Das zweite Jahr

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Das zweite Jahr beginnt ganz anders als das erste begonnen hat. Die Geburt (lang liegt sie zurück: ein Jahr, hört nur!) war gut und rundum vorbereitet, ihr Zeitpunkt entsprach zwar nicht ganz der Vorhersage, vier Tage Verspätung (müsste man nicht sagen, ihr beide habt euch verspätet, anstatt die Verspätung seines Erscheinens dem Baby allein zuzuschreiben?), vier Tage, die aber nichts an unserer Erwartung ändern konnten, an ihrer baldigen Erfüllung und der Gewissheit, dass sie erfüllt werden würde – und dennoch, als das Baby in die geöffneten Hände der Hebamme glitt, geschah dies mit einer Plötzlichkeit und so, als wäre gerade das Unerhörteste geschehen, dass ich neben der Rührung (die ein bisschen brauchte, um hochzusteigen) und der Freude (die sich noch gegen die Erschöpfung durchkämpfen musste) mich der Verblüffung ausgesetzt sah, dass das, dessen Zeuge ich gerade wurde, überhaupt geschah, jetzt, hier, in diesem ebenerdigen Zimmer, dessen Fenster in einen schmucklosen, wenig bewachsenen Hinterhof blicken ließen und von dessen Inventar mir ganz besonders die große Uhr im Gedächtnis geblieben ist, von der ich hoffte, sie möge die exakte Zeit anzeigen. Am Ende ging dann doch alles ganz schnell – was  den Eindruck des Unerwarteten zusätzlich verstärkte. Monatelang hatten wir uns auf diesen Tag vorbereitet, ihn herbeigedacht, ihn herbeifantasiert, ihn gewünscht und ein wenig gebangt und nun, da der Tag seine Bestimmung erfuhr, stießen wir an die Grenzen unserer Erfahrung (oder weit über sie hinaus): dieses Ereignis ist ein unzählbar Vielfaches größer als wir, die es erleben. Und wieder verstärkt sich die Plötzlichkeit, bis wir endlich begreifen, was ihr erlaubt, sich so gewaltig breit zu machen. Wir blicken uns an (du in deiner Erschöpfung, Rührung, Freude, ich in meiner) und finden unseren Blick im Blick auf unser Baby wieder, das jemand auf deine Brust gelegt hat und sind uns wortlos einig in der Benennung unseres innersten Gefühls: Glück, wir nennen es Glück (ein überraschend schlankes Wort). Und ein Jahr später (ein Jahr, das unser Baby viel und vornehmlich im Liegen verbracht hat oder im Gehaltenwerden am Körper seiner Eltern, was uns anfänglich wie ein dichtes Schweben eines doch fast Gewichtlosen vorkam), läuft dieses Baby los und herum (gleichsam haust sich durch sein Wachstum das Gewicht immer schwerer in es ein und will nun mehr und mehr selbsttragend der Welt begegnen). Da beginnt eine Geschichte, die unwahr ist. Wahr ist, eines der bevorzugten Ziele unseres Babys sind die Bücherregale, die gutes und einfaches Festhalten ermöglichen und interessante Objekte anbieten, an denen sich ziehen lässt und die von ihrem Platz gerückt werden können, bis sie drohen zu Boden zu stürzen. Wir verhalten uns unseren Büchern gegenüber viel weniger sorgsam, als geboten scheinen mag, aber die Erfahrung (und Übung: schon ein Jahr sind wir gelehrige Schüler unseres Babys) bekräftigt und bestätigt unser Handeln (oder Nichthandeln): die Bücher nehmen viel weniger Schaden, wenn wir sie weniger schützen wollen, wenn wir sie nicht wie rohe Eier betrachten oder wie einzigartige Wertgegenstände. Unser Baby versteht schon bald, dass das Entfernen von Seiten (ein paar müssen natürlich schon daran glauben) nicht in unserem Sinn ist (weshalb wir wertlose Bücher und Hefte zur Verfügung stellen, die diesem Zerfetzungssansinnen genauso gut gerecht werden), und wir (einigermaßen) beruhigt seinem Wandern an die Regale und an den Regalen zusehen können. Ein besonders schweres Buch, ein Klotz von einem Buch aber entgeht dem Sturz auf den Boden nicht, es ist das erste Buch, an dem unser Baby seine Kraft und ihre Möglichkeiten erforscht und auch, wenn die Geschichte hier anfängt etwas unwahr zu werden (oder vielleicht wird die Geschichte ab hier erst wahr, umso mehr man sie bedenkt, das heißt, sich ihr hingibt) – es handelt sich also um eine (geerbte) einbändige gelbe