen auch nichts von unserem Lernen und Wachsen (genauso wenig wie unser Baby), was wir wissen von unserem Lernen und Wachsen betrifft in Wahrheit nicht unser Lernen und Wachsen, sondern nur unseren Glauben an unser Lernen und Wachsen. Jahre später werden wir vielleicht plötzlich denken, damals, in dieser Situation, da haben wir dies oder das gelernt und sind daran gewachsen. Aber dann, in diesem Augenblick, ist es gar nicht so, als würden wir uns erinnern, oder doch, es ist so, als würden wir uns endlich einmal, für eben diesen Augenblick, richtig erinnern. Ich fühlte, ehe ich dachte; das ist das gemeinsame Los der Menschheit, meint Rousseau in seinen Bekenntnissen (die Erinnerungen sein wollen). Ist das ein Trost? Oder ein böses Schicksal? Denken ist immer Hinterherdenken, mit dem Denken denkt man einer Sache hinterher, der man mit Denken nicht hinterher kommt. Oder das Fühlen vor dem Denken ist das Geheimnis selbst, das Geheimnis des erinnerungslosen Daseins. Sollten wir uns nicht glücklich über unser Nichtwissen schätzen? Betrachten wir unser Baby in seinem herrlichen Zustand. Fangen wir etwa schon zu zittern an, wenn wir uns nur vorstellen, dass wir uns in dem gleichen Zustand befinden, dass wir nur vergessen haben, uns in ihm zu befinden und es uns jetzt gerade erst einfällt, wir uns in diesem Augenblick daran erinnern, aber nicht an etwas, das vorüber ist, sondern an etwas, das gerade geschieht?
Das erste Jahr Babybuddha jetzt auf:
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