Ausgabe des Mann ohne Eigenschaften von Robert Musil aus den Siebzigerjahren des letzten Jahrhunderts, ein schon etwas mitgenommenes Buch, das seiner Auflösung, wie ich jetzt, nach seinem Sturz, bemerke, schon Einiges entgegen gekommen ist: mehrere Seiten warten geradezu auf die letzte Berührung, um ihrem festgeschriebenen Platz zu entfliehen und eine Seite (die Seite 694) geht sogar soweit, beim Sturz ihre Behausung eigenmächtig zu verlassen und gemächlich zu Boden zu segeln. Unser Baby zeigt wie wild auf diese Seite, ich trete zu ihm, hebe das Buch und die einzelne Seite auf und bringe beide in Sicherheit. Am Abend erst (das Baby und du schlafen) nehme ich die einzelne Seite in die Hand, um sie wieder an ihrem richtigen Platz einzufügen. Zuvor aber lese ich sie (und es kommt mir so vor, als müsste ich sie lesen). Eine Stelle verursacht mir mit ein wenig Verzögerung einen merkwürdigen Schauer: „…die zarte, frauenhafte Brust bettete sich in das Schwarz der strengen Kleidung mit jenem vollkommensten Gleichgewicht zwischen Nachgiebigkeit und Widerstand, das der federleichten Härte einer Perle eigen ist…“ Einige Augenblicke lang bleibt mein Gefühl diesen Worten gegenüber unbestimmbar, als müsste ich erst eine Lähmung abschütteln oder eine Blindheit durchbrechen, bis mir doppelt plötzlich ein Licht aufgeht und ein Ton in mir sich aufstimmt: nichts Geringeres als Glück entsteht dank dieser kurzen Lektüre, ich bin ein glücklicher Leser (der durch dieses aufplatzende Glück aus seinem bloßen Lesersein aber sogleich herauskatapultiert wird)! Mein Instinkt behütet mich davor, über dieses Glück nachzudenken (nur ein wenig tu ich es), mich zu sehr vom vollkommensten Gleichgewicht zwischen Nachgiebigkeit und Widerstand verleiten zu lassen, etwas zu suchen, was über die wenigen gelesenen Zeilen hinausreicht, es dingfest zu machen und damit zu ruinieren. Das Glück ist mächtig und groß, aber empfindlich gegen Analyse und Ungläubigkeit (vielleicht sind die beiden dasselbe). In meinem Fall ist das Glück jedenfalls ein guter Wegweiser: sein plötzliches Auftreten erinnert mich an den Anfang, den Anfang unseres Babys, an die allen Vorhersagen widersprechende (und diese dann doch erfüllende) Plötzlichkeit der Geburt, die den Weg freimachte für ein Glück, das im heutigen Büchersturz und Seitenflug (und der folgenden Lektüre), angestiftet von zufällig greifender Babyhand, seine Wiederholung  gefunden hat. Das Glück ist etwas Anfängliches, Uranfängliches: es kann nur plötzlich auftreten und nur in der durchsichtigen Wolke der Vollkommenheit. Damit stecke ich die einzelne Seite zurück in den Mann ohne Eigenschaften (zwischen die Seiten 692 und 695 dieses Buches, das kein Baby kennt), wundere mich (nicht zum ersten Mal) über die Magie Robert Musils, die ein Reich aufzuschließen versteht, das unserem irdischen überlegen scheint (in der Größe der möglichen Empfindung wie in der Unendlichkeit seiner Ausdehnung und Vielfalt), aber erstaunlicherweise genau (ganz genau und genau deshalb) dieses irdische Reich und das Leben in ihm so wahrheitsgetreu beschreibt, dass man diese Beschreibung nicht anders als beglückt aufsaugen kann. In beiden, dem Baby und Musil stecken, wenn nicht die gleiche Meisterschaft, zumindest eine gleich große und weit ausholende, die ähnlich erstaunliche Erlebnisse zustande bringt. Als ich dann zu Bett gehe, sehe ich unser Baby  an deiner Brust liegen, an der eitlen Perle im Fastdunkel unseres Schlafzimmers, und für diesen Augenblick erscheint mir das Stillen des Babys (dein Stillen unseres Babys) als etwas Neues und zugleich ganz und gar (restlos) Bekanntes und es kommt mir so vor, als würde ich das erste Mal dieses leise Wippen des Babykopfes bemerken und das vollkommenste Gleichgewicht zwischen Nachgiebigkeit und Widerstand der weiblichen Brust (deiner Brust), ein Gleichgewicht, das keiner Einschnürung oder Einengung durch ein enges Kleid oder irgendeines Wäschestücks bedarf, um sich (plötzlich) zu offenbaren.

The second year begins completely differently from the first. The birth (it happened long ago: a year, imagine!) was well prepared for; it didn’t happen precisely at the time that had been predicted, four days late (shouldn’t one say you were both late, instead of ascribing the lateness of his arrival to the baby alone?), four days which, however, could not change anything in our expectation of its own imminent fulfillment, nor in the certainty that it would be fulfilled – and yet, when the baby slid into the midwife’s open hands, it happened with such suddenness and as if the most extraordinary thing had just happened, that I felt myself assailed not only by emotion (which took a little time to arise) and joy (that still had to struggle against exhaustion) but also by bewilderment in realizing that what I was witnessing was in fact happening, now, here, in this room at ground level, whose windows looked out on an unadorned, sparsely planted back yard, and of whose contents I remember especially the large clock which I hoped was showing the exact time. In the end everything happened very quickly – which added to the impression that something unforeseen had occurred. For months we had prepared ourselves for this day, invoked it in our thoughts, imagined it in advance, wishing for it and fearing it a little as well, and now that the day had found its appointed time, we hit upon the limits of our experience (or found ourselves far beyond them): This event is incalculably greater than we, its observers, are. And again the suddenness intensifies, until we finally understand what it is that that allows for this tremendous amplification. We look at each other (you in your exhaustion, emotion, joy, I in mine) and recover our sight in view of our baby, which someone has laid on your breast, and find ourselves in wordless agreement as to the name of our inmost feeling; happiness, we call it happiness (a surprisingly slender word). And one year later (a year which our baby has spent primarily lying down or being held close to his parents’ bodies, which in the beginning felt to us like the dense floating of an almost weightless being), this baby runs off and about (his weight settling into his body, as it were, more and more as he grows, and now more and more intent on meeting the world on its own terms, self-supporting). And here begins a story that is untrue. What is true is that one of our baby’s favorite goals are movements that facilitate good and simple grasping and holding on and that offer him interesting objects that can be pulled or pushed aside until they threaten to fall to the ground. We are treating our books with much less care than we probably should, but experience (and practice: we’ve been our baby’s students for more than a year) confirms and reinforces our actions (or non-actions): the books suffer far less damage when we try less hard to protect them, when we don’t treat them like raw eggs or as one-of-a-kind valuables. Our baby is quick to understand that the removal of pages (a few of them of course fall victim to this process) is not to our liking (which is why we offer him books and pamphlets that have no value and that serve his pleasure in tearing and ripping up paper just as adequately) and we can (more or less) calmly watch while he wanders over to and alongside the bookshelves. But there is one particularly heavy book, a mighty block of a book that is not spared a plunge to the floor, it is the first book on which our baby explores his strength and its possibilities and also, if (as) the story starts to become somewhat untrue (or perhaps the story only starts being true here, the more one considers it, that is, the more one give oneself to it) – this book, then, is a one-volume yellow edition (inherited) of The Man Without Qualities by Robert Musil from the Seventies of the last century, a book that looks rather used already and that – as I realize now, after its fall – is approaching a state of final disintegration: several pages are virtually waiting for a last touch that will enable them to escape their appointed  place, and one page (page 694) is even going so far as to leave home on its own accord and sail to the floor in a leisurely arc. Our baby points at this page with wild excitement, I go to lift up the book and the single page and bring them both into safety, Not until the evening (you and the baby are asleep) do I take the single page into my hand in order to put it back into its rightful place. But first I read it (and it seems to me that I have to read it). One passage produces a slight hesitation in me as I read it, and an odd shudder: “ . . .Her delicate breasts were enfolded in the black of her severe dress in that perfect balance between yielding and resistance that is characteristic of the feather-light hardness of a pearl . . .” For a few moments, as I consider these words, my feeling rests in an indeterminable state, as if i needed to shake of a paralysis or break open some blinding impediment, until with  double suddenness a light goes on in me and a tone finds itself tuned to its true measure:  Nothing less than happiness is the result of this brief passage, I am a happy reader (who, however, is immediately catapulted out of his mere readership by this sudden burst of happiness)! My instinct prevents me from reflecting on this happiness (I do so just a little bit), from allowing  this perfect balance between yielding and resistance to lure me into looking for something that would extend beyond those few lines I read, taking it into custody, as it were, and thereby destroying it. Happiness is powerful and great, but is vulnerable to analysis and disbelief (and perhaps the two are the same). In any case, happiness is a good signpost for me: Its sudden arising reminds me of the beginning, the beginning of our baby, of the suddenness of his birth, which was contrary to all the predictions (and then fulfilled them nonetheless), clearing the way for a happiness that eventually, in the fall of a book and the flight of a page (and its subsequent reading), provoked by the accidental grasp of a baby’s hand, was repeated. Happiness is something originary, eternally incipient: it can only arise suddenly, and only in the translucent cloud of perfection. With this thought I place the single page back into The Man Without Qualities (between pages 692 and 695 of this book, which no baby knows), marvel (not for the first time) at the magic of Robert Musil, who knows how to disclose a realm that seems superior to our earthly realm (in the magnitude of the feelings it is capable of eliciting, as well as in the infinity of its extent and variety), and yet describes this earthly realm and the life within it with such astonishing precision and verisimilitude that one imbibes this description in a state that can only be called happiness. In both of these, the baby and Musil, we find the same mastery, or at least one with an equally great and ample sweep,that can produce similarly astonishing experiences. When I go to bed then, I see our baby, who happens to be at your breast, at the pearl of vanity in the near-darkness of our bedroom, and at this moment our baby’s breastfeeding (your feeding of our baby at your breast)strikes me as something new and at the same time utterly (and completely) familiar, and it seems to me as though I were noticing for the first time the slight bobbing of our baby’s head and the most perfect balance between yielding and resistance of the female breast (your breast), a balance that does not need any constriction or confinement by a tight dress or any garment in order (suddenly) to reveal itself.

